Schleyer.htm Zum 20. Todestag von Hanns Martin Schleyer

Rede des Bundespräsidenten in Stuttgart

Bundespräsident Roman Herzog hielt bei der Gedenkveranstaltung zum 20. Todestag von Hanns Martin Schleyer am 18. Oktober 1997 in Stuttgart folgende Rede:

Zwanzig Jahre nach der Ermordung von Hanns Martin Schleyer sind es immer noch Gefühle, die unser Denken in erster Linie erfüllen. Mitgefühl vor allem mit Ihnen, sehr verehrte Frau Schleyer, und Ihrer ganzen Familie, Mitgefühl mit den Angehörigen von Heinz Marcisz, Reinhold Brändle, Roland Pieler und Helmut Ulmer. Aber es ist heute auch möglich, dieses Ereignis in eine größere Perspektive einzuordnen.

Als ich gebeten wurde, heute zu sprechen, wurde mir das Thema "Rechtsstaat 1977 bis 1997" vorgeschlagen, und es wurde mir zu verstehen gegeben, daß ich etwas zu den heutigen und künftigen Herausforderungen sagen soll. Ich glaube, diese Bitte ist ganztypisch für die Hanns Martin Schleyer-Stiftung: Auch an einem Tag, der von Trauer und Gedenken erfüllt ist, soll der Blick zurück vor allem die Sensibilität für die Zukunft schärfen.

Die Ereignisse des Herbstes 1977 lassen auch nach zwei Jahrzehnten viele Fragen ohne plausible Antwort. Wo lagen die Ursachen terroristischer Gewalt? Warum wurden nicht Unterprivilegierte, sondern eher Wohlstandskinder zu Tätern? Warum brach sich der Terrorismus in einer Zeit Bahn, in der die Bürger großes Vertrauen in die Fähigkeit der Gesellschaft setzten, sie an den sozialen Errungenschaften teilhaben zu lassen? Warum wurde die Blutspur des Terrors besonders breit, als Erstarrungen und Verkrustungen längst einer lebhaften gesellschaftlichen Reformdiskussion und Reformbereitschaft gewichen waren? Und warum gab es für die Täter bei aller Isolation in ihrem mörderischen Tun doch einen Kokon ideologischer Rückendeckung bis hin zu nicht nur klammheimlicher Sympathie in einem Teil der Gesellschaft?

Bis heute ist die Gefahr groß, einfache Kausalitäten zu vermuten. Oft wird eine Fixierung der frühen Bundesrepublik auf den materiellen Wohlstand beklagt, ihre mangelnde intellektuelle Offenheit, ihre institutionelle Reformunwilligkeit nicht selten noch gepaart mit dem Vorwurf, sie habe ihre entscheidende Prägung durch eine NS-verstrickte Generation erfahren. Und wer wollte leugnen, daß in den 50er und 60er Jahren alle Kräfte auf den Wiederaufbau und die Absicherung des Wirtschaftswunders konzentriert worden waren und weder Zeit noch Bereitschaft bestand, unseren geistigen Standort neu zu bestimmen?

Auf viele drängende Fragen nicht zuletzt auch zum Umgang mit unserer Geschichte gab es nur unzureichende Antworten. Diese heikle Zustandsbeschreibung der frühen Bundesrepublik und ihrer Eliten wird dann konfrontiert mit dem Bild einer idealistischen, vergeblich nach Gerechtigkeit suchenden Jugend, deren verständliches Aufbegehren mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auch eine Abkehr vom Staat hervorgebracht habe. Wen könne es wundern so diese Lesart wenn diese Abkehr auch in terroristische Gewalt umgeschlagen sei?

Spätestens hier melde ich aus mehreren Gründen Widerspruch an. Einerseits ist es unredlich, beim Staat selbst die moralische Hauptverantwortung für extremste Verbrechen seiner Gegner festzumachen. Dahinter scheint allzuschnell der gefährlichrechtfertigende Satz auf. "Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" Andererseits wird bei dieser Betrachtung übersehen, daß die Bundesrepublik vor 20 Jahren längst dabei war, sich aus ihrer geistigen Enge zu befreien. Sie war eben kein intellektuell und institutionell erstarrtes Land mehr, und Hanns Martin Schleyer war dafür selbst der beste Beweis. Er war weder ein eiskalter Interessenvertreter noch ein bedenkenloser Machtmensch, sondern gerade er reflektierte und publizierte viel zur gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmerschaft, die er repräsentierte. Er war geradezu das Symbol einer neuen Diskussionskultur, das Gegenteil dessen, was seine Mörder ihm und mit ihm dem ganzen System anheften wollten, für das er stand. Diese Eigenschaft teilte er übrigens mit vielen anderen, die später Opfer terroristischer Gewalt wurden, etwa mit Alfred Herrhausen oder Detlev Rohwedder. Mitte und Ende der 70er Jahre waren es nicht "das System", nicht die Gesellschaft und nicht der Staat, die sich einer Diskussion über Recht und Gerechtigkeit, über demokratische Erfordernisse und strukturelle Reformen verweigerten. Ganz im Gegenteil: Die Losung "mehr Demokratie zu wagen" war geradezu eine Überschrift dieser Jahre - und sie fand Widerhall quer durch alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen.

Und damit geschah, was Ungeduldige noch in den 60er Jahren vermißt hatten: Es gab einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, mehr intellektuelle Offenheit, mehr demo-kratische Mitwirkung, viele strukturelle Reformen. Es gehört zu den bitteren Erfahrungen dieser Jahre, daß die gesellschaftliche Selbsterneuerung den Terrorismus weder verhindern noch auch nur eindämmen konnte. Die Terroristen selbst hatten sich mit ihrem Bild unserer Gesellschaft immer weiter von der Realität entfernt. Aber sie befanden sich damals auch noch nicht in völliger Verkapselung und Isolation. Denn der Grundentwurf ihres Zerrbildes war in einem fortbestehenden ideologischen Umfeld entstanden, das sich einig darin war, die Gesellschaft nicht mit dem Stimmzettel verändern zu können. Dort wurde von der Notwendigkeit des revolutionären Umsturzes gesprochen, dort wurde die Legitimität eines gewaltsamen Aufstands mit dem Widerstandsrecht gegen einen weiter als faschistisch denunzierten Staat begründet.

Die allermeisten aus diesem ideologischen Umfeld haben mittlerw eile in unsere Gesellschaft zurückgefunden. Für manche war es ein langer, durch innere Kämpfe begleiteter Weg. Einige wurden durch die kalt und zynisch geplanten Morde zur Umkehr veranlaßt. Und viele haben sich durch Einsicht reintegriert. Das ist für mich nicht Anlaß zu rechthaberischem Triumph, sondern Grund zu wirklicher Freude. Hier beweist sich, daß Vertrauen selbst dort aufgebaut werden kann, wo es zunächst unüberbrückbare Feindschaft und Haß zu geben schien.

Lassen Sie mich den Blick auf den Staat zurücklenken. Ich kann und will mir heute nicht eine Bewertung darüber anmaßen, ob alle politischen und juristischen Maßnahmen gegen den Terrorismus wirklich notwendig und sinnvoll waren. Manches stellt sich aus der ruhigen Retrospektive betrachtet in seinen Wirkungen anders dar als in einer Situation mit aktuellem Entscheidungsdruck. Aber weder ist wie von manchen behauptet ein überreagierender Polizeistaat entstanden, noch hat der Staat den Terroristen Konzessionen gemacht.

Allerdings wäre die Hoffnung kühn, daß in unserem Gemeinwesen die Gefahr terroristischer Gewalt für alle Zeiten gebannt sein könnte. Ich fürchte, die Gefährdung ist uns heute lediglich weniger präsent, auch weil der moderne Terrorismus in vielerlei Spielarten denkbar ist nicht mehr nur als ideologisch motivierte linke Gewalt gegen hohe Repräsentanten von Staat und Wirtschaft, sondern auch weniger spektakulär als Gewalt von rechts, die sich gegen eher zufällige Ziele richtet, die von den Tätern lediglich als Symbole ihres Hasses ausgewählt werden.

Wir müssen so fürchte ich mit der Gewißheit leben, ein verwundbares Gemeinwesen zu haben. Wer sich dem Konsens über die Spielregeln der Demokratie entzieht, kann auch künftig die Demokratie selbst erschüttern. Man kann solche Fälle auch nur begrenzt vorherdenken. Unser Recht reguliert gewissermaßen die "Normalfälle", in Grenzsituationen werden wir auch künftig ohne das Geländer normierter Verhalttens-maßnahmen auskommen und entscheiden müssen.

Folglich kann auch immer wieder das Dilemma entstehen, das schon 1977 die politisch Handelnden belastet hat: Was tun, wenn durch eine Erpressung Menschenleben gefährdet sind und eine Chance zu ihrer Rettung nur bei Abweichung von Recht und Gesetz - und bei Gefährdung anderer Menschen besteht? Und wie umgehen mit der Gefahr einer Nachahmung ? ln solchen Situationen wird die Entscheidungsmacht des Staates tatsächlich zur Ohnmacht angesichts der Verantwortung, die jede Verhaltensalternative mit sich bringt.




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