14.Bstag.htm Konstituierung des 14. Deutschen Bundestages

Ansprache des Alterspräsidenten

Der 14. Deutsche Bundestag trat am 26. Oktober 1998 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die erste Sitzung der 14. Wahlperiode wurde durch den Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages, Fred Gebhardt , mit folgender Ansprache eröffnet:

Guten Tag, meine Damen und Herren,
geehrte Kolleginnen und Kollegen,

ich begrüße Sie zur konstituierenden Sitzung des 14. Deutschen Bundestages. Es ist parlamentarischer Brauch, daß der Älteste in der Versammlung die Leitung übernimmt, bis der Deutsche Bundestag sich selbst einen Präsidenten gewählt hat. So sieht es auch der Paragraph 1 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vor.

Ich wurde am 27. Februar 1928 geboren. Ist jemand unter Ihnen, der früher geboren wurde? Das ist offenbar nicht der Fall.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Eröffnung der Sitzung durch den Alterspräsidenten.

Meine Damen und Herren, als Alterspräsident eröffne ich die erste Sitzung der 14. Wahlperiode. Ich begrüße alle Gäste auf der Tribüne. Wir freuen uns, daß Sie an unserer konstituierenden Sitzung teilnehmen. Mein Gruß gilt auch den Botschaftern und Missionschefs zahlreicher Staaten.

Bis zur Beschlußfassung über die Geschäftsordnung, die sich der 14. Deutsche Bundestag nach der Wahl des Bundestagspräsidenten geben wird, verfahren wir nach den Regeln, die für den 13. Deutschen Bundestag gegolten haben.

Nach Absprache mit den Fraktionen benenne ich als vorläufige Schriftführer die Damen und Herren Abgeordneten Brigitte Adler, Hans-Dirk Bierling, Renate Blank, Wolfgang Bosbach, Hildebrecht Braun, Monika Brudlewsky, Christel Deichmann, Hubert Deittert, Dr. Uschi Eid, Hans-Joachim Fuchtel, Frank Hofmann (Volkach), Ingrid Holzhüter, Christel Humme, Brunhilde Irber, Sabine Kaspereit, Rosel Neuhäuser, Dr. Rolf Niese, Cem Özdemir, Marlies Pretzlaff, Hans Raidel, Erika Reinhardt, Bernd Reuter, Reinhold Robbe, Dr. Uwe-Jens Rössel, Heinz Schemken, Regina Schmidt-Zadel, Bodo Seidenthal, Heinz Seiffert, Wieland Sorge, Joachim Tappe, Lydia Westrich, Gert Willner und Benno Zierer. Die Abgeordneten Bernd Reuter und Benno Zierer bitte ich, neben mir Platz zu nehmen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste, das Alter eines Menschen ist bekanntlich nicht sein Verdienst, und dennoch entspricht es der Tradition, das älteste Mitglied eines Parlaments die konstituierende Sitzung leiten zu lassen. Entsprechend dieser Tradition nehme ich meine Verantwortung wahr. Als ich davon erfuhr, mußte ich an die letzte Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages, Clara Zetkin, denken, eine mutige und engagierte Frau, die, wie mein Großvater Friedrich Puchta, in Chemnitz in den Reichstag gewählt wurde, wenn auch beide für unterschiedliche Parteien. Alterspräsidenten des Bundestages waren auch Ludwig Erhard und Konrad Adenauer, die unsere Republik entscheidend mitgeprägt haben. Ich mußte an Willy Brandt denken, der mehrere konstituierende Sitzungen des Deutschen Bundestages geleitet hat und dem mein Respekt galt und gilt. Ich mußte an Stefan Heym denken, der den 13. Deutschen Bundestag mit Würde und Souveränität eröffnet hat. Es hat mich unangenehm berührt, daß einige Mitglieder des Bundestages ihm, einem großen deutschen antifaschistischen Schriftsteller, nicht die gebührende Achtung entgegenbrachten. Inzwischen sind wir aber vier Jahre weiter, und ich denke, im 14. Deutschen Bundestag würde ihm niemand mehr die Ehrerbietung verweigern.

Kollegin Frau Professor Dr. Rita Süssmuth scheidet heute aus ihrem Amt als Präsidentin des Deutschen Bundestages aus. Ich möchte Ihnen, verehrte Frau Süssmuth, ganz persönlich für Ihre langjährige Arbeit danken. Sie waren immer soweit ich das von außen wahrnehmen konnte eine faire und liberal agierende Präsidentin. Sie haben dieses Amt auf Ihre Art geprägt. Das verdient, wie ich meine, Anerkennung. Diese ist Ihnen vom Haus auch schon ausgesprochen worden.

Der 14. Deutsche Bundestag ist der letzte, der in Bonn eröffnet wird. Ich möchte den Bonnerinnen und Bonnern für ihren Beitrag zur politischen Kultur und zur Demokratie in den letzten Jahrzehnten danken. Den Berlinerinnen und Berlinern möchte ich sagen: Wir freuen uns auf Sie und hoffen, bei Ihnen willkommen zu sein.

Dieser Deutsche Bundestag trägt eine hohe Verantwortung für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland am Ausgang des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wir stehen großen Herausforderungen gegenüber. Ebenso groß sind die Erwartungen, die an die Tätigkeit des 14. Deutschen Bundestages geknüpft werden.

Die Weltordnung, wie sie nach 1945 im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, scheint realen politischen und ökonomischen Kräfteverhältnissen, den Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht mehr zu entsprechen. Eine neue Weltordnung ist aber noch nicht gefunden. Sie zu finden kann unmöglich die Aufgabe Deutschlands oder seines Bundestages allein sein. Einen Beitrag zu ihrer Findung werden wir aber leisten müssen. Eine Welt, in der es Kriege gibt, in der mit Massenvernichtungswaffen gedroht wird, in der Millionen von Menschen in Hunger und Elend leben, in der täglich Menschenrechte verletzt werden, in der die natürlichen Lebensgrundlagen künftiger Generationen zerstört werden, ist keine gerechte Welt.

Das ausgehende Jahrhundert hat gesellschaftliche Fortschritte, gigantische wissenschaftliche und technische Leistungen, aber auch schlimmste Kriege und Verbrechen, massenhafte Zerstörung und massenhaftes Elend hervorgebracht. Die Ursachen sind vielfach diskutiert und zumeist erkannt worden. Ihre Bekämpfung ist unter den gegebenen Realitäten aber nicht leichter geworden.

All diese Fragen hängen auch immer mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit zusammen. Hätten wir eine sozial gerechte Weltordnung, dann gäbe es auch keinen oder kaum Hunger und kein Elend, dann gäbe es viel weniger Ursachen für Kriege, für Gewalt, für die Verletzung von Menschenrechten, für ökologische Zerstörung und für Flucht. Ich bin deshalb davon überzeugt, daß in einer jeden Gesell schaft ebenso wie für die Menschheit überhaupt die soziale Frage die entscheidende im nächsten Jahrhundert sein wird.

Die Chance für eine wirklich demokratische und sozial gerechte Entwicklung in Deutschland ergab sich in diesem Jahrhundert erst mit der Zerschlagung des nationalsozialistischer Terrorregims im Jahre 1945. Für die ungenügende demokratische Entwicklung in den 100 Jahren zuvor mag es viele Ursachen gegeben haben. Eine Ursache sehe ich darin, daß es vor 150 Jahren nämlich 1848 nicht gelungen ist, eine erfolgreiche und demokrati sche Revolution in Deutschland durchzuführen .

Der Versuch eines demokratisch verfaßten Deutschlands, der in der Paulskirche zu Frankfurt am Main unternommen wurde, scheiterte. Der preußische König war davon überzeugt, daß gegen Demokraten nur Soldaten helfen. Es war sicherlich ein großer Fehler der Frauen und Männer in der Paulskirche, daß sie den dritten Stand, die Arbeiter und Bauern, ausgeschlossen hatten. Wären sie mit einbezogen gewesen, hätte der preußische König seine Schlacht gegen die Demokratie möglicherweise verloren.

Wie die Entwicklung weiter verlief, ist allen hier im Saal bekannt. Es endete mit dem verbrecherischsten Regime in der Weltgeschichte, der Nazidiktatur. Und nicht wir selbst haben es geschafft, uns zu befreien. Wir mußten von außen befreit werden. All jenen, die uns damals befreit haben, muß unser Dank und unser Respekt gelten. Unabhängig davon, wie wir die weitere Entwicklung in diesen Ländern beurteilen, und unabhängig von dem Schicksal vieler vor, an oder nach dem 8. Mai 1945 sollte klar sein : Ohne diesen Tag hätte es keine Chance für eine demokratische Entwicklung in Deutschland gegeben. Deshalb meine ich, daß wir uns noch vor Beendigung dieses Jahrhunderts darauf verständigen sollten, den 8. Mai 1945 zum Tag der Befreiung zu erklären und ihn jährlich entsprechend zu begehen.

Als Angehöriger einer Familie, die während der Nazidiktatur verfolgt wurde, registriere ich mit großer Sorge den wachsenden Zulauf zu rechtsextremen parteien, die wachsende Akzeptanz für deren verlogene Ideologie und Politik. Bei allem Streit, Kolleginnen und Kollegen, den wir untereinander führen werden, sollten wir einig sein in der Bekämpfung von national sozialistischem Größenwahn, von Rassismus und Antisemitismus.

Unter anderem deshalb hoffe ich sehr, daß der 14. Deutsche Bundestag Kraft findet, für Nichtdeutsche, die in unserer Gesellschaft leben, bessere Integrationsmöglichkeiten zu finden und Chancengleichheit herzustellen. Nur Menschen, die gleiche Rechte haben, werden auch als gleichwertig angesehen. Zu Recht haben die Mütter und V äter des Grundgesetzes in Artikel 1 die Würde aller Menschen nicht nur der Deutschen hervorgehoben.

Geschichte wird man nicht los, auch wenn manche sich das inzwischen sogar öffentlich wünschen. Es ist aber gar nicht wünschenswert, weil wir in der Verantwortung stehen, aus der Geschichte Lehren zu ziehen. Von Auschwitz waren und sind nicht nur jene betroffen, die dort erniedrigt, gequält und ermordet wurden, sondern wir alle.

Aber auch die Geschichte nach 1945 war keinesfalls nur erquicklich, keinesfalls nur von Wohlfahrt und Gerechtigkeit bestimmt. Infolge des Zweiten Weltkrieges wurde Deutschland besetzt, und kein Deutscher konnte sich aussuchen, in welcher Besatzungszone er lebte. Die Folge der unterschiedlichen Besatzungszonen wiederum war die Gründung von zwei deutschen Staaten, die eine sehr unterschiedliche Entwicklung nahmen. Beide deutschen Staaten standen in Frontstellung zueinander. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West tobte in Deutschland besonders zugespitzt. Opfer des Kalten Krieges gab es auf beiden Seiten; sie alle müßten rehabilitiert werden.

Seit dem 3. Oktober 1990 sind wir vereinigt. Das ist und bleibt ein großes Datum in der Geschichte unseres Landes. Ich frage mich, wie es eigentlich kommt, daß in den letzten Jahren so viel über die Probleme der Vereinigung und so wenig über die damit verbundenen Chancen gesprochen wurde. Meines Erachtens ist es ein Fehler, über die Einheit in Form von Kostenrechnungen zu reden. Diese Rechnungen sind in der Regel nicht nur falsch, sondern auch völlig überflüssig.

Ein zweiter Fehler scheint mir darin zu bestehen, daß zu viele meinen, zur Einheit gehöre, daß die Geschichte nach 1945 von allen gleich bewertet und beurteilt wird. Ich glaube, eine Chance für Veränderung und Zukunft besteht gerade darin, daß man unterschiedliche Lebenserfahrungen, unterschiedliche Wertungen und Sichten zusammenführt.

In der DDR gab es Unrecht, Verletzung von Menschenrechten und einen Mangel an Demokratie. Das muß aufgearbeitet werden. Aber diejenigen, die wie ich aus der alten Bundesrepublik kommen, dürfen nicht das trügerische Bild verbreiten, als hätten hier nur Wohlfahrt und Gerechtigkeit das Leben bestimmt. Auch in der DDR gab es Beachtliches, soziale und kulturelle Leistungen und interessante Formen des Zusammenlebens von Menschen.


© 1998, Francopolis. Tous droits réservés.