Mo 08.05.2000

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Ausstellungseröffnung "Juden in Berlin 1938 - 1945" im Centrum Judaicum

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Dr. Simon,

Sehr geehrter Herr Tenné,

sehr geehrter Herr Diepgen,

meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wir sind heute zusammengekommen, um gemeinsam die Ausstellung "Juden in Berlin 1938 - 1945" zu eröffnen. Es ist kein Zufall, dass wir dies am 8. Mai tun, 55 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der 8. Mai 1945 ist ein entscheidendes Datum in der Geschichte der europäischen Völker. Und in ganz besonderer Weise ist dieses Datum prägend für die Geschichte der Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg so unermessliches Leid über andere Völker und zuletzt auch über sich selbst gebracht haben.

Niemand bestreitet heute mehr ernsthaft, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen ist - der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, von Völkermord und dem Grauen des Krieges.

Aber es ist nicht nur ein Tag der Befreiung, sondern auch ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung.

Das schreckliche Vermächtnis der nationalsozialistischen Barbarei gibt uns auf, weder zu verdrängen noch zu vergessen, sondern die Erinnerung wachzuhalten und zu verstehen, was war.

Deshalb kommt der Ausstellung, die wir heute gemeinsam eröffnen, so große Bedeutung zu. Die Art und Weise, wie diese Ausstellung die bedrückendste Zeitspanne der Judenverfolgung in Berlin nachzeichnet, scheint mir besonders gut geeignet, das historische Gedächtnis für diejenigen zu erhalten, die keinerlei persönliche Erinnerung an das Geschehene haben.

Niemand kann und will die heutige Jugend in Haftung nehmen für Taten, die sie nicht zu verantworten hat. Aber ihr die grausamen Verbrechen der Vergangenheit vor Augen zu führen, und sie zu konfrontieren mit der Verstrickung von Menschen in Rassenhass und Völkermord - das gehört auch zur Erinnerungsarbeit, um daraus für die Gegenwart und für die Zukunft zu lernen.

In dieser Ausstellung kommen die Verfolgten selbst zu Wort. Mittelbar und unmittelbar wird aus der Perspektive der Opfer Zeugnis abgelegt. Die Video-Interviews mit Überlebenden und Zeitzeugen, die Sie, Herr Simon, zusammen mit Frau Meyer gedreht haben, sind bedrückende Dokumente dieses schrecklichen Kapitels deutscher Geschichte.

Es ist schwer zu ermessen, wie viel Kraft dafür auf Seiten der Befragten aufzubringen war - und wieviel Kraft es auch von Ihnen als Interviewer gefordert hat. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle dafür danken.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der 8. Mai steht als Tag der Befreiung in unserer Geschichte. Aber dieses Datum befreit uns nicht von unserer Geschichte.

Noch auf lange Zeit wird der 8. Mai ein Tag des Gedenkens und des Nachdenkens über unsere Geschichte sein müssen. Ein "Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren" - wie es Richard von Weizsäcker in seiner unverändert gültigen Rede zum 8. Mai 1985 formuliert hat.

Der 8. Mai 1945 lässt sich nicht denken ohne den 30. Januar 1933, den Tag der Hitlerschen Machtergreifung. Und ich meine, heute, im Jahr 2000, sollten wir in diesem Zusammenhang auch das Datum des 9. November mitdenken.

Dies steht wie kaum ein anderes für die Ambivalenz in unserer Geschichte: für den Rassenwahn der Pogromnacht, aber auch für Freiheitswillen und Zivilcourage, die die Berliner Mauer zum Einsturz brachten.

Und noch ein weiters Datum, das sich in diesen Tagen, am 12. Mai, jährt, möchte ich erwähnen: Den Tag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Staat Israel im Jahre 1965. Dieser keineswegs selbstverständliche Schritt war ein Meilenstein auf dem Weg der Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen. Einer Aussöhnung, die nur durch die Bereitschaft zur Vergebung möglich wurde und durch den unbedingten Willen auf beiden Seiten, die Erinnerung an die Verbrechen des Völkermordes wachzuhalten.

Die Opfer, die Mittelpunkt dieser Ausstellung sind, stehen stellvertretend für den geplanten, kaltblütigen Mord an Millionen Menschen: Juden zuallermeist, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Kriegsgefangene und Andersdenkende.

Menschen, deren Leben eine verbrecherische Ideologie sich angemaßt hatte, als "lebensunwert" zu vernichten.

Aber mit dem 8. Mai ist auch die Erinnerung an Bombennächte verbunden, an die Vertreibung aus der Heimat, an die schreckliche Gewissheit, für eine mörderische Sache gekämpft zu haben.

Ich wende mich entschieden gegen jede Diskussion über eine Hierarchie der Opfer. Wir sollten uns statt dessen immer wieder klarmachen: Der Krieg und die Verbrechen von Auschwitz und Treblinka, von Warschau und eben auch von Berlin waren keine Naturkatastrophe.

Menschliche Wesen mit zunächst ganz gewöhnlichen Ambitionen hatten unseren Kontinent Schritt für Schritt in eine Mordstätte verwandelt - Auschwitz und die anderen Vernichtungslager, aber auch Städte wie Rotterdam und Oradour zu Orten des Zivilisationsbruchs schlechthin gemacht. Zu Orten des namenlosen, andauernden Entsetzens.

Am 8. Mai sprechen wir nicht von einer kollektiven Schuld des deutschen Volkes. Aber wir müssen von seiner Verantwortung sprechen. Von unserer Verantwortung für Menschlichkeit und Toleranz und von der Verantwortung für die Freiheit.

Denn dass Krieg und Völkermord mitten in der sogenannten "zivilisierten" Welt möglich waren, macht deutlich: Eine aufgeklärte, freie und friedlich-tolerante Gesellschaft dürfen wir nie als selbstverständlich annehmen.

Wir müssen um diese Freiheit Jahr für Jahr und Tag für Tag kämpfen - in der Politik, aber auch und gerade in unserem Alltag.

Meine Damen und Herren,

mag am 8. Mai 1945 auch der Krieg vorüber gewesen sein - seine Folgen waren es noch lange nicht, zum Teil dauern sie bis heute fort.

Als gravierendste Folge ist hier sicher die Spaltung Europas zu nennen. Sie war der Preis, den die Völker für den Krieg zu zahlen hatten, und nicht nur die Deutschen mussten diesen Preis zahlen.

Unsere polnischen Nachbarn wurden ein weiteres Mal vergewaltigt und an der Verwirklichung ihrer europäischen Ambitionen gehindert. Europa, die europäische Integration, ist die Antwort der Völker auf den Krieg. Nicht allen ist diese Antwort leicht gefallen. Vergegenwärtigen wir uns, welche Überwindung es viele unserer Nachbarn gekostet haben muss, den Deutschen zur Versöhnung und zur Gemeinschaft die Hände auszustrecken.

Doch gerade an diesem 8. Mai wird es deutlicher als sonst, dass Europa eben keine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft ist. Dass der Weg der europäischen Integration anknüpft an eine lange, bis ins 18. Jahrhundert zurück reichende Tradition. Der europäische Einigungsprozess hat den Zivilisationsbruch nicht ungeschehen machen können. Im Gegenteil: Die Erinnerung an diesen Zivilisationsbruch gehört zu den geistigen Fundamenten des sich einigenden Europa.

Aber mit der fortschreitenden europäischen Einigung ist die Wertekultur der europäischen Aufklärung wieder aufgenommen worden.

Sie bindet uns heute stärker als etwa in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Sie gibt uns Hoffnung, ein freies und demokratisches Europa selbstbewusster Nationen tatsächlich erreichen zu können.

Und 55 Jahre nach dem Krieg, da die europäische Spaltung endlich überwunden ist, gilt unser historischer Auftrag um so mehr: Auf der Grundlage der gemeinsamen europäischen Werte unsererseits den Nachbarn in Mittel- und Osteuropa die Hand zur Integration auszustrecken.

Deshalb gibt es zur Ost-Erweiterung der Europäischen Union keine Alternative. Wir alle wissen, dass es ganz wesentlich an den Beitrittskandidaten selbst liegt, die Voraussetzungen für den EU-Beitritt zu schaffen.

Aber insbesondere am heutigen Tag sollten wir bekräftigen, dass Europa von sich aus aufnahmefähig gemacht werden muss. Die nötigen institutionellen Reformen sind dafür unabdingbare Voraussetzung. Damit wir die wichtigste Lehre aus dem 8. Mai ziehen können: ein gemeinsames, friedliches Europa der Völker zu bauen.

Ich spreche hier nicht von einem technokratischen Prozess. Ich spreche von der Besinnung auf die gemeinsame europäische Kultur, auf die gemeinsamen Werte. Deswegen brauchen wir Transparenz und Bürgernähe.

Und deswegen brauchen wir auch die Diskussion um eine europäische Grundrechtscharta - eben nicht als von oben verordnetes Regelwerk, sondern als Ergebnis des gemeinsamen demokratischen Willens der Völker Europas.

Meine Damen und Herren,

in Deutschland ist es alles andere als ein geradliniger Weg gewesen, unsere Vergangenheit anzunehmen. Vierzig Jahre lang ist dieser Weg in zwei verschiedenen Staaten, zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen verlaufen. Der Chance zur Freiheit, die unsere Verbündeten dem westlichen Teil unseres Landes nach 1945 gegeben haben, stand neuerliche Diktatur im Osten gegenüber.

Während die Menschen im Westen sich auf die Anstrengungen des Wiederaufbaus konzentrieren konnten, wurden sie im Osten bald wieder um die Früchte ihrer Arbeit gebracht. Deshalb ist auch dies ein Auftrag des 8. Mai: die Herstellung der inneren Einheit in allen Teilen unseres Landes entschlossen voranzutreiben.

Auf den Tag genau vier Jahre nach Kriegsende, am 8. Mai 1949, nahm der Parlamentarische Rat der Bundesrepublik das Grundgesetz an. Damit begann der Weg in eine Gesellschaft der Demokratie und der Menschenrechte, eine Gesellschaft des Wohlstands und der Teilhabe.

Diese Entwicklung, die wir heute mit Stolz als unumkehrbar bezeichnen dürfen, war nur möglich, weil unsere Gesellschaft in ihrer großen Mehrheit immer wieder der Versuchung des Verdrängens widerstanden hat. Die zumindest seit Mitte der 60er Jahre sehr intensive politische Diskussion um Schuld und Verantwortung hat erheblich zur Stabilität der demokratischen Ordnung und zur Wertebindung der Gesellschaft der Bundesrepublik beigetragen.

Und wir wollen ungeachtet aller politischen Verirrungen eines totalitären, kommunistischen Regimes nicht unterschlagen, dass auch in der damaligen DDR zahlreiche engagierte Männer und Frauen glaubten, als Lehre aus Krieg und Nationalsozialismus jenes angeblich "bessere Deutschland" aufbauen zu müssen.

Wir wollen aber auch nicht vergessen, dass es die Werte von Frieden und Freiheit waren, die - sowohl am 17. Juni als auch in den Wochen und Monaten vor dem 9. November 1989 - die Menschen gegen die Diktatur aufstehen ließen.

Meine Damen und Herren,

die 55 Jahre, die seit dem 8. Mai 1945 vergangen sind, zeigen uns, dass es in unserer Geschichte auch ein Gelingen gibt. Darauf können wir stolz sein. Wir sollten uns stets bewusst sein, dass alles, was wir an Demokratie, Freiheit, Liberalität und Toleranz erreicht haben, untrennbar verbunden ist mit dem Schrecken und dem Leid der Jahre vor 1945. Die Schande und die historische Verantwortung, die Hitler und seine Komplizen den Deutschen hinterlassen haben, sind das wirklich Bleibende an ihrem "Tausendjährigen Reich".

Es darf deshalb an einem Tag wie diesem nicht bei allgemein gültigen Appellen bleiben, das Vergangene nicht zu verdrängen. Wir können uns auch nicht darauf ausruhen, dass wir in den letzten Monaten einige drängende Entscheidungen endlich getroffen haben: Ich nenne beispielhaft die Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zugunsten der ehemaligen Zwangsarbeiter.

Gerade in unserer Zeit, in der die Menge des Wissens buchstäblich grenzenlos geworden ist, geht es mir auch darum, das historische Gedächtnis als etwas zu stärken, das die Qualität des Wissens ausmacht.

Wir dürfen nicht nachlassen, über die gesellschaftlichen und geistigen Strukturen zu sprechen, die den Nationalsozialismus möglich gemacht haben.

Und wir dürfen nicht nachlassen, "den Nachwachsenden beim aufrechten Gang durch unsere Geschichte zu helfen", wie es Willy Brandt einmal gesagt hat.

In einer Zeit, da neonazistische Gruppen die weltumspannenden Kommunikationstechniken nutzen, um ihre menschenverachtenden Ideen zu verbreiten, müssen wir auch die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Hasspropaganda und Gewaltverherrlichung verbessern. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Initiative der schwedischen Regierung für ein Internationales Holocaust-Forum, die von der Bundesregierung nachdrücklich unterstützt wird.

Es geht um ein "Erinnern für die Zukunft". Es geht um praktische Toleranz und Humanität. Es geht um Zivilcourage, wenn heutzutage Menschen in Deutschland aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens von prügelnden Banden bedrängt werden.

Die Erinnerung, zu die uns der 8. Mai zwingt, ist kein totes Wissen und keine Pflichtübung. Hinter jeder Zahl von Getöteten und Geschundenen stehen menschliche Schicksale, menschliche Grausamkeiten.

Und in jeder Erinnerung steht die Aufforderung zur Menschlichkeit und zum Widerstand gegen das Unrecht.

Ich wünsche dieser Ausstellung, die dazu einen hervorragenden Beitrag leistet, dass sie ihr und unser aller Ziel erreicht: ein Deutschland und ein Europa, in dem der 8. Mai unmissverständlich eine Botschaft bedeutet: Nie wieder!