Rede von Bundespräsident Johannes Rau zu Inge Deutschkron auf der Veranstaltungseröffnung
"Grenzdenker" der Kulturstiftung der Deutschen Bank am 11. März 2001 in Berlin:
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"Ein Todesurteil und vier Leben" - Ich war ein wenig verwundert, als ich das las.
Ich habe mich gefragt, ob der Titel nicht zu plakativ, gar reißerisch, oder ob er
vielleicht doch gut gewählt ist angesichts dieses Lebens, von dem wir heute hören
und an dem wir ein Stück Anteil nehmen dürfen. Ich glaube, der Titel untertreibt mehr als er
übertreibt. Aber das können sich viele von uns kaum vorstellen. Das ist auch gut
so, weil es Ausdruck demokratischer Normalität ist. Wir leben jetzt in einer Gesellschaft,
in der die große Mehrheit Antisemitismus und rassistische Gewalt klar ablehnt. Inge
Deutschkron hat am eigenen Leibe erlebt, was es bedeutet, wenn Menschenrechte und
Menschenwürde von Staats wegen außer Kraft gesetzt werden. Sie und ihre Familie gehörten
zu denen, die nach dem Willen der Nationalsozialisten ermordet, die "ausgemerzt" werden
sollten.
Inge Deutschkron, ihre Mutter und ihr Vater haben überlebt, aber viele ihrer Verwandten,
viele Freunde und Bekannte nicht. Welche Last es bedeuten kann, überlebt zu haben,
das können sich die meisten von uns nicht vorstellen. Wir können und sollten aber
zu verstehen suchen, dass Überleben auch eine Last sein kann. Wir wissen von Primo Levi,
von Jean Améry, von Ruth Klüger und von anderen Überlebenden: Der Schritt zurück
und nach vorn vom Überleben zum Weiterleben ist sehr groß, für manche zu groß. Das
hat mit den traumatischen Erfahrungen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
zu tun. Das hat aber auch mit der Frage zu tun, wie die Opfer von Verfolgung in der
Nachkriegsgesellschaft häufig behandelt worden sind. Zu lange ist
verdrängt, geleugnet, verharmlost worden.
Viele von Ihnen werden das Buch von Margarete und Alexander Mitscherlich über die
"Unfähigkeit zu trauern" kennen, das vor dreißig Jahren erschienen ist. Sie machen
darin darauf aufmerksam, welche Folgen es hat, wenn eine Gesellschaft sich der eigenen
Geschichte nicht stellt, sondern sie durch Schweigen folgenlos zu machen sucht. Die Mitscherlichs
haben daran erinnert, dass für viele Deutsche das Ende des Dritten Reiches der Zusammenbruch
einer Weltanschauung gewesen ist, die ihrem Leben Sinn verliehen hatte. Diese Weltanschauung war verbrecherisch. Sich der Tatsache zu stellen, daran beteiligt
gewesen zu sein, ist vielen Deutschen schwergefallen. Sie glaubten, ohne Vergangenheit
leben zu können und dann Zukunft zu gewinnen. Trauer über Schuld, über Verstrickung und Wegschauen schien dem im Wege zu stehen. Damit wurde die Chance einer befreienden
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lange Zeit nicht genutzt. Trauer ist aber
nötig, um sich von Vergangenem lösen zu können: Nicht in dem Sinne, das Vergangene zu vergessen oder zu verdrängen, sondern mit dem Ziel, das Vergangene als Bestandteil
des eigenen Lebens anzunehmen. Erst dann kann das Vergangene unser Leben nicht mehr
beherrschen, weder bewusst noch unbewusst.
Die fehlende und falsche Auseinandersetzung mit unserer Geschichte ist ein wichtiger
Auslöser für die Bewegung der "1968-er" gewesen. An dieser Bewegung haben sich zahlreiche
junge Männer und Frauen aus vielen unterschiedlichen Gründen beteiligt. Sie hatten auch unterschiedliche Ziele, und sie haben heftig darüber gestritten, welche Methoden
zur Durchsetzung ihrer Ziele erlaubt seien. Manche sind dabei auf ihre Weise schuldig
geworden und in Verstrickungen geraten. Wir sollten darüber aber eines nicht vergessen: Wir verdanken dieser Protestbewegung einen entscheidenden Anstoß dafür, dass
wir uns in der Folge als Gesellschaft offener und ehrlicher mit dieser Vergangenheit
auseinandergesetzt haben, als das bis dahin der Fall war. Das geschah nicht auf einmal.
Das war ein langwieriger Prozess, der nicht immer geradlinig verlief. Es gab auch
Rückschritte. Es ist erst etwa fünfzehn Jahre her, dass einige Historiker versucht
haben, die Verbrechen der Nationalsozialisten wieder aus der deutschen
Geschichte herauszuschreiben oder doch zu relativieren. Sie haben sich damit nicht
durchsetzen können. Inzwischen bestreiten selbst Gegner der Wehrmachtsausstellung,
die in den letzten Jahren großes Aufsehen und auch scharfe Kritik erregt hat, und
zu Recht, nicht mehr, dass auch Wehrmachtsangehörige, wenn auch bei weitem nicht alle, am
Völkermord beteiligt waren.
Mir scheint, dass wir so, wie wir uns früher zu wenig mit den Verbrechen des Dritten
Reiches beschäftigt haben, uns heute noch zu wenig mit denen beschäftigen, die sich
damals den Verbrechen entgegen gestellt haben. Inge Deutschkron gehört zu den Menschen, die erlebt haben, dass es in Deutschlands dunkelster Zeit Menschen gegeben hat, die
sich Mitmenschlichkeit und Mitgefühl nicht haben nehmen lassen. Sie hat Menschen
wie Otto Weidt getroffen, der in der Rosenthaler Straße eine Blindenwerkstatt betrieben
hat. Er hat Inge Deutschkron und anderen jüdischen Berlinerinnen und Berlinern damals
eine Chance gegeben, der Deportation zu entkommen, indem er sie in seiner Besen-und
Bürstenbinderei beschäftigte, deren Produkte als kriegsnotwendig eingestuft waren.
Inge Deutschkron hatte das Glück, Nachbarn, Freunde und Bekannte zu haben, die ihr und
ihrer Mutter geholfen, sie bei sich aufgenommen, sie versteckt und versorgt haben.
Sie hat Menschen getroffen, die sich dem Diktat der Nationalsozialisten entzogen
haben.
Die meisten dieser Menschen haben keiner politischen Partei und keiner oppositionellen
Gruppe angehört. Sie waren nicht an organisiertem Widerstand beteiligt. Sie haben
geholfen, weil sie sich das Gefühl für Anstand, Würde und Mitmenschlichkeit bewahrt
hatten oder vielmehr, weil sie sich dieses Gefühl nicht haben nehmen lassen. Sie waren
mutig, sie waren einsam. Sie waren Helden, aber keine im landläufigen
Sinne. Vielleicht haben wir aber ohnehin häufig ein ganz falsches Bild von Helden.
Wer sich mit den Heldinnen und Helden der griechischen und der römischen Antike und
des frühen Christentums, die uns besonders vertraut sind, beschäftigt, der lernt:
Sie waren nicht zum Heldentum geboren. Sie haben gezweifelt, und sie haben sich geirrt. Sie
hatten Angst und wollten manchmal davonlaufen. Das waren keine Comic-Helden, die
vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche im Einsatz waren. Aber
in bestimmten Situationen haben sie alle Ängste und Zweifel überwunden, entschlossen gehandelt
und sich dadurch auch selber gefährdet.
Die Frauen und Männer, die Inge Deutschkron und anderen Verfolgten geholfen haben,
haben das getan, um andere Menschen zu retten. Sie haben das aus ganz unterschiedlichen
Gründen getan. Manche haben aus weltanschaulicher, aus religiöser Überzeugung gehandelt. Manche haben gehandelt, um vor sich selber bestehen zu können. Wieder andere haben
ganz spontan aus der Situation heraus geholfen wie die Berlinerin, die einer ihr
unbekannten schwangeren Jüdin, die sie auf der Straße traf,
anbot, sie bei sich aufzunehmen. Diese Frauen und Männer haben sich heldenhaft verhalten.
Die meisten von ihnen haben auch später kein Aufhebens um ihr Verhalten gemacht.
Sie waren "Stille Helden". Das ist sympathisch. Wir aber sollten ihnen die Aufmerksamkeit schenken und den Respekt zollen, den sie verdienen; denn wir haben ja allen Grund,
auf diese Frauen und Männer stolz zu sein.
Gewiss, es hat viel weniger von ihnen gegeben, als wir uns das im Nachhinein wünschen.
Es hat aber mehr gegeben, als wir uns das lange klar gemacht haben. Darum finde ich
es wichtig, uns daran zu erinnern, dass es neben dem organisierten Widerstand auch
"Stille Helden" gegeben hat, die hier in Berlin nach Schätzungen etwa
eintausendvierhundert Menschen das Leben gerettet haben. Auf diese Helden des Alltags
aufmerksam zu machen, heißt nicht, die Verbrechen des Dritten Reiches zu relativieren
oder zu beschönigen. Es geht auch nicht darum, Rechnungen aufzumachen über die Zahl
der Helfer und die Zahl der Täter. Die Erinnerung an die "Unbesungenen Helden", wie
sie manchmal auch genannt werden, zeigt uns, dass Frauen und Männer selbst in der
nationalsozialistischen Diktatur Handlungsspielräume und Entscheidungsmöglichkeiten
hatten. Ihr Beispiel zeigt, dass die Entschuldigung, man habe damals nichts tun können,
keine Entschuldigung ist, sondern oft nur eine Ausrede.
Das ist wohl auch einer der Gründe dafür, warum die "Stillen Helden" bislang nicht
die öffentliche Würdigung erfahren haben, die sie nach meiner Überzeugung verdienen.
Gewiss, mindestens zweihundertfünfzig von ihnen sind mit dem Bundesverdienstkreuz
ausgezeichnet worden, und der Berliner Senat hat Ende der fünfziger Jahre beschlossen, Menschen,
die während des Dritten Reiches Juden gerettet haben, zu ehren und materiell zu unterstützen,
wenn sie in bedürftigen Verhältnissen lebten. Mir sind in Berlin Gedenktafeln an Häusern aufgefallen. Auf einer davon, nicht weit von meinem Amtssitz, ist
zu lesen: "Hier lebte Helene von Schell. Sie hat hier in ihrer Wohnung während der
Zeit des Nationalsozialismus eine vierköpfige jüdische Familie versteckt und unter
Lebensgefahr vor Deportation und Ermordung bewahrt." Ich finde es gut, dass es diese Gedenktafeln
gibt, aber das reicht nicht. Wir sollten die Erinnerung an die "Stillen Helden" weiter
verbreiten: nicht unserer Vergangenheit wegen, sondern um unserer Gegenwart und Zukunft willen.
Die Erinnerung an die "Stillen Helden" ermutigt uns dazu, uns immer wieder dafür einzusetzen,
dass die Menschenwürde nicht nur für unantastbar erklärt, sondern auch nicht angetastet
wird. Wenn junge Menschen sich in der Schule mit der jüngeren deutschen Geschichte auseinandersetzen, dann sollten sie auch erfahren, dass es nicht nur Täter,
Mitläufer und Zuschauer gegeben hat, sondern auch Helfer und Retter. Auch das gehört
zur Wirklichkeit des Dritten Reiches. Erst wenn wir uns das ganze Bild von der Geschichte des Dritten Reiches vor Augen führen, sind wir imstande, diese Zeit als Teil unserer
Geschichte anzunehmen.
Viele beteiligen sich gegenwärtig an der Wiederentdeckung der "Stillen Helden": Journalisten,
Studentinnen und Studenten und Wissenschaftler. Ein Forschungsprojekt am Zentrum
für Antisemitismusforschung hier an der Technischen Universität hat bislang über
zweitausend "Stille Helden" ermittelt. Ich wünsche mir, dass dieses Projekt die Mittel
erhält, die nötig sind, um seine Arbeit weiterzuführen. Wir verdanken einer Gruppe
von Studentinnen und Studenten die Umgestaltung von Otto Weidts Blindenwerkstatt
am Hackeschen Markt, in der Inge Deutschkron gearbeitet hat, in eine Gedenkstätte. Sie
gehört seit Anfang dieses Jahres als Außenstelle zum Jüdischen Museum.
Ganz besonders verdanken wir die Wiederentdeckung der "Stillen Helden" aber Inge Deutschkron
selber, die sich schon lange mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit - und da spreche
ich aus Erfahrung - für die Würdigung dieser Menschen eingesetzt hat. Sie hat vielen von ihnen durch ihre Bücher ein Denkmal gesetzt. Was es bedeutet, nach all dem
Leid, das sie erfahren hat, nicht allein über die Dunkelheit, sondern auch von dem
Licht zu sprechen, das es auch gab, das können wir alle nur ahnen. Und darum möchte
ich Inge Deutschkron dafür meinen Dank und meinen Respekt sagen. Sie hat entscheidend dazu
beigetragen, dass die "Stillen Helden" stärker ins öffentliche Bewusstsein treten,
und darum plädiere ich heute dafür, den "Stillen Helden" eine zentrale Stätte hier
in Berlin zu widmen. Otto Weidts Blindenwerkstatt wäre gewiss hervorragend dafür geeignet,
und wo ich das unterstützen kann, bin ich dazu gerne bereit.
Die "Stillen Helden" verdienen breite öffentliche Aufmerksamkeit. Darum sollten wir
uns ihrer auch "vor Ort" erinnern, da, wo sie gelebt haben. Das kann durch Gedenktafeln
an Häusern geschehen. Das kann aber auch dadurch geschehen, dass Straßen oder Schulen nach ihnen benannt werden. Sie sollten im Schulunterricht vorkommen, und ich könnte
mir auch gut einen eigenen Schülerwettbewerb zu diesem Thema vorstellen.
In den nächsten Wochen werde ich eine Expertenrunde zu einem Gespräch darüber einladen,
in welcher Form die Bundesrepublik Deutschland die "Stillen Helden" offiziell ehren
und die Erinnerung an sie wach halten kann. Dazu will ich Inge Deutschkron schon
heute einladen. Und jetzt bin ich gespannt auf das, was wir von ihr hören werden.
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