Das transatlantische Bündnis auf dem Weg in das 21. Jahrhundert

Rede des Bundesministers der Verteidigung, Rudolf Scharping , bei der Deutschen Atlantischen Gesellschaft in Bonn-Bad Godesberg am 18.April 1999.

I.

Herzlichen Dank für die Einladung zu Ihrer Feierstunde. Es ist mir eine Ehre, in Vertretung des Bundeskanzlers, der Sie herzlich grüßen läßt, den Festvortrag zu halten.

Fünfzig Jahre transatlantisches Bündnis das ist ein willkommener Anlaß, die Erfolge der Vergangenheit zu würdigen, die künftigen Herausforderungen zu bewerten und auch Ihren seit Jahrzehnten geleisteten Beitrag zur euro-atlantischen Partnerschaft herauszustellen.

Heute steht das Nordatlantische Bündnis in einer Bewährungsprobe ohnegleichen. Lassen Sie mich deswegen eingangs gleich auf das Thema zu sprechen kommen, das uns alle in diesen Tagen und Wochen am meisten bewegt das Kosovo.

Sie alle haben in den vergangenen Tagen gemerkt: In unsere diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts ist Bewegung gekommen. Die Bundesregierung hat einen Friedensplan vorgelegt, der von den Außenministern der NATO am 12. April in Brüssel und auch beim Gipfel der Europäischen Union mit dem VN-Generalsekretär am 14. April gutgeheißen wurde. Im Gespräch mit Außenminister Iwanow hat Frau Albright in Oslo für diesen Plan geworben. Der neue Jugoslawien- Beauftragte Rußlands, Victor Tschernomyrdin, hat am Donnerstag den Friedensplan begrüßt. Es geht darum, Rußland von einer internationalen Friedenstruppe zu überzeugen, die so zusammengesetzt ist, daß sie ein Abkommen wirkungsvoll umsetzen kann. Wir brauchen ein Mandat des VN-Sicherheitsrates, das Milosevic unmißverständlich deutlich macht, wie weit er in der internationalen Gemeinschaft isoliert ist.

Der Konflikt wirft für uns alle elementare Fragen auf Fragen, die berechtigt sind und die wir offen diskutieren müssen.

Gefragt wird nach der moralischen Rechtfertigung unseres Handelns und auch, wie weit der Einsatz der NATO vom Völkerrecht getragen wird. Immer wieder wird aber auch die Frage gestellt, welche politischen Ziele wir unmittelbar verfolgen und welche langfristigen politischen Überlegungen dahinterstehen. Und es wird natürlich die Frage gestellt, ob die militärischen Mittel geeignet sind, unsere politischen Ziele durchzusetzen.

II.

Wir haben uns die Entscheidung nicht leichtgemacht. Immer wieder haben wir uns selbst gefragt, ob der Einsatz moralisch gerechtfertigt ist. Ich sage klar und eindeutig: Dieser Einsatz ist aus moralischen Gründen unumgänglich. Wir müssen es schaffen, der Moral die politischen Instrumente zu geben und der Politik die Moral. Denn Politik und Moral sind immer konkret. Ohne den Willen und die Fähigkeit zum Handeln wird die Reklamation von Moral folgenlos. Dann gerät die Politik zur kalten Technokratie.

Ich weiß auch, daß Empörung kein Mittel der Politik ist aber ein Antrieb kann sie sehr wohl sein. Bis heute sind mindestens 900 000 Kosovo-Albaner von Milosevic vertrieben worden vorsätzlich, kaltblütig und von langer Hand geplant. Wir wissen nicht einmal, wie viele davon derzeit unter unvorstellbaren Bedingungen in den Wäldern des Kosovo Zuflucht gesucht haben, um ihr pures Leben zu retten. Die Zahlen schwanken zwischen 260 000 und 400 000.

Wir sollten gerade in diesen Tagen nicht vergessen : wie im Sommer vor vier Jahren in Bosnien Blauhelme der Vereinten Nationen angekettet und als menschliche Schutzschilde mißbraucht wurden unter krasser Mißachtung des Völkerrechts; wie damals die Schutzzonen der Vereinten Nationen in Bosnien von serbischen Soldaten überrannt wurden und die Menschen deportiert und interniert wurden; und was damals in Srebrenica und an anderen Orten geschah, ist bis heute ein Fanal des Völkermords im ausgehenden 20. Jahrhundert, und das im Herzen Europas.

Mancher Kritiker meint, wir dürften nur dann im Kosovo eingreifen, wenn wir auch in der Türkei, in Ruanda und in Tibet eingreifen. Solche Kritik verkennt, daß die politischen Bedingungen und Möglichkeiten in jedem einzelnen Fall unterschiedlich gelagert sind. Diese Kritik ist verfehlt. Wenn zehn Menschen ertrinken und wir nur einen retten können sollen wir diesen einen dann etwa ertrinken lassen, weil wir die anderen nicht auch retten können? Das kann doch nicht sein.

Für sich persönlich auf Notwehr zu verzichten kann moralisch vorbildlich sein. Nothilfe gegen unrechte Gewalt zu verweigern ist dagegen immer moralisch fragwürdig. Natürlich steht dabei auch Nothilfe unter dem Gebot, zwingend notwendige ultima ratio zu sein und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten.

Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien auch im Kosovo hat nicht erst vor vier Wochen begonnen. Die Belgrader Führung führt seit Jahren Krieg, um ihre politischen Absichten von einem Großserbien durchzusetzen erst in Slowenien und Kroatien, dann in Bosnien und Herzegowina und nun bereits seit über einem Jahr im Kosovo. Solange die serbische Unterdrückung der Kosovo-Albaner noch Hoffnung auf langfristige Änderung zuließ, war so diskrete wie hartnäckige Diplomatie das angemessene Mittel. Aber seit einem Jahr eskaliert Milosevic systematisch den Konflikt im Kosovo. An die Stelle ethnischer Unterdrückung trat die systematische ethnische Säuberung.

Die internationale Staatengemeinschaft hat alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft, um Milosevic zu stoppen. Ich habe selbst miterlebt, wie der EU - Sonderbeauftragte Petritsch und sein amerikanischer Kollege Hill in permanenter Pendeldiplomatie verzweifelt versucht haben, den Boden für ein faires Abkommen zu bereiten. In Rambouillet und Paris haben sie bis zur physischen Erschöpfung mehrere Wochen lang hartnäckig verhandelt.

Offensichtlich bestand in Belgrad zu keinem Zeitpunkt ein echtes Interesse daran, einen wirklich tragfähigen, dauerhaften Kompromiß zu finden.

Der Einsatz der NATO-Luftstreitkräfte ist die ultima ratio zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe. Hätten wir nicht gehandelt, so wären wir heute konfrontiert mit dem Zustand der totalen Entvölkerung des Kosovo durch Mord und Vertreibung und mit der Frage, warum wir dem tatenlos zugesehen haben.

III.

Uns wird auch von manchen vorgeworfen, der Einsatz der NATO-Luftstreitkräfte sei völkerrechtswidrig. Es hat sogar Strafanzeigen gegen Mitglieder des Deutschen Bundestages und gegen im Kosovo eingesetzte Soldaten der Bundeswehr gegeben wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges. Das ist niederträchtig und es ist falsch.

Das aus der Souveränität der Staaten abgeleitete Verbot, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen, ist wohlbegründet. Aber staatliche Souveränität ist nur ein Rechtsgut. Die Souveränität der Staaten findet ihre Grenzen in dem völkerrechtlichen Gebot, die elementaren Menschenrechte zu gewährleisten und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu achten. Diese drei hohen Rechtsgüter haben gleichen Anspruch auf Respekt. Sie können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir haben es mit einem objektiven Zielkonflikt zu tun.



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