Ansprache des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz
Funke, zum Abschied von Josef Ertl.
Trauerstaatsakt im Deutschen Bundestag am 30.11.2000
Zu Ehren des am 16. November 2000 verstorbenen Bundesministers a.D. Josef Ertl hat
Bundespräsident Johannes Rau einen Trauerstaatsakt angeordnet. Der Trauerstaatsakt
fand am 30. November 2000 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Berlin statt:
Herr Bundespräsident!
Liebe Frau Ertl!
Liebe Familie Ertl!
Verehrte Trauergesellschaft!
Wir haben in dieser Stunde Abschied zu nehmen von Josef Ertl. Alle, die um Josef Ertls
Wirken für unser Land, für die Menschen in unserem Land, wissen, hat sein plötzlicher
und tragischer Tod sehr betroffen gemacht. Mit ihm ist ein außergewöhnlicher Mensch, ein außergewöhnlicher Politiker gegangen, ein Mann, der sich um die Bundesrepublik
Deutschland in zahlreichen Funktionen verdient gemacht hat.
Als Bundestagsabgeordneter vertrat er zwischen 1961 und 1987 die Belange der bayerischen
Liberalen in Bonn. Von 1969 bis 1983 hat er als Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten wie wohl kaum ein anderer vor ihm die deutsche und die europäische Agrarpolitik einer ganzen Epoche entscheidend geprägt und mitgeformt.
Josef Ertl kann man wahrlich als ein "Urgestein" in der deutschen und in der europäischen
Agrarpolitik bezeichnen. Seine Wortgefechte im Deutschen Bundestag mit seinem Amtsvorgänger
Hermann Höcherl, aber auch mit Herbert Wehner oder Rainer Barzel gehören zu den Sternstunden lebendiger parlamentarischer Auseinandersetzung, einer Auseinandersetzung,
die manchmal auch von seinen durchaus derben bayerischen Witzen geprägt war.
Als Parlamentarier wurde er sehr schnell einer der führenden Politiker seiner Partei.
Zusammen mit Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher ermöglichte er 1969 die politische
Wende zur SPD. Manche seiner Parteifreunde sahen diesen Schritt damals mit Skepsis. Aber wie formulierte er? "Die FDP ist in der CDU-Koalition nicht schwarz
geworden und sie wird bei der SPD ebenso wenig rot."
Josef Ertl war bei den Deutschland- und Ostverträgen - auch daran gilt es, in dieser
Stunde zu erinnern - besonders wachsam; er warnte auch vor Illusionen. Das hinderte
ihn aber nicht, die gesamtdeutschen Beziehungen stets zu pflegen, wo immer es ihm
möglich war. Berlin war nicht weniger oft sein Reiseziel als Brüssel.
Als Landwirtschaftsminister war Josef Ertl wirklich ein kraftvoller Streiter für die
Belange der deutschen und der europäischen Landwirtschaft. Das bunteste und zweifellos
schwierigste Kapitel Ertlscher Politik wurde dabei sicherlich in Brüssel geschrieben.
Josef Ertl wollte - das war immer sein Ziel - eine flächendeckende bäuerliche Landwirtschaft
bewahren. Damit stand er damals durchaus im Gegensatz zur Politik der damaligen EWG-Kommission,
die seit dem so genannten Mansholt-Plan den Gedanken einer eher industriell geprägten Landwirtschaft verfolgte.
Als ein Feld schwierigster Auseinandersetzungen waren damals stets die Agrarpreisverhandlungen
zu sehen. Die Agrarpreise waren von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung
der Märkte und für die Einkommen in der Landwirtschaft der Gemeinschaft. Hier mussten sehr unterschiedliche nationale Interessen und auch Haushaltserwägungen in manchmal
wochenlangen Verhandlungen auf einen Nenner gebracht werden. "Wer unsere Sitzungen
miterlebt und immer noch an Europa glaubt, der ist wirklich ein überzeugter Europäer", hat Josef Ertl einmal gesagt.
Einer seiner großen Widersacher war im Übrigen der damalige französische Landwirtschaftsminister
Jacques Chirac. Widersacher war er damals, aber bis zuletzt blieben sie auch freundschaftlich
miteinander verbunden .
Wie ernst und wichtig Josef Ertl der Gedanke der europäischen Einigung war, veranschaulicht
ein Zitat. 1973 - einige werden sich daran erinnern - drohte der gemeinsamen Agrarpolitik
eine Existenzkrise. Als nach einem dreiwöchigen Sitzungsmarathon lange nach Mitternacht die Verhandlungen endlich zum Abschluss gekommen waren, äußerte Josef
Ertl: "Glauben Sie ja nicht, dass ich nicht an Europa hänge. Das ist der Punkt, der
mir am wehesten tut. Ich sage das hier nicht als
Agrarminister, sondern als einer, der ein leidvolles Schicksal einer Generation mitmachen
musste ... Das sage ich aus einer ganz klaren europäischen Sicht: Es soll sich niemand
Illusionen machen in dieser Welt, dass Frankreich isoliert bestehen kann, dass Deutschland isoliert bestehen kann, Luxemburg oder die Niederlande. Wir wissen
alle, dass wir dieses Europa brauchen, wenn wir nicht letzten Endes zum Spielball
der Mächtigen werden wollen. Das ist für mich ein Glaubensbekenntnis."
Josef Ertl war noch in der letzten Kriegszeit zum Militärdienst eingezogen worden.
Bei Kriegsende wurde er als Pilot eines Sturzkampfbombers verwundet. Vielleicht gaben
ihm gerade diese überstandenen Gefahren die Kraft und den Kampfeswillen für seine
späteren Aufgaben.
Orientierungspunkt für Josef Ertls Wirken in der EU-Agrarpolitik war die Zielsetzung
der Römischen Verträge: der Auf- und Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
bis zur Vollendung der Europäischen Union. Der Grundstein dafür wurde mit der Integration eines Teilbereichs der Wirtschaft, nämlich der Landwirtschaft, gelegt. Diese trieb
Josef Ertl erfolgreich voran.
Vielen bedeutsamen Entscheidungen auf der Bühne der europäischen Agrarpolitik drückte
er seinen persönlichen Stempel auf. Hierzu gehören der Aufbau der gemeinsamen Agrarstrukturpolitik,
die Einführung des Währungsausgleichs im Jahre 1971 und - damals heftig umstritten - die Anwendung von Mehrheitsentscheidungen bei den eben schon erwähnten
Agrarpreisbeschlüssen.
Josef Ertl verfolgte seine Auffassungen mit Entschiedenheit und Durchsetzungskraft.
Dennoch wurde er auch in Brüssel wegen seiner Fachkenntnis und seiner Fairness geachtet
und - insbesondere auch wegen seines sprichwörtlichen Humors -geschätzt. Mitunter
war er aber gerade wegen dieser Eigenschaften auch gefürchtet, und zwar dann, wenn sich
die Verhandlungspartner wegen - nach seiner Ansicht -allzu weit
gehender Forderungen den Zorn des "furor bavaricus", wie man ihn auch nannte, zuzogen.
Für Josef Ertl - das war damals durchaus außergewöhnlich - war Agrarpolitik auch Weltpolitik.
Er pflegte das persönliche Gespräch, ja sogar eine Art Freundschaft, weit über den
Kreis seiner europäischen Amtskollegen hinaus. Viele waren oft und ebenso gern gesehene Gäste in seinem Haus, in Ihrem Haus, liebe Frau Ertl, in Bad Wiessee. Vor
allem die vierzehn Grünen Wochen während seiner Amtszeit nutzte er nahezu Tag und
Nacht als Kontaktbörse mit Menschen aus aller Welt.
Die Weltoffenheit der Gemeinschaft sah er als ein fundamentales Anliegen deutscher
Politik an. Dem Gedanken der Autarkie - damals verschiedenen Interessensgruppen durchaus
nicht fremd - hing er nicht an; er war ihm geradezu fremd. Er widmete sich damals
nämlich schon intensiv Fragen der Welternährung. Um rechtzeitig Versorgungskrisen und
dem Hunger zu begegnen, setzte er sich für regelmäßige
Welternährungsbilanzen ein - mittlerweile in verschiedenen internationalen Institutionen
und Organisationen eine Selbstverständlichkeit.
Aber auch die nationale Agrarpolitik hat Josef Ertl entscheidend geprägt. Ein Schwerpunkt
war das so genannte "Einzelbetriebliche Förderungs- und soziale Ergänzungsprogramm
der Bundesregierung für die Land- und Forstwirtschaft". Damit gelang es ihm, die
Modernisierung und auch die Rationalisierung der deutschen Landwirtschaft rasch voranzubringen.
Das Programm enthielt damals Ansätze, die in den Jahren danach von anderen europäischen
Ländern in deren Agrarpolitik
übernommen wurden.
Besonders eng verknüpft mit dem Namen Josef Ertl ist auch die Agrarsozialpolitik.
Zusammen mit dem damaligen Arbeitsminister Walter Arendt hat Josef Ertl sie zu einem
umfassenden sozialen Sicherungssystem für die in der Landwirtschaft tätigen Familien
ausgebaut.
Als Bauernsohn geboren, wäre Josef Ertl - all jene, die ihm begegnet sind, konnten
es aus seinem Munde hören - gern Bauer geworden; aber der Hof stand dem älteren Bruder
zu. So war es eben. Stattdessen studierte er Landwirtschaft in Freising-Weihenstephan. Es folgten berufliche Stationen in der bayerischen Landwirtschaftsverwaltung. Aber
auch dort vergaß er nie, was er von Kindesbeinen an auf dem elterlichen Hof erfahren
und gelernt hatte. Er verlor nie den Kontakt zur Alltagsarbeit und zu den Alltagssorgen der Bauern. Sein Buch "Tausend Fragen für den jungen Landwirt" - welcher Bauer hat
es eigentlich nicht, könnte man fragen - war stets ein Bestseller und gehörte im
Grunde zum Handwerkszeug eines jeden angehenden Landwirts.
Zugleich prägte die enge Bindung zur Praxis auf allen Ebenen, auf denen er tätig war,
sein Verständnis von Agrarpolitik. Es ist sein Verdienst, so scheint mir, die Agrarpolitik
aus dem engen Quadrat von Preis- und Marktpolitik, in dem sie sich ursprünglich bewegte, bewusst herausgeführt zu haben. Ihm ging es darum, dass eine die Zukunft
gestaltende Agrarpolitik nicht nur die Bauern, sondern alle Menschen im ländlichen
Raum umfasst. Deshalb beinhaltete für ihn Agrarpolitik auch Struktur-, Regional-,
Sozial-, Bildungs-, Umwelt- und Verbraucherpolitik. Das alles subsumierte er unter
Agrarpolitik.
Zu seinen Grundüberzeugungen gehörte es, dass sich der Schutz von Umwelt und Natur
nur im gleichberechtigten Miteinander mit der Landwirtschaft verwirklichen lässt.
Er war der festen Überzeugung, dass Bauern, Naturschützer und Verbraucher letztlich
aufeinander angewiesen sind. Das sind Ansätze, die - so darf man wohl sagen - bis
heute ihre Gültigkeit bewahrt haben.
Besonders eingesetzt hat sich Josef Ertl für die Unterstützung der Bergbauern - angesichts
seiner Herkunft nicht verwunderlich - und für die Förderung der Nebenerwerbslandwirtschaft.
Auf sein Wirken geht die Einführung der Ausgleichszulage für so genannte benachteiligte Gebiete zurück. Er wusste um die Benachteiligung mancher Regionen unseres
Landes.
Dies alles sind Teile eines großen Ganzen, wenn man so will, einer umfassenden Gesellschaftspolitik
für den ländlichen Raum. In diesem Verständnis Agrarpolitik zielstrebig und bewusst
weiterentwickelt zu haben, ist und bleibt Josef Ertls Verdienst. Damit hat seine Politik Meilensteine für die deutsche und europäische Agrarpolitik gesetzt.
Auch nach seinem Ausscheiden aus der Bundespolitik hat sich Josef Ertl weiter unermüdlich
für die Belange der Landwirtschaft eingesetzt. Unter seiner Präsidentschaft wurde
die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft zu einer Spitzenorganisation der
deutschen Agrarwirtschaft ausgebaut. Seine Weltoffenheit, seine Erfahrung und seinen
Willen, zum Wohle der Menschen etwas zu bewegen, hat er aber nicht nur auf dem Felde
der Agrarpolitik eingebracht, sondern auch auf anderen Gebieten unseres Gemeinwesens.
In zahlreichen Ämtern im Sport und in der Wirtschaft, auch in der Vertretung der Belange
seiner Heimat hat er stets Verantwortung übernommen und
wichtige Ämter bekleidet.
Für sein Wirken ist er mit zahlreichen in- und ausländischen Auszeichnungen gewürdigt
worden, unter anderem mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Für seine Verdienste um die deutsche und die europäische Agrarpolitik ist er mit der Professor-Niklas-Medaille in Gold ausgezeichnet worden.
Josef Ertl war nicht nur ein außergewöhnlich erfolgreicher Politiker, er war auch -
das werden alle bestätigen, die ihn gekannt haben - ein außergewöhnlicher Mensch.
Immer wenn ich ihm begegnete, hat mich seine Herzlichkeit, seine sehr menschliche,
freundliche Art beeindruckt. Man spürte, dass er sich freute, einen zu treffen und mit einem
reden zu können. Bis zuletzt waren wir alle froh, wenn er bei der Deutschen
Landwirtschafts-Gesellschaft oder auch bei der Grünen Woche, versorgt von Ihnen, liebe
Frau Ertl, das Gespräch mit uns suchte. Auch in schweren Zeiten hat er das Lachen
nicht verlernt. Seine beeindruckende Stärke war das Diskutieren, seine persönliche
Überzeugungskraft. Um der Sache willen versuchte er Menschen zu überzeugen, auch wenn
es viel Zeit und viel Mühe kostete. Josef Ertl - man spürte es förmlich, wenn man
mit ihm zusammenkam - war für seine Mitmenschen und Mitarbeiter immer ansprechbar
und hatte im wahrsten Sinne des Wortes ein offenes Ohr für die Nöte derer, die ihn umgaben.
Er konnte Menschen mit seiner unkomplizierten, natürlichen Art und seinen klaren
Gedankenführungen nicht nur motivieren, sondern sogar mitreißen.
Man fragt sich natürlich, woraus dieser Mensch die Kraft und auch die Zuversicht für
dieses wirklich große Werk schöpfte. Es waren dies vor allem - auch das bekundete
er gern - seine Familie, seine Verwurzelung im christlichen Glauben und die Liebe
zu seiner bayerischen Heimat. In seinen oberbayerischen Bergen schöpfte er an Wochenenden
Inspiration und Kraft für das wahrlich oft strapaziöse Tagewerk in Bonn oder in Brüssel.
Mit Josef Ertl verlässt uns eine herausragende Persönlichkeit und ein großer Politiker.
Sein Wirken für die Menschen in unserem Land, für die Belange der deutschen und europäischen
Agrarpolitik und sein Einsatz für den ländlichen Raum bleiben unvergessen. Genauso verbunden bleibt der Name Josef Ertl aber auch mit dem Begriff Mitmenschlichkeit
in der Politik.
Wir trauern mit Ihnen, liebe Frau Ertl, liebe Familie Ertl. Das eindrucksvolle Lebenswerk
Ihres Mannes, Ihres Vaters sollte uns Ansporn und Vermächtnis zugleich sein.
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