EINLEITENDE WORTE DES VORSITZENDEN
Das digitale Zeitalter: Europäische audiovisuelle Politik
Bericht der Hochrangigen Gruppe für Audiovisuelle Politik
Die audiovisuelle Industrie: Eine Branche von zentraler Bedeutung
Die audiovisuelle Industrie gehört zu den herausragenden Merkmalen des 20. Jahrhunderts.
Während sich das Jahrhundert seinem Ende zuneigt, befindet sich die Industrie auf
dem Höhepunkt einer Veränderung, die praktisch einer Revolution gleichkommt. Genauso
wie die Einführung der Tonspur und die des Farbfilms die Filmindustrie verändert haben,
sowie die des Farbfernsehens die Fernsehindustrie, befinden wir uns heute an der
Schwelle eines neuen Zeitalters, dessen Motor die Digitaltechnologie ist.
Als die Gebrüder Lumière vor mehr als einhundert Jahren mit ihrer Erfindung erstmals
vor die Weltöffentlichkeit traten, ahnte wohl niemand, und nicht einmal die Erfinder
selbst, daß weit mehr als eine Jahrmarktsattraktion das Licht der Welt erblickt hatte. Mit ihrer Erfindung hatten sie der Welt eine wundervolle geschichtenerzählende Maschine
geschenkt, die die menschliche Kultur nachhaltig verändern sollte. Der Kinofilm entwickelte
sich zu einer der populärsten Kunstformen des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Jahre 1996 wurden europaweit 702,4 Millionen Kinokarten verkauft. Das sind 18 % mehr
als 1990, als das Kino in einer Talsohle steckte.
Dann kam das Fernsehen. Im Schnitt verbringt ein Europäer täglich mehr als drei Stunden
vor dem Fernseher. Er - oder sie - befindet sich in Kürze, dank der erheblichen
Fortschritte bei den digitalen Übertragungstechniken, einem Angebot von hunderten
von Kanälen gegenüber - falls dies nicht ohnehin bereits der Fall ist.
Vor diesem Hintergrund kann die Bedeutung des audiovisuellen Sektors gar nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Für die überwiegende Mehrheit der Europäer sind die audiovisuellen
Medien die wichtigste Informationsquelle, und zwar sowohl im Hinblick auf die Ereignisse in der Welt als auch auf das, was die Welt ausmacht. Ihnen kommt ein enormer
Stellenwert bei der Herausbildung und Übermittlung von sozialen Werten zu. Sie beeinflussen
nicht nur, was die Menschen sehen, sondern auch, wie sie das Gesehene auffassen. Gleichzeitig sind sie das mit Abstand wichtigste Medium für Unterhaltung und
Kultur. Vor diesem Hintergrund liegt der zentrale Stellenwert dieser Branche für
die Gesellschaft auf der Hand. Ebenso offensichtlich ist die Vorherrschaft importierter
Produktionen auf dem audiovisuellen Markt in Europa. Die Europäische Gemeinschaft hat in
den vergangenen Jahren eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um hier zu einer ausgewogeneren
Situation zu gelangen. Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Richtlinie "Fernsehen ohne Grenzen", mit der ein einheitlicher europäischer Markt für
Fernsehsendungen geschaffen wird, und das MEDIA-Programm, das eine Reihe von Fördermaßnahmen
zu diesem Zweck vorsieht. Mittlerweile beginnen diese Maßnahmen zusammen mit den immer konsequenteren Schritten auf einzelstaatlicher Ebene erste Früchte zu tragen.
So entwickelten sich im vergangenen Jahr verschiedene europäische Kinofilme zu Kassenschlagern.
Gleichzeitig hält im Fernsehen der neunziger Jahre der Trend zur Ausstrahlung von immer mehr europäische Sendungen weiter an.
Audiovisuelle Politik: Die nächsten Schritte
Die Hochrangige Gruppe wurde 1997 im Rahmen einer allgemeinen Überprüfung der audiovisuellen
Politik der Gemeinschaft ins Leben gerufen. Weitere herausragende Ereignisse im Rahmen
dieser Überprüfung waren:
- die Veranstaltung eines hochrangigen Seminars im Rahmen der Luxemburger Präsidentschaft,
das sich im November 1997 mit dem Anbruch des digitalen Rundfunkzeitalters beschäftigte;
- die Durchführung einer europäischen Konferenz über audiovisuelle Medien, die sich
mit den Herausforderungen und Chancen des digitalen Zeitalters befaßte (6. bis
8. April 1998 unter britischer Präsidentschaft).
Parallel dazu hat die Europäische Kommission im Dezember 1997 ein Grünbuch zur Konvergenz
der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie herausgegeben,
das einen breit angelegten Konsultationsprozeß auslöste. Die Ergebnisse dieses Prozesses werden von der Kommission in einer Mitteilung Ende des Jahres vorgestellt. Zudem
steht in diesem Jahr der Zwischenbericht zum MEDIA-Programm ins Haus.
Dieser Zwischenbericht kommt genau zur rechten Zeit, werden doch die mit der Einführung
der Digitaltechnik einhergehenden Veränderungen den Sektor in seinen Grundfesten
erschüttern. An Stelle der analogen Welt mit ihrem knappen Frequenzangebot wird die
digitale Welt mit Hunderten von digitalen Fernseh- und Hörfunkstationen treten. Die interaktiven
Angebote werden zunehmen, und die Zuschauer werden so in der Lage sein, Sendungen
nach eigenem Belieben abzurufen oder sich sogar eigene Fernsehprogramme zusammenzustellen. Der Fernsehzuschauer kann aus einer Vielzahl von neuen oder verbesserten
Diensten wählen, angefangen von Teleshopping, über Finanzdienstleistungen und elektronische
Post bis hin zum Internet-Zugang. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der zu erwartende explosionsartige Anstieg der Nachfrage nach audiovisuellen Inhalten.
Warum eine Hochrangige Gruppe?
Der audiovisuelle Markt ist an einem Scheideweg angelangt, der in eine komplexe und
schwer vorhersagbare Zukunft führt. Vor diesem Hintergrund habe ich entschieden,
daß die Kommission nur dann Maßnahmen entwickeln kann, die den Ansprüchen des digitalen
Zeitalters gerecht werden, wenn ihr eine Gruppe der kompetentesten Sachverständigen zur
Seite steht.
Im Rahmen des allgemeinen Überprüfungsprozesses kam der Hochrangigen Gruppe die Aufgabe
zu, Leitlinien für die künftige audiovisuelle Politik der Europäischen Union zu entwickeln.
Vor dem Hintergrund der bevorstehenden
digitalen Umwälzung der audiovisuellen Landschaft galt es, sich insbesondere mit den
folgenden drei Fragen auseinanderzusetzen:
- Wie kann sich die europäische Inhalteindustrie (Film, Fernsehen, Multimedia) die
zu erwartenden Entwicklungen am besten zunutze machen?
- Wie können die europäischen und nationalen Instanzen der europäischen Branche helfen,
den damit verbundenen industriellen, kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen
gerecht zu werden? Welche Rolle sollte dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksektor in dieser neuen Landschaft zukommen?
- Welcher Stellenwert sollte dem allgemeinen öffentlichen Interesse insbesondere in
ethischen Fragen beigemessen werden, um auch in Zukunft einen europäischen Ansatz
in für die Gesellschaft relevanten Fragen zu sichern?
Die Herausforderungen
Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob die erwartete Explosion der Nachfrage nach
audiovisuellem Material durch europäische oder durch Importproduktionen gedeckt werden
wird. Bereits heute ist der europäische audiovisuelle Markt infolge der
sprachlichen und kulturellen Vielfalt zersplittert. Es besteht die Gefahr, daß die
durch die digitale Technik ausgelöste Flut von immer neuen Kanälen diese Zersplitterung
weiter verstärkt und es damit für die europäischen Produzenten noch schwieriger macht, im Wettbewerb mit amerikanischen Importprodukten zu bestehen.
Auch im digitalen Zeitalter geht es darum, daß Europa seine sprachliche Vielfalt und
seine zentralen Wertvorstellungen behauptet. Gleichzeitig eröffnen sich heute aber
auch enorme neue Möglichkeiten, die es für Europa zu ergreifen gilt, damit es nicht
andere an seiner Stelle tun.
Hinzu kommt die wachsende Sorge unserer Bürger im Hinblick auf die Qualität des auf
dem Bildschirm bzw. der Leinwand gezeigten Angebots. Viele sind der Ansicht, daß
z.B. zu viel Gewalt gezeigt wird, die bei den Jugendlichen in der Gesellschaft zu
einer erhöhten Gewaltbereitschaft führen kann. Weitverbreitet ist auch die Auffassung, daß
mehr zum Schutz unserer Kinder vor schädlichen Inhalten getan werden muß und daß
Kinderprogramme sowohl eine unterhaltsame als auch eine erzieherische Wirkung haben
sollten. Auch hier liegt der Schlüssel zum Erfolg zumindest teilweise in einer immer lebendigeren
und wettbewerbsfähigeren europäischen Produktionsindustrie.
Welche Schritte sind erforderlich?
Nach Ansicht der Gruppe muß die künftige audiovisuelle Politik auf folgenden Eckpunkten
basieren:
- Am Anfang einer jeden Untersuchung der staatlichen Politik im Bereich
audiovisuelle Medien muß die Anerkennung der besonderen Rolle dieser Medien in unseren
Gesellschaften sowie der Notwendigkeit eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen
den Kräften des freien Marktes einerseits und der Wahrung des allgemeinen öffentlichen
Interesses andererseits stehen.
- Von entscheidender Bedeutung ist, daß Europa die sich eröffnenden Möglichkeiten im
digitalen Bereich (in all ihren Formen) nutzt, um für das Informationszeitalter gerüstet
zu sein.
- Wenn der "Inhalt König ist", dann führen alle Wege in dieses Königreich über
den Vertrieb. Mit der Politik zur Förderung europäischer Produktionen muß diesem grundlegenden
Sachverhalt Rechnung getragen werden. Deshalb sollte vorrangig ein leistungsstarker
Sektor "Verleih/Vertrieb und Verwaltung der Rechte" entwickelt werden.
- Die Rundfunkveranstalter spielen beim Vertrieb und der Finanzierung audiovisueller
Produktionen eine Schlüsselrolle. Die Politik Europas im audiovisuellen Bereich muß
auf dieser Komponente der Stärke aufbauen, die einzelstaatlichen
Maßnahmen im Bereich audiovisuelle Medien im allgemeinen und Rundfunk im
besonderen ergänzen und so die zusätzliche europäische Dimension schaffen.
- Die vorhandenen Fördermaßnahmen für die Filmbranche und die audiovisuelle Inhalteindustrie
sollten vervollständigt und an die neuen Gegebenheiten angepaßt werden. Eckpunkte
sind dabei:
Einführung eines Mechanismus zur Gewinnung von mehr Investitionen für audiovisuelle
Produktionen;
Einrichtung eines Netzes europäischer Film- und Fernsehhochschulen, um die hier führenden
Einrichtungen miteinander zu
verbinden;
Organisation einer zugkräftigen europäischen Werbeveranstaltung;
Ausbau des MEDIA-II-Programms und Ausstattung des Programms mit Mitteln in einem Umfang,
der der Größe und strategischen Bedeutung der Branche gerecht wird;
Entwicklung von Partnerschaftsabkommen zwischen privaten Rundfunkanstalten und öffentlichen
Instanzen (gegebenenfalls mit Gemeinschaftsmitteln zur Sicherung einer länderübergreifenden
Dimension).
- Die Einführung von Grundsätzen und Kriterien für die Finanzierung des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks gemäß dem Protokoll zum Vertrag von Amsterdam würde
eine solide Grundlage für die Zukunft des öffentlichen Rundfunks schaffen, gleichzeitig
aber den nötigen Grad an Achtung der Grundsätze des freien Unternehmertums und des
Wettbewerbs gewährleisten, den private Rundfunkveranstalter zum Ausbau ihrer Aktivitäten
brauchen. Die wichtigsten Kriterien, die bei der Bewertung eines Systems zur Finanzierung
des öffentlichen Rundfunks zugrundezulegen sind, sind die der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz. Ausgehend von den grundlegenden Unterschieden zwischen
an die Allgemeinheit gerichteter Kommunikation und privater Korrespondenz wird auch
in Zukunft die Notwendigkeit einer spezifischen Regulierung audiovisueller Inhalte
fortbestehen.
- Für die Entwicklung der Branche ist die Regelung der Urheberrechte von entscheidender
Bedeutung.
Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen in Mittel- und Osteuropa seit
1989 hat die Gruppe ihr Wirkungsfeld auch auf diese Länder ausgedehnt, die Partner
in
dem Bemühen um die gemeinsame Sache sind.
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