Wenn man sich mit der Frage befasst, wie sich tatsächlich Dienstleistungen von Infrastrukturanbietern wie Universitätsbibliotheken für die offene Wissenschaft (open science, open scholarship) umsetzen lassen, gelangt man relativ schnell an den Punkt, dass Infrastruktur allein nicht ausreicht. Ein aktueller Artikel im Data Science Journal bestätigt dies. Der Autor Jens Klump schreibt in Bezug auf das Teilen von Forschungsdaten:

“Sharing data is not a purely technical issue that can be solved by building research data infrastructures. Over the last decade the development of policies around access to reasearch data has evolved with suprisingly little input from social science studies on this subject.”

Diesen Missstand adressiert er mit seinem Paper Data as Social Capital and the Gift Culture in Research (In: Data Science Journal. 16, p.14. DOI: http://doi.org/10.5334/dsj-2017-014). Auch das eDissPlus-Projekt versucht über das Verfahren qualitativer Interviews Einblicke nicht zuletzt in die wissenschaftssoziologischen Bedingungen zu erhalten, die in unserem Fall konkret beim Publizieren von Forschungsdaten in Dissertationszusammenhängen relevant werden. Was wir dabei feststellen, was auch Jens Klump bestätigt und wofür sich empirisch kaum Gegenbeweise finden lassen, ist, dass ein Anspruch einer möglichst vollumfänglichen offenen Wissenschaft (vgl. dazu auch diesen Beitrag: Drei Gründe für Forschungsdatenpublikationen. Und einige Herausforderungen / 29.09.2016), wie er häufig in einschlägigen Programmen und von Aktivisten im Open-Science-Bereich vertreten wird, an vielen Stellen auch mittelfristig kaum realisierbar sein wird. Eine ausführlicher Auseinandersetzung mit diesem Problem im Anschluss an den Aufsatz von Jens Klump gibt es im LIBREAS-Weblog: Warum die Publikation von Forschungsdaten nach wie vor ein begrenztes Phänomen bleibt. / 05.04.2017. Symptomatisch für die Herausforderung wurde die dort geäußerte Kritik von dem für einen sehr konsequenten Einsatz für Offenheit in der Wissenschaft bekannten Historiker Klaus Graf als zu zögerliche Position interpretiert:

“Ben Kaden gefällt sich einmal mehr darin, gegen allzu viel Offenheit einzutreten”

Das verdeutlicht ein weiteres Mal das Spannungsverhältnis, in dem die konkrete Infrastrukturentwicklung für die offene Wissenschaft zu operieren hat. Auf der einen Seite stehen dogmatische Verteidiger der Werkherrschaft für die Open Access und digitale Medien bereits als Idee wenigstens für die Geisteswissenschaften unsäglich sind (ein typischer Tweet zum Thema). Auf der anderen Seite stehen Open-Access-Vorkämpfer wie Klaus Graf, denen die Entwicklung hin zu radikaler Offenheit nicht konsequent genug umgesetzt wird.

Eine dritte Gruppe und die eigentliche Zielgruppe sind die Wissenschaftler_innen, die von den unerbittlich geführten Diskursschlachten in Social Media, ihren Foren und vor allem auch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht unberührt bleiben und das Gefühl haben, sich ständig zu Annahmen positionieren zu müssen, wie, dass die Zukunft der Wissenschaft ausschließlich binär codiert sein wird und das Digitale zugleich unvermeidlich den Abschied vom Medium Buch, wenn nicht gar unserer Vorstellungen von Bildung und Kultur bedeutet.

In der eigenen Wissenschaftspraxis und im Kommunikationsverhalten ihrer Peers erleben sie dagegen, dass sich gar nicht so viel ändert und entsprechend zwischen Behauptungs- bzw. Untergangsdiskurs und der wahrnehmbaren Realität eine erhebliche Lücke existiert. Nach wie vor erscheint ein großer Teil der wissenschaftlichen Kommunikation ganz traditionell. Die meisten E-Publikationen bilden ihre gedruckten Vorbilder, also vor allem den Zeitschriftenaufsatz, nach und lassen bestenfalls hier und da Supplemente zu.

Je mehr man sich auf einer praktischen Ebene und nicht nur auf Twitter ohne in visionären Meinungsbeiträgen und auf Digitalisierungsgipfeln mit der Sachlage befasst, desto deutlicher sieht man die Mühen der Ebenen in der digitalen Wissenschaft und wie viel zum Beispiel bereits gewonnen wäre, wenn es nachhaltig gesicherte und intuitiv zu nutzende Repositorien für Forschungsdaten in allen Disziplinen gäbe. An vielen Stellen ist man gerade erst dabei, Best-Practice-Beispiele umzusetzen. Diese Realität anzunehmen bedeutet keinesfalls, nicht perspektivisch oder sogar visionär zu denken. Aber sie bleibt doch unmittelbare Handlungsrahmen, in den Policies und White Paper übersetzt werden müssen.

Auch die normative Debatte um Offene Wissenschaft ist ohne Frage sehr wichtig, wobei meine empirische Erfahrung aus diversen Interviewreihen bleibt, dass Offenheit an sich für die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unkritisch ist. Was sie an der praktischen Ausrichtung ihres Wissenschaftshandeln in diese Richtung hindert, sind (1) ein eventueller zusätzlicher Aufwand, der besonders auch bei Forschungsdatenpublikationen zu erwarten ist, (2) die Befürchtung, dass nicht-traditionelle Publikationen (wozu Open Access dann oft zählt, wenn es nicht ein hochgeranktes Gold-OA-Journal ist) und Publikationsformen (u.a. Weblogs) keinen wissenschaftlichen Reputationsgewinn mit sich bringen und (3), dass sie oft gar nicht wissen, wie man Offene Wissenschaft praktisch angeht. Im Gegensatz zum traditionellen Publizieren ist der entsprechende Kompetenztransfer mittels Lehre und Peer Group nur sehr gering ausgeprägt.

An allen drei Stellen gibt es Baustellen und auf allen drei arbeiten Projekte wie eDissPlus und auch Stammmitarbeiter_innen von Rechenzentren und Bibliotheken mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln daran, bestmögliche Bedingungen für die digitale Wissenschaft zu realisieren. Infrastrukturen und Interfaces bemühen sich mehr und mehr um Nutzerfreundlichkeit, aber wo wissenschaftliche Standards hinsichtlich Metadaten oder Nachnutzbarkeit aufrecht erhalten werden sollen, ergibt sich für alle Beteiligten zwangsläufig zusätzlicher Aufwand, der dem oft bemühten Ideal der Google-haftigkeit entgegen steht.

Auf das Reputationssystem der einzelnen Fachkulturen bleibt der Einfluss begrenzt, aber selbstverständlich kann man Reviewing-Formen auch in öffentlich geförderten Publikationsstrukturen aufbauen. Dafür braucht man Partner_innen in den Fachdisziplinen. Es ist ohnehin ein notwendiger Weg, anerkannte und aufgeschlossene Persönlichkeiten aus den Disziplinen als Vermittler_innen bzw. Avantgarde neuer Formen der wissenschaftlichen Kommunikation zu aktivieren. Für die Praxis offener Wissenschaft bedarf es solcher Vorbilder.

Auf Seiten der Infrastruktur benötigt man zudem auf absehbare Zeit und mit wachsendem Anteil Beratungs- und Unterstützungsdienstleistungen zu Aspekten wie Formatstandards und Langzeitverfügbarmachung aber insbesondere auch zu rechtlichen Fragen. Die feuilletongetriebene Verkündung der Urheberenteignung durch Urheberrechtsschranken (Stichwort Publikationsfreiheit.de) erweist sich oft als erstaunlich wirkkräftig und führt dazu, dass man zwar ohne schlechtes Gewissen Sci-Hub zur Literaturversorgung nutzt, anderseits aber darauf besteht, dass die Dissertation ausschließlich gedruckt verfügbar sein wird, damit sie ja nicht eines Tages selbst in einer digitalen Schattenbibliothek landet. Grundkurse in Informationsethik mit Schwerpunkt Wissenschaftsethik sind offensichtlich ein weiteres Desiderat auf dem Weg hin zu Open Science und Scholarship. Folglich bleibt Projekten und Bestrebungen in der Wissenschaftsinfrastruktur gar nichts anderes übrig, als geduldig Stück für Stück in Kooperation mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eng abgesteckte Parzellen auf ihre Bedürfnisse vor dem Hintergrund der aktuellen Möglichkeiten und unter Berücksichtigung wissenschafts- und förderpolitischer Vorgaben zu erschließen, immer in der Hoffnung, dass daraus eine Eigendynamik entsteht, die idealerweise über die jeweilige Parzelle hinaus wirkt. Und eines Tages werden dann vermutlich auch eine Reihe von Aspekten aus Open Science und Scholarship wie selbstverständlich Teil der Wissenschaftspraxis sein.

(Berlin, 06. April 2017)