Die Göteborger Proklamation der „europäischen Säule sozialer Rechte“ von 2017
Die Proklamation der europäischen Säule in zwanzig sozialen Grundrechten wurde im November 2017 vom Sozialgipfel der Europäischen Union beschlossen. Diese Proklamation ist wenig bekannt. Das Medienecho war begrenzt. Forschungen zur diesem Sozialgipfel lassen meist noch auf sich warten. Handbücher erwähnen ihn gelegentlich. Historiker haben sich noch nicht mit ihm beschäftigt. Trotzdem sagt diese Quelle viel über die Geschichte des sozialen Europas aus.
1. Was wurde auf dem Sozialgipfel 2017 entschieden? Die Proklamation des Gipfels von Göteborg möchte in zwanzig Sozialrechten das Wesentliche der europäischen Sozialpolitik zusammenfassen. Schon der Aufbau der Proklamation ist ein Programm. Als erstes wird die europäische Politik der Chancengleichheit und des Zugangs zum Arbeitsmarkt in vier Rechten zusammengefasst: im Recht auf lebenslanges Lernen, in der Gleichstellung der Geschlechter, in der allgemeinen Chancengleichheit und der Unterstützung der Beschäftigung vor allem für Jugendliche und für Arbeitslose. Als zweites geht es um die Politik der Europäischen Union für faire Arbeitsbedingungen in sechs Punkten: gute Arbeitsbedingungen, gerechte Entlohnung, Transparenz der Beschäftigungsbedingungen, Einbeziehung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände in die europäischen Entscheidungen, angemessene Freizeit und gesunde Arbeitsbedingungen. Auch in diesem zweiten Teil ist also der Arbeitsmarkt für das soziale Europa zentral. Erst danach folgen als drittes die Rechte, an die man bei Sozialpolitik vor allem denkt, etwas überraschend zuerst die Betreuung von Kindern; dann die klassischen Themen: der angemessene Sozialschutz; die Absicherung bei Arbeitslosigkeit, wobei die Rückführung in den Arbeitsmarkt eine hohe Priorität besitzt; das Mindesteinkommen, das ebenfalls Anreize zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt enthalten soll; die Alterssicherung und die Absicherung in der Krankheit; die Inklusion von Behinderten; die Langzeitpflegedienste; schließlich der Zugang zu essentiellen wirtschaftlichen Dienstleistungen. Insgesamt war dies eine klassische Erklärung zum sozialen Europa, in der die Chancengleichheit und die Regelung der Arbeitsbedingungen vor den Sozialschutz gesetzt werden.
Hinter dieser Priorität steht nicht einfach ein marktliberales Programm, das Chancen und Arbeitsplatzregelungen einen Vorrang vor finanziellen Sozialtransfers gibt. Diese Priorität wurde auch von den Mitgliedsländern vorgegeben. Die Europäische Union erhielt sozialpolitische Kompetenzen im Verlauf der Geschichte vor allem im Bereich der Chancengleichheit und der Arbeitsbedingungen, deutlich weniger dagegen im Bereich der finanziellen Transfers zur sozialen Sicherung. Solche Wohlfahrtsstaatsausgaben blieben weitgehend den Mitgliedsländern vorbehalten. In seiner Rede auf dem Göteborger Gipfel wandte sich auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gegen eine rein marktliberale Deutung der Proklamation von Göteborg: Die Europäische Union „ist mehr als nur der Binnenmarkt, es geht um mehr als Geld, um mehr als den Euro. Es geht um unsere Werte und um die Art, wie wir leben wollen.“1 Die Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sprach er aber nur sehr indirekt an.
Die Proklamation von Göteborg verwandte den Ausdruck „soziale Säule“. Damit versuchte die EU, das soziale Europa aufzuwerten und es mit den anderen drei eingeführten Säulen der Wirtschafts- und Währungspolitik, der Außen- und Sicherheitspolitik und der Innen- und Justizpolitik gleichzustellen. Diese Aufwertung des sozialen Europas in Gipfelerklärungen war allerdings nicht neu. Schon im Pariser Gipfel von 1972 versuchte die damalige Europäische Gemeinschaft, die europäische Sozialpolitik auf den gleichen Rang mit der europäischen Wirtschaftspolitik zu stellen. Sie beschloss 1972, dass „energischen Maßnahmen im sozialen Bereich die gleiche Bedeutung zukommt wie der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion.“2
2. Was war an der europäischen Säule sozialer Rechte neu? Die zwanzig Sozialrechte waren keineswegs nur proklamierte, nicht durchgesetzte Rechte, wie das in manchen damaligen Kommentaren gesehen wurde.3 Im Gegenteil waren eine ganze Reihe dieser Rechte bereits bestehende politische Entscheidungsfelder der Europäischen Kommission, die aus verschiedenen Epochen der rund siebzig Jahre langen Geschichte der europäischen Integration stammten. Bei den zwanzig sozialen Rechten kann man unterscheiden zwischen Rechten, die die Europäische Union schon zuvor einzulösen begann, daneben Rechten, die zwar schon zuvor zum Programm der Europäischen Union und ihrer Vorläufer gehörten, aber deklaratorisch blieben, und schließlich Rechten, die in der Göteborger Erklärung neu formuliert wurden.
Zu den sozialen Grundrechten, in denen die Europäische Union davor bereits aktiv war, gehören mehr als ein Drittel der genannten Sozialrechte. Das wurde weder in der Proklamation noch in der Rede des Kommissionspräsidenten Juncker deutlich. Die Gleichstellung der Geschlechter (Recht Nr. 2 der Göteborger Erklärung) stand in der Charta von Nizza von 2000, später auch im Vertrag von Lissabon, und war in einem speziellen Punkt, in der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen, sogar schon in den Römischen Verträgen von 1957 enthalten. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs befasste sich mit diesem Recht ebenso wie Direktiven der Europäischen Kommission. Auch die allgemeine Chancengleichheit (Recht Nr. 3 der Göteborger Erklärung) findet sich ebenfalls bereits im Vertrag von Nizza von 2000. Die Rechte der Arbeitnehmer bei den Bedingungen der Beschäftigung und beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (Recht Nr. 5-7, 10 der Göteborger Erklärung) wurden als eine wichtige Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 (Art. 21 EEA) aufgenommen und in späteren Verordnungen der Europäischen Union umgesetzt. Der soziale Dialog (Recht Nr. 8 der Göteborger Erklärung), also die Einbeziehung von Gewerkschaften und Arbeitgebern in die Entscheidungen der Europäischen Kommission, war schon Bestandteil der Verträge der Montanunion (Art. 46 EGKS 1951) und gehörte seit damals zur politischen Praxis der Europäischen Union.
Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von eher deklaratorischen Rechten der Göteborger Erklärung, die als Politikziele und Versprechen bereits in früheren Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union aufgenommen waren. Dazu gehörten vor allem die wohlfahrtsstaatlichen Entscheidungen, also die Absicherungen in den klassischen Feldern des Wohlfahrtsstaates gegen Altersarmut, gegen Krankheit, gegen Arbeitslosigkeit, die bereits in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 und wieder in der Charta von Nizza 2000 als soziale Grundrechte aufgenommen worden waren, allerdings auf der europäischen Ebene meist eher politische Leitlinien als einklagbare Rechte waren.
Überhaupt ist die Göteborger Erklärung in vieler Hinsicht eine Wiederholung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989. Von den 20 Rechten der Göteborger Erklärung standen in anderer Formulierung 14 Rechte schon knapp dreißig Jahre vorher in dieser Gemeinschaftscharta. Die Gemeinschaftscharta nahm im Übrigen wiederum die meisten Bestandteile der ebenfalls deklaratorischen Europäischen Sozialcharta auf, die 1961 vom Europarat beschlossen wurde. Allerdings fehlen in der Göteborger Erklärung die Rechte der Freizügigkeit und der freien Berufsausübung in der Europäischen Union, die in der Gemeinschaftscharta 1989 an erster Stelle aufgeführt wurden.4
Neu an den aufgeführten Sozialrechten waren die Betreuung und Unterstützung von Kindern (Recht Nr. 11 der Göteborger Erklärung), die eng mit der Unterstützung von Frauenarbeit verbunden war, der Datenschutz für Arbeitnehmer (Recht Nr. 10 der Göteborger Erklärung), das Mindesteinkommen (Recht Nr. 14 der Göteborger Erklärung), die Langzeitpflege (Recht Nr.18 der Göteborger Erklärung), das Wohnrecht (Recht Nr. 19 der Göteborger Erklärung), und schließlich das Recht auf Zugang zu wirtschaftlichen Dienstleistungen (Recht Nr. 20 der Göteborger Erklärung), also alles Rechte, die nicht direkt mit Arbeit zu tun haben und ein Signal dafür sind, dass die Europäische Union sich als Sozialunion auch mit diesen arbeitsplatzfernen Bereichen befassen wollte. Der Arbeitsplatz war nicht mehr ganz so zentral für das soziale Europa der Europäischen Union.
3. Was ist der Hintergrund der Göteborger Erklärung von 2017? Warum hat sich die Europäische Kommission unter dem Präsidenten Juncker zu dieser nicht sonderlich neuartigen Erklärung entschieden? Zuerst zum aktuellen Hintergrund 2017: Juncker hatte schon bei seinem Antritt als Kommissionspräsident 2014 erklärt, dass für ihn das soziale Europa ein wichtiges Thema sein würde. Er konnte sich damit von seinem strikt marktliberalen Vorgänger José Manuel Barroso absetzen. Seit 2015 hatte er jedoch im Bereich der Sozialpolitik wenig vorzuweisen. Die Situation für eine aktivere europäische Sozialpolitik war 2017 zudem günstig, da die britische Regierung, die in der europäischen Sozialpolitik oft zu den Bremsern gehört hatte, seit dem Brexit-Referendum 2016 auf einen Austritt setzte und deshalb europäische Sozialpolitik nicht mehr abbremsen konnte. Umgekehrt drängten andere Mitgliedsländer auf mehr europäische Sozialpolitik. Der einflussreiche, im Mai 2017 gewählte französische Präsident Emmanuel Macron setzte damals auch auf ein soziales Europa. In den südeuropäischen Mitgliedsstaaten wurde eine stärkere sozialpolitische Solidarität der Europäischen Union erwartet, da seit der Finanzkrise 2009-2012 die Armut und die Jugendarbeitslosigkeit hoch geblieben und das Vertrauen in die Europäische Union stark zurück gegangen war. Darüber hinaus hatte die Europäische Union kurz zuvor 2015/2016 eine schwierige Krise, die Flüchtlingskrise, durchlaufen, die sie erhebliches Vertrauen bei den Bürgern gekostet hatte. Europäische Sozialpolitik konnte zu einer Wiederherstellung dieses Vertrauens beitragen. Gleichzeitig konnte sich die Europäische Union in ihrer zunehmend schwierigen globalen Position, die sich im Ukraine-Konflikt mit Russland seit 2014 und seit der Wahl des US-Präsidenten Donald Trump 2016 verschärft hatte, mit einer europäischen Sozialpolitik profilieren.
Der längere historische Hintergrund: Gleichzeitig stand das soziale Europa vor einem Verlust an Dynamik. Es hatte zuvor zwei dynamische Perioden durchlaufen. Eine erste dynamische Periode war die Gründungszeit der europäischen Integration, also die Gründung der Montanunion 1951 und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957. In dieser Epoche wurden drei grundlegende sozialpolitische Entscheidungen getroffen: Erstens wurde der Europäische Sozialfond eingerichtet, damals noch ein bescheidener Fond, der Beschäftigung und Ausbildung als Mittel gegen soziale Notlagen einsetzen sollte und der anfangs vor allem für Regionen gedacht war, die durch die Dynamik der europäischen Integration in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden. Zweitens wurde schon in den Römischen Verträgen festgelegt, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft die Bezahlungsunterschiede zwischen Männern und Frauen abbauen sollte und damit in einem für die Beschäftigung wichtigen Aspekt die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Männern und Frauen abmildern sollte. Die Wirkung dieser Regelung wurde bisher nicht erforscht. Die Abstände der Bezahlung zwischen Männern und Frauen waren jedoch in der Europäischen Union geringer als anderswo. Nach den Zahlen der ILO lagen die Frauenlöhne 2010 in der Europäischen Union bei 80 Prozent, in den USA bei 77 Prozent und in Japan bei 60 Prozent der Männerlöhne.5 Drittes wichtiges Element des sozialen Europas, das ebenfalls in dieser Epoche entschieden wurde, war der soziale Dialog, eigentlich ein irreführender Begriff, weil es nicht um Dialog, sondern um Mitentscheidung von Gewerkschaften und Arbeitgebern in den europäischen Entscheidungen geht. Schon in der Montanunion wurde deshalb ein Wirtschafts- und Sozialausschuss gebildet. Die Gewerkschaften hatten in dieser Epoche eher noch ein größeres Mitspracherecht als später. Ein Gewerkschaftsführer war in dieser Zeit sogar Kommissionspräsident. Diese drei Elemente des sozialen Europas waren wichtige Weichenstellungen, die auch noch für das soziale Europa von 2017 eine bedeutsame Rolle spielen.
Eine zweite dynamische Epoche, auf die man um 2017 ebenfalls zurückblicken konnte (wenn man wollte), waren die 1980er- und 1990er-Jahre. Sie waren generell für die europäische Integration, wie zuletzt von Kiran Klaus Patel und Hans Christian Röhl herausgearbeitet, eine ungewöhnlich bedeutende Epoche für langfristige Weichenstellungen.6 Für das soziale Europa waren die 1980er- und 1990er-Jahre wichtig, weil in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, in der ersten Vertragsreform seit den Römischen Verträgen von 1957, der Europäischen Gemeinschaft die soeben erwähnten Kompetenzen für Mindestvorschriften der Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern und zudem für Mindestvorschriften im Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zugeteilt wurden. Nirgends sonst in der Sozialpolitik besaß die Europäische Gemeinschaft und später die Europäische Union so umfangreiche Kompetenzen, die sie auch durch Verordnungen umgesetzt hatte. Welche Wirkungen diese Kompetenzen im Einzelnen besitzen, ist bisher nicht untersucht worden. Nach den Statistiken der ILO waren jedoch Arbeitsunfälle in der Europäischen Union etwa seltener als anderswo. Danach wurden 2003 pro 100.000 Erwerbstätige in der EU drei Tote, in Europa außerhalb der EU sieben Tote, in den USA vier Tote verzeichnet.7 Auch ein wichtiger Aspekt der Arbeitsbedingungen, die Arbeitszeit, sah in der Europäischen Union anders aus. Die Arbeitszeit für Arbeitnehmer war 2010 nach den Zahlen der ILO in der Europäischen Union kürzer als anderswo: 36 Stunden pro Woche durchschnittlich in der EU, in Europa außerhalb der Europäischen Union 41 Stunden durchschnittlich, in USA und Japan 39 Stunden durchschnittlich.8 Aus der historischen Rückschau sind schon deshalb die dynamischen 1980er-Jahre von erheblicher Wirkung gewesen. Darüber hinaus war diese Epoche für das soziale Europa wichtig, weil in den 1990er-Jahren europäische soziale Grundrechte eingeführt wurden, die von einer Kommission unter der Leitung der ehemaligen portugiesischen Ministerpräsidentin Maria de Lourdes Pintasilgo 1996 vorgeschlagen und 2000 in die Grundrechte-Charta von Nizza aufgenommen wurden.9 Damit war die Charta von Nizza im Bereich der sozialen Grundrechte moderner als viele Verfassungen der Mitgliedstaaten und besaß für das soziale Europa ein besonderes Gewicht. In den 2000er-Jahren und den anfänglichen 2010er-Jahren hingegen fehlte dem sozialen Europa diese Dynamik neuer Entscheidungen und es kann durchaus sein, dass die Europäische Kommission unter dem Präsidenten Juncker einen neuen Anschub geben wollte.
4. Eine zusammenfassende Einschätzung der Proklamation von Göteborg: Die Proklamation von 2017 setzte eine Linie in der europäischen Sozialpolitik fort, die das soziale Europa durch deklaratorische Kataloge von sozialen Rechten voranbringen möchte. Schon 1961 folgte der Europarat in seiner Charta der europäischen sozialen Grundrechte dieser Linie, dann 1989 die Europäische Gemeinschaft unter dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Die Erklärung von Göteborg unterschied sich damit von einer anderen Linie europäischer Sozialgipfel, die ein europäisches sozialpolitisches Aktionsprogramm beschlossen wie der Gipfel von Paris 1974 und jüngst wieder der Sozialgipfel von Porto 2021.
Noch stärker als die früheren europäischen Chartas sozialer Rechte war die Erklärung von Göteborg vorwiegend eine Zusammenfassung von bereits bestehenden Aktivitäten und Politikzielen in der Europäischen Union und kein völliger Neuaufbruch. Der Großteil der zwanzig sozialen Grundrechte der Göteborger Erklärung tauchte nicht nur in den früheren Deklarationen zu sozialen Grundrechten auf, sondern wurde zum Teil schon seit den 1950er-Jahren von der europäischen Politik ausgestaltet und von der europäischen Rechtsprechung umgesetzt oder wurde zumindest als Politikziel avisiert. Neues enthielt die Erklärung von Göteborg nur in Teilen: einige soziale Grundrechte, die nicht die Arbeit, sondern eher das Leben jenseits des Arbeitsplatzes betreffen. Sie nahm damit eine allgemeinere Tendenz auf, soziale Grundrechte auch außerhalb des Arbeitsplatzes abzusichern. Wie deklaratorisch die Erklärung von Göteborg bleibt, hing und hängt in der langen Frist davon ab, wie diese Proklamation in europäischen Verordnungen und in der europäischen Rechtsprechung umgesetzt wird. Gleichzeitig ließ die Proklamation von Göteborg auch Grundrechte wie das Grundrecht auf Berufsfreiheit und das Grundrecht der Freizügigkeit im ganzen europäischen Raum aus den sozialen Grundrechten heraus und ordnet sie offensichtlich eher den wirtschaftlichen Grundfreiheiten zu. In diesem engeren Verständnis von sozialen Grundrechten fehlte damit ein von den Bürgern besonders geschätzter Bereich, die räumliche Mobilität in ganz Europa. Zukünftige historische Forschung wird auf der Grundlage von Archiven klären müssen, warum dieses engere Verständnis von sozialen Grundrechten gewählt wurde.
Schließlich fällt auf, dass die Göteborger Erklärung ohne Bezug zur Geschichte des sozialen Europas blieb, obwohl sie durchaus eine Art von Bilanz war. Die zwanzig Rechte wurden geschichtslos präsentiert. Es wurde kein Bezug zu früheren sozialpolitisch wichtigen Gipfeln, etwa die Gipfel von Paris 1972 und 1974 oder zu den genannten früheren Katalogen sozialer Rechte oder zu früheren Entscheidungen zum sozialen Europa genommen. Von den Politikern des Gipfels von Göteborg wurde kein historisches Narrativ vorgetragen. Das mag damit zusammenhängen, dass das soziale Europa aus vielen kleinen Entscheidungen eher zufällig entstand, nicht aus einem großen Plan und in einem bedeutenden symbolischen Akt. Das kann aber auch damit zusammenhängen, dass das soziale Europa in der Europapolitik de facto weiterhin nicht den gleichen Rang besaß wie die Wirtschaftspolitik oder die Außen- und Sicherheitspolitik und die Europapolitik sich deshalb auch nicht motiviert sah, scharf zu trennen zwischen den historischen Leistungen und den Zukunftszielen und die globalen Leistungen des sozialen Europas herauszustellen. Insgesamt war die Proklamation von Göteborg kein großer Zukunftsentwurf, sondern eher eine Bestätigung des sozialen Europas.
Literaturhinweise
Peter Becker, Europas soziale Dimension. Die Suche nach der Balance zwischen Europäischer Solidarität und nationaler Zuständigkeit, SWP Studie , Stiftung für Wissenschaft und Politik, Berlin 2015,
Ulrich Becker, Die Europäische Säule sozialer Rechte, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 73 (1918), 525–558
Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa. Von der sozialen Frage bis zur Globalisierung, München 2007.
Monika Eigmüller, Hg., Zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Sozialpolitik in historisch-soziologischer Perspektive, Weinheim 2012.
Hartmut Kaelble, Geschichte des sozialen Europa: Erfolge oder verpasste Chancen? in: Hartmut Kaelble, Eine europäische Gesellschaft? Beiträge zur Sozialgeschichte Europas vom 19.bis ins 21. Jahrhundert, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2020, S.223-236.
Bernd Schulte, Europäisches Sozialrecht, “Acquis” und Zukunftsperspektiven, in: Arndt Bauerkämper/ Hartmut Kaelble, Hg., Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren, Stuttgart 2012, S.133-156.
Bo Stråth, Die enttäuschte Hoffnung auf ein soziales Europa, in: Arndt Bauerkämper/ Hartmut Kaelble, Hg., Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren, Stuttgart 2012, S.23-42.
Antonio Varsori, Development of European social policy, in: Wilfried Loth, Hg, Experiencing Europa. 50 years of European construction 12957-2007, Baden-Baden 2009, S.169-192.
Erklärung von Präsident Juncker zur Proklamation der europäischen Säule sozialer Rechte ec.europa.eu/commission(presscorner/detail/de/STATEMENT_17_4706↩︎
Schlusskommuniqué über die Konferenz der Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften (Paris, 9. und 10.12.1974), S. 1f., https://docplayer.org/25518035-Schlusskommunique-ueber-den-gipfel-von-paris-9-und-10-dezember-1974.html (4.7.2018).↩︎
Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/eu-sozialgipfel-in-goeteborg-politikverdruss-und-soziale.1773.de.html?dram:article_id=400837.↩︎
Vgl. Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1990, S.13ff.; Europäische Sozialcharta https://www.sozialcharta.eu/europaeische-sozialcharta-9326/ (gesehen 15.06.2021).↩︎
Berechnet nach: Ilostat. Mean nominal monthly earnings of employees, min: www.Ilo.org/Ilostat (22.4.17)↩︎
Vgl. Kiran Patel/ Hans Christian Röhl, Transformation druch Recht. Geschichte und Jurisprudenz Europäischer Integration 1085-1992, Tübingen 2020.↩︎
Berechnet nach: Ilostat. Fatal occupational injuries per 100.000 workers, in: www.Ilo.org/Ilostat (21.4.17)↩︎
Berechnet nach: Ilostat. Hours of work, min: www.Ilo.org/Ilostat (21.4.17)↩︎
Vgl. Für ein Europa der politischen und sozialen Grundrechte. Bericht der Kommission der Weisen unter dem Vorsitz von Maria de Lourdes Pintasilgo, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1996.↩︎
Autor
Hartmut Kaelble lehrte von 1991 bis 2008 als Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2004 bis 2006 war er Vorsitzender des deutsch-französischen Historikerkomitees. Für seine Forschungen wurde Kaelble 1997 die Ehrendoktorwürde der Sorbonne (Paris I) verliehen. 2000 wurde er Chevalier im ordre des palmes académiques. 2003 erhielt Kaelble den Gay-Lussac-Humboldt-Preis des französischen Erziehungsministeriums.