Verhandlungen des Europäischen Parlaments
SITZUNG AM MONTAG, DEM 3. JULI 2000
Nachruf
Die Präsidentin.
Werte Kolleginnen und Kollegen, vergangenen Dienstag erreichte uns die erschütternde
Nachricht vom Tode Präsident Pierre Pflimlins, dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen
Parlaments.
Pierre Pflimlin war ein echter Staatsmann. Seine politische Karriere begann kurz nach
Kriegsende und führte ihn bis in die Ämter des Ministerpräsidenten und des Regierungschefs.
In dieser Funktion ebnete er 1958, im Verlauf einer der schwierigsten Perioden der Geschichte Frankreichs, mit General Charles de Gaulle den Weg für einen Neubeginn.
Er beteiligte sich aktiv an der Ausarbeitung der Verfassung der V. Republik und war
bis 1962 Staatsminister.
Pierre Pflimlin gehörte zu den historischen Persönlichkeiten Europas, der sich seit
Kriegsende als
Parlamentsabgeordneter, Minister und Politiker unermüdlich für den Aufbau eines starken
und wiedervereinigten Europas eingesetzt hatte. Als Elsässer und Straßburger, Freund
und Weggefährte Robert Schumans, war er einer der aktivsten Verfechter der Aussöhnung zwischen Frankreich und
Deutschland und stand stellvertretend für die deutsch-französische Freundschaft. Diese
Aussöhnung, für die er so unermüdlich gekämpft hatte, empfand er als wahres Wunder,
wie er dem Bischof von Straßburg anvertraute. Dennoch war er sich der Tatsache bewußt, daß dieses Wunder nicht auf Zufall beruhte, sondern das Ergebnis bewußter und gezielter
Bemühungen auf der Grundlage gemeinsamer Zielsetzungen und effizienter Institutionen
war.
Pierre Pflimlin gehörte seit 1959 der parlamentarischen Versammlung des Europäischen
Rates an und übernahm ab 1963 deren Vorsitz. Zur selben Zeit wurde er Mitglied des
Europäischen
Parlaments und bekleidete diese Funktion von 1962 bis 1967, bevor er 1979 anläßlich
der ersten Direktwahl in dieses Amt zurückkehrte. Er wurde 1982 zum ersten Vizepräsidenten
gewählt und war von 1984 bis 1987 Präsident unseres Hauses.
Im Verlauf seiner Präsidentschaft reifte das Europäische Parlament vor allem im Haushaltsbereich
zu einem unverzichtbaren Partner heran. Es gewann sowohl in Europa an Ansehen als
auch auf internationaler Ebene, denn immerhin hatte Pierre Pflimlin die Möglichkeit, unter anderem den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Ronald Reagan, im Europäischen
Parlament zu empfangen.
Unter Berufung auf den Entwurf des Vertrags über die Gründung der Europäischen Union
von Altiero Spinelli war er ein eifriger Verfechter der Reform der Verträge auf Grundlage
der Einheitlichen Europäischen Akte, hob jedoch gleichzeitig deren Unvollkommenheit hinsichtlich der unzureichenden Befugnisse des Europäischen Parlaments hervor.
Mit Präsident Jacques
Delors verbanden ihn Freundschaft und Gleichgesinntheit, und er sorgte dafür, daß
das Parlament den größtmöglichen Nutzen daraus zog, indem er Dreierzusammenkünfte
mit dem Rat und der Kommission initiierte, eine Vorform des heutigen Vermittlungsverfahrens.
Denn Pierre Pflimlin war ebenfalls ein Mann des Dialogs. Er hielt an seiner Meinung
fest, doch
respektierte die Meinung seiner politischen Gegner, wobei er immer dem höheren Interesse
Europas Vorrang gegenüber ideologischen Erwägungen einräumte.
Die Stadt Straßburg, deren Bürgermeister er vierundzwanzig Jahre lang war, betrachtete
er als Symbol für diese Weltoffenheit, als sichtbaren Beweis der deutsch-französischen
Aussöhnung und als Zeichen des Vertrauens und der Hoffnung in die Zukunft Europas. Darüber hinaus setzte er sich energisch und nachdrücklich für die Entwicklung seiner
Stadt und für ihre Stellung als Hauptstadt Europas ein, indem er die entsprechenden
Bauvorhaben förderte und die Voraussetzung für die
Aufnahme von europäischen Institutionen schuf.
Pierre Pflimlin verließ das Europäische Parlament 1989, doch er ist für viele Europäer,
und vor allem für junge Menschen, nach wie vor eine wichtige Bezugsperson, eine Stimme,
die Begeisterung hervorrufen konnte, wenn es um das politische Ziel des europäischen Einigungswerkes ging.
Bis zuletzt hat uns die Kraft und Anschaulichkeit der Botschaft Präsident Pflimlins
beeindruckt, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. In Ihrem Namen
möchte ich erneut unser tiefes und aufrichtiges Beileid gegenüber der Familie von
Pierre Pflimlin und vor allem gegenüber seiner Tochter, die in diesem Moment unserer Sitzung
beiwohnt, zum Ausdruck bringen.
Unter dem Vorsitz von Pierre Pflimlin wurden 1986 Flagge und Hymne als Wahrzeichen
der Europäischen Union angenommen. Daher möchte ich Sie bitten, sich in Gedenken
an Präsident Pflimlin die Europäische Hymne anzuhören.
(Die Mitglieder des Parlaments erheben sich zur Anhörung der Europäischen Hymne.)
© 2000, Francopolis. Tous droits réservés.