V&B.htm Europäische Einigung Garantie für Frieden, Freiheit und Wohlstand im 21. Jahrhundert

Rede des Bundeskanzlers in Mettlach

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl hielt anläßlich der Festveranstaltung zum 250jährigen Firmenjubiläum der Villeroy & Boch AG am 3. Juli 1998 in Mettlach folgende Rede:

I.
Liebe Familien von Boch,
liebe Familien Villeroy,
lieber Jean-Claude Juncker,
lieber Herr Minister Strauss-Kahn,
Herr Ministerpräsident Lafontaine,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dies ist gerade auch Ihr Tag !

Ich bin heute sehr gerne zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen gemeinsam das 250jährige Jubiläum von Villeroy & Boch zu feiern. 250 Jahre Villeroy & Boch ist ein stolzes Jubiläum. Ich möchte Ihnen hierzu meinen ganz herzlichen Glückwunsch aussprechen.

Mein Glückwunsch richtet sich an ein Unternehmen, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte auch schwierigste Zeiten europäischer Geschichte durchgestanden hat und sich selbst treu geblieben ist. Das 250jährige Jubiläum ist ein guter Anlaß, um in der Hektik des Alltags einen Moment innezuhalten, über das Vergangene zu reflektieren und auf künftige Herausforderungen zu blicken.

Am Anfang stand eine kleine Töpferei in Lothringen. Heute ist Villeroy & Boch ein weltweit operierendes Unternehmen mit rund 10 000 Beschäftigten, davon allein in Deutschland rund 4200. Villeroy & Boch ist dennoch im besten Sinne ein bodenständiges und von mittelständischem Denken geprägtes Familienunternehmen geblieben. Darauf können Sie alle stolz sein.

Seit acht Generationen stehen die Familien Villeroy und von Boch für verantwortliches Unternehmertum. Die Kontinuität des Unternehmens steht für Leistungswillen und Leistungsbereitschaft, für Mut zur Zukunft, Kreativität und Durchhaltevermögen. Das Unternehmen zeichnet sich zugleich durch die feste Verwurzelung in der Heimatregion sowie eine enge Bindung zwischen Eigentümern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus - manche Familien arbeiten schon seit Generationen bei Villeroy & Boch.

Das Unternehmen ist insofern ein großartiges Beispiel für gelebte Soziale Marktwirtschaft. Der größte Pionier dieser modernen Gesellschaftsordnung, Ludwig Erhard, hat sich immer für die Soziale Marktwirtschaft ausgesprochen, nicht für Marktwirtschaft pur. Daran halten wir fest. Wir wollen Soziale Marktwirtschaft im Erhardschen Sinne das heißt Unternehmer, die ihre wirtschaftlichen Freiräume mit sozialer Verpflichtung für die Gesellschaft verbinden. Wir wollen keine Wirtschaftsordnung, bei der es nur noch auf die Höhe des Aktienkurses ankommt - ohne Rücksicht darauf, ob und wie viele Menschen dafür freigesetzt werden. Villeroy & Boch steht in vorbildlicher Weise dafür, daß man mit einem weltweit operierenden Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich und trotzdem ganz selbstverständlich seiner sozialen Verpflichtung nachkommen kann. Dies kann man heutzutage gar nicht genug preisen.

Meine Damen und Herren, man muß sich einmal vorstellen, was in den vergangenen 250 Jahren seit der Unternehmensgründung von Villeroy & Boch alles geschehen ist. Die Höhen und Tiefen des Unternehmens sind zugleich ein Spiegel der wechselvollen Geschichte unseres Kontinents. Seit 1809 ist Villeroy & Boch im Saarland zu Hause, an der Nahtstelle zwischen Deutschland, Frankreich und Luxemburg. Das Schicksal des Saarlandes war bis hinein in dieses Jahrhundert eine bitter umkämpfte Grenzregion und so verstanden immer auch ein Grenzlandschicksal. Dies hat in besonderer Weise auch die Menschen in der Region, ihr Leben, ihr Miteinander und ihre nationale Identität geprägt. Aus diesen Erfahrungen können wir übrigens noch heute für ganz Deutschland lernen, wie unterschiedliche Lebensschicksale Menschen beeinflussen, ihre Wünsche und Vorstellungen über Gegenwart und Zukunft.

Die Menschen hier waren hin- und hergerissen zwischen Deutschland und Frankreich. Auf beiden Seiten der Grenze wurde die Erbfeindschaft zwischen diesen Ländern gepredigt. Die Saarländer haben dies mehr gespürt als viele andere. Nicht weit von hier am Stadtrand von Saarbrücken war das erste große Gefecht, das den Beginn des Krieges 1870/71 markierte, an dessen Ende die Reichsgründung unter Bismarck stand.

Auch der Erste und Zweite Weltkrieg und ihre Folgen haben die Menschen hier an der Saar in besonderer Weise betroffen. So wissen viele gar nicht mehr, daß nach der Niederlage Hitlers bei Stalingrad junge Luxemburger zum Dienst in der deutschen Wehrmacht gezwungen wurden. In vielen Luxemburger Gemeinden gibt es bis heute bittere Erinnerungen an jene Zeit. Auch dies ist ein Teil der vergangenen 250 Jahre. Um so phantastischer ist es für mich, daß wir jetzt hier in dieser Weise zusammen sind.

Meine Damen und Herren, es gibt heute überhaupt keinen Grund für den dümmlichen Kulturpessimismus, der von manchen falschen Propheten verbreitet wird. Im Gegenteil, zwei Jahre vor Ende dieses Jahrhunderts, in dem viel Leid und Schreckliches, auch im deutschen Namen, geschehen ist, haben wir eine ganz hervorragende Perspektive für die Zukunft. Die nationalen Gegensätze sind überwunden, Deutschland, Frankreich und Luxemburg einander freundschaftlich verbunden. Es gibt keinen Kampf mehr um das Saarland, sondern einen gemeinsamen Einsatz für ein geeintes und friedliches Europa. Die Menschen an der Saar, in Rheinland-Pfalz, in Lothringen und Luxemburg sind aufgrund ihrer Geschichte und ihrer geographischen Lage in der Mitte Europas geradezu berufen, leidenschaftliche Europäer zu sein. Ich erinnere nur an den in Luxemburg geborenen Lothringer Robert Schuman. Er ist sozusagen Symbol für das Überschreiten der Grenzen in Europa. Dank des Einsatzes solcher Menschen wie Robert Schuman haben die Grenzen in Europa heute ihren trennenden Charakter verloren.

Europa ohne Grenzen ist in vielen Bereichen längst gelebte Wirklichkeit. Dafür stehen vielfältige Kontakte und Begegnungen Städte- und Schulpartnerschaften, Jugend- und Lehrlingsaustausche, Reisen und Besuche in europäischen Nachbarländern. In besonders ausgeprägter Weise erleben dies die jungen Europäer. Dies unterstreichen nicht zuletzt die vielen jungen Menschen, die Jahr für Jahr die Möglichkeit nutzen, mit Interrail-Tickets bis zu vier Wochen in dreißig europäischen Ländern umherzureisen. Dies alles zeigt: Die Visionäre von gestern waren die wirklichen Realisten. Das sollten wir nie vergessen, wenn sich die sogenannten Realisten von heute skeptisch über die Zukunft äußern. Meine Damen und Herren, wer an die Zukunft nicht glaubt, der hat keine Zukunft!

Angesichts unserer sehr guten Ausgangsposition haben wir heute allen Grund, optimistisch nach vorne zu blicken. Dies machen einmal mehr die Ereignisse der letzten Tage deutlich. Vorgestern vor acht Jahren ist die deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft getreten. Sie war eine Grundvoraussetzung für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes.

Ebenfalls in dieser Woche sind wir in Frankfurt am Main zum Festakt zur Errichtung der Europäischen Zentralbank zusammengekommen. Wir haben sie mit der klaren Erkenntnis auf den Weg gebracht: Der Euro ist da. Meine Damen und Herren, das Europa des 21. Jahrhunderts, das wir jetzt gemeinsam gestalten und das wir in all den Jahrzehnten auch gegen Widerstände Stück für Stück durchgesetzt haben, das ist die Zukunft.

II.

Die Europäische Einigung ist ein Glücksfall der Geschichte. Der Bau des Hauses Europa ist Garantie für Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent. Wie in den vergangenen fünfzig Jahren gilt dies ebenso für das vor uns liegende 21. Jahrhundert. Niemand soll glauben, daß die bösen Geister der Vergangenheit, die die erste Hälfte dieses Jahrhunderts beherrscht haben in Frankreich, bei uns in Deutschland, in Luxemburg und überall in Europa , auf Dauer ausgewandert sind. Dies zeigen uns auch die täglichen Berichte mitten aus Europa aus dem früheren Jugoslawien oder aus dem Kosovo.

Gerade für Deutschland als Land in der Mitte Europas mit den längsten Grenzen und den meisten Nachbarn ist die politische Einigung Europas die Existenzfrage schlechthin. Um dies zu erkennen, muß man nicht Träumer, sondern Realist sein. Ohne die Einigung Europas, an der alle meine Amtsvorgänger von Konrad Adenauer über Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willi Brandt bis hin zu Helmut Schmidt mitgewirkt haben, wäre auch die Deutsche Einheit niemals möglich gewesen. Dies wollen wir zu keinem Zeitpunkt vergessen.

Jetzt geht es darum, das Haus Europa so zu bauen, daß es den Stürmen der Zeit Stand hält. Wir wollen ein Haus Europa, das geprägt ist durch Bürgernähe, föderale Strukturen und Subsidiarität. Wir wollen kein Haus Europa, das den Menschen fremd ist, sondern bei dem die Menschen spüren: Das ist auch mein Europa. Niemand hat dies besser formuliert als Thomas Mann, als er sagte ich zitiere ihn mit meinen Worten . Wir wollen deutsche Europäer und europäische Deutsche sein.

In der Logik des europäischen Einigungsprozesses liegt auch die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa. Die Westgrenze Polens darf nicht auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union bleiben. Ich wünsche mir, daß sie in Zukunft die gleiche Bedeutung erlangt wie etwa die Grenze hier zwischen dem Saarland und Frankreich oder Luxemburg. Ein vereintes Europa ohne Prag, Krakau oder Budapest, um nur diese zu nennen, wäre nur ein Torso sie sind genauso europäisch wie etwa die Region hier an der Saar.

Die Einführung des Euro pünktlich am 1. Januar 1999 ist ein zentraler Baustein für den Bau des Hauses Europa. Manche Skeptiker stehen noch am Wegesrand. Mich erinnert das an die Einführung der D-Mark vor fünfzig Jahren. Sie hat von Skeptikern und selbsternannten Gurus der Geldpolitik die schlechtesten Prognosen mit auf den Weg bekommen. Dennoch ist die D-Mark für uns Deutsche unbestritten zu einer Erfolgsstory geworden. Ich bin überzeugt, daß dies auch für den Euro zutreffen wird.

Die Europaische Währungsunion ist ein säkulares Ereignis. Sie wird das Leben und den Zusammenhalt von Millionen von Europäern im nächsten Jahrhundert prägen. Heute wachsen die Kindern in dem Bewußtsein auf, daß sie nach menschlichem Ermessen ihr ganzes Leben in Frieden und Freiheit verbringen können und daß die Grenzen in Europa ihren Charakter als trennende Grenzen verloren haben und sie überall in Europa Freunde finden können. Künftig werden die Menschen von Helsinki bis Madrid, in Metz, Saarbrücken, Mettlach und Luxemburg in einer Währung bezahlen. Gerade die ältere Generation kann ermessen, was dies bedeutet!

Damit der Euro eine Erfolgsgeschichte wird, muß er sich natürlich bewähren. Dazu gehört das ist auch für mich persönlich von herausragender Bedeutung , daß er eine stabile Währung wird und wir nicht wie mir manche Bürger besorgt schreiben die gute D-Mark für irgendeine schwach Währung hergeben. Ich werbe gegenüber unseren ausländischen Freunden und Partnern auch immer um Verständnis, warum die Aufgabe der D-Mark den Deutschen nicht leichtfällt. Die D-Mark wurde vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, vor unserer Nationalhymne und vor unserer Bundesflagge eingeführt. Sie ist Symbol für fünfzig Jahre Frieden, Freiheit, Stabilität und Wohlstand geworden. Sie steht für den Wiederaufstieg unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst der Tüchtigkeit der Aufbaugeneration. Dazu hat auch die Hilfe unserer ausländischen Partner beigetragen, insbesondere der Amerikaner mit dem Marshall-Plan.


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