Auf der Suche nach
dem Argot um die Jahrtausendwende.
Eine definitorische Diskussion.
Vincent Ovaert
Bitte nicht zitieren ohne Rückfrage:
vincent.ovaert@rz.hu-berlin.de
Erste Definitionen
und geschichtliche Entwicklung.
Funktionalistische
Einordnung des Argot:
Die
kryptische und ludische Funktion.
Selbstidentität
und Fremde: Die emblematische Funktion.
Der Argot und die
Dreidimensionalität der Sprache:
Soziolekt:
Der Argot zwischen "français populaire"
und "français branché"
Technolekt:
Argot, Jargon und "français
voyou"
Biolekt:
Vom Gesicht der Sprache, Macho-Gerede und Jugendsprache
Dialekt und Urbalekt: "Argot de Paris" und "français des
cités"
Wird es im 21. Jh.
noch einen Argot geben?
Produktion
und Rezeption heute: Merles "Argot Fastfood" und
"Prêt-à-parler"
Soziale
Gegebenheit und Kommunikation: "Argot Rap" oder gar "Argot
Ethno"?
Noch bevor Saussures Lehre Anwendung in der Linguistik fand (siehe Exkurs 1), hatten bereits im 19. Jh. namhafte französischen Literaten, wie Sue, Balzac oder Hugo, ihre Aufmerksamkeit auf eine besondere "Sprachrealität" gelenkt: Den Argot.[1]
Untersuchungen über das Phänomen des Argot sind heute zahlreich und tiefgreifend. Ein "Centre d'argotologie" (CARGO), also die "Wissenschaft" des Argot betreffend, ist sogar an die Universität Paris V angegliedert. Glaubt man den Schriften einiger Linguisten, wie Pierre Merle, würde CARGO jedoch bald seine Existenzberechtigung verlieren: Der Argot sei dabei, sich aus der linguistischen Landschaft zu verabschieden.[2] Werden wir also im 21. Jh. ohne Argot leben und sprechen? Die Antwort auf diese Frage scheint vor allem eng mit der Definition des Argot selbst verknüpft zu sein. Ziel dieser Arbeit ist es also, die bisherigen definitorischen Ansätze dieses Phänomens zunächst zu identifizieren und zu besprechen.
Auf der Suche nach einer Definition des Argot werden wir zunächst einen kleinen Rückblick auf die ersten Spuren eines Argot in der Geschichte unternehmen müssen. Was war diese "Sprache der Misere", wovon Hugo redete, woher kam sie, wer verwendete sie? Diese Ausführung wird uns zu einer ersten funktionalistischen Einordnung des Argot führen, als kryptische und identitätsbildende Erscheinung. Im zweiten Teil der Arbeit werden wir versuchen den Argot in der "Architektur der Sprache" zu positionieren. In diesem Zusammenhang werden auch die Ideen eines "Urbalekts" und eines "Biolekts" eingeführt und erläutert. Wie verhält sich der Argot etwa zum "français branché", "jeune" oder der "banlieues"? Wir werden dabei sehen, wie linguistische Grenze fließend sind, und wie der Argot sprachlich quasi eine Dreidimensionalität besitzt. Ausgehend von diesen Feststellungen werden wir anschließend die Argumentation der Verkünder des Untergangs des Argot in einem dritten Teil beleuchten und versuchen zu widerlegen.
In den gängigen enzyklopädischen Wörterbüchern wird der - oder das [3] - Argot zuerst als "Gaunersprache" bezeichnet. Da heute nicht nur Gauner den Argot verwenden und wiederum nicht jeder Gauner "argotisch" spricht, erscheint diese kurze Definition als längst nicht selbst-erklärend. Auch die Erweiterung des Begriffes auf die Terminologie "Jargon", also Fachsprache, hilft uns dabei kaum weiter.
Erste Spuren eines "Jargons der Verbrecher" lassen sich bereits im 14. Jh. finden (Calvet: 15)[4]. Schriftliche Quellen aus Gerichtsakten belegen im 15. Jh. die Verwendung kodierter Ausdrücke unter den Mitgliedern der verbrecherischen "Bande des Coquillards", welche die Wege der Pilgerer unsicher machten (Calvet: 16). Der Dichter François Villon verewigte kurz nach ihrer Festnahme die Aktivitäten dieser Bande in mehreren Balladen und trug dazu bei, ihren Geheimsprachenschlüssel, welcher sie lange vor polizeilichen Repressalien schütze, zu verbreiten (Abb. 1)[5]. Eine subjektive Notwendigkeit sich vor der Herrschaft der "Habenden" zu schützen, empfanden unter dem "Ancien régime" ebenfalls vielerorts die Geusen und Bettler. Als "Gegenwelt" der etablierten Ordnung, wurde zum ersten Mal die Existenz eines "Königreichs der Argotiers" von Olivier Chéreau, Autor des Buches "Jargon de l'argot réformé" 1628, dargestellt (Merle 1991: 31). Der undurchdringbare Aspekt dieses bald als Argot bekannten Jargons ließ auf eine kriminelle Vereinigung der "Argotiers" und Geusen schließen.[6] In weiteren, von dem kollektiven Gedächtnis[7] stilisierten Prozessen, wie die Hinrichtung des Räubers Cartouche 1721 oder die Zerschlagung der Bande der "Chauffeurs d'Orgère" 1800, wurde der Argot dann endgültig als "Gaunersprache" abgestempelt (Calvet: 20-26). Die biographische Wende von F.-E. Vidocq 1828, vom Verbrecher zum erfolgreichen Polizisten, änderte daran zunächst nichts.
Die Inspiration von Vidocq spielte allerdings eine
entscheidende Rolle bei der "Eröffnung" des Argot in der Literatur im
19. Jh. Wenn Hugo, Balzac oder Sue - alle griffen Vidocqs Gestalt auf - von
argotischen Ausdrücke vor allem aus stilistischen Gründen Gebrauch machten,
zeigten sie u.a. nicht zuletzt, dass eine "etwas andere" französische
Sprache vom "unteren Volk" verwendet wurde. Ihre Definition des Argot
war nicht mehr auf die Kriminalität fokussiert, sondern war sozial-gesellschaftlich
orientiert. Zwar behielt der Argot eine "dunkle Färbung" als die
Subsprache der Unterwelt, eine allmähliche Annäherung und Berührung mit dem
"Français populaire" zeichnete sich aber aus (siehe Abbildung
2).
Angesichts der
politischen Einstellungen eines Sue oder später Zola, kann die Thematisierung
des linguistischen Gebrauchs der "unteren Klasse" auch als ein
traumatisches Stigma der damaligen gesellschaftlichen Identität, welche von
Exklusion und Spaltung geprägt war, interpretiert werden. Dieser neue Blickwinkel
auf den Argot, nunmehr getragen von einigen Linguisten und Literaten, hatte
sowohl eine integrative als auch eine desintegrative Wirkung: Der gelüftete Geheimcode
verbreitete sich zunehmend, zwang aber den nun als "modern" bezeichneten
Argot sich stets neu zu formieren (Cf. Calvet: 31). Parallel zu den integrativen
Kräften konnte schließlich bis zum Ende des 20. Jh. eine "Sympathiewelle"
zugunsten des Argot beobachtet werden: Von Hugo noch als pathologische Erscheinung
(Cf. Calvet: 96) betrachtet, avancierte der Argot zum "Stimmungsmacher"
- als romantisierte "Liebeserklärung" an das Paris der 50er Jahren
wie in "Zazie" von R. Queneau; als "Lümmelschläue"
in den Dialogen des Szenaristen M. Audiard (Cf. Exkurs 2) oder als "Herzensschrei"
in den Liedern von Renaud. Neuerliche Entwicklungen ließen sogar eine
Kommerzialisierung des Phänomens deutlich erkennen (Cf. u.a. Merle 1991) - doch
mehr darüber später.
Diese historische Ausführung zwingt uns also zuerst, den Argot diachronisch zu betrachten. Denn, wie Calvet es durch eine Analyse der semantischen Wendungen des Argot verdeutlichte (Calvet: 13-32): Ein Wort, das noch vor 30 Jahren als argotisch galt, kann heute als populär oder gar etabliert angesehen werden - wenn er nicht einfach aus dem Gebrauch verschwunden ist, oder seine Bedeutung geändert hat. Sie hilft uns aber auch seine Funktionen besser zu verstehen.
Hinter der Definition des Begriffs "Gaunersprache" verbirgt sich eine kennzeichnende Dimension: Die Notwendigkeit, eine lebenswichtige Verborgenheit zu bewahren und den Zugang zu dieser identifizierend zu kontrollieren.
Die Geschichte der Kryptographie geht bis in die Antike zurück. Dies aus nachvollziehbaren Gründen: Die Geheimhaltung der Kommunikation bestimmter Aktivitäten verspricht Schutz vor der staatlichen Repression, sei diese "Justiz" oder "Staatsterrorismus".[8] Den Argot jedoch als "Kryptolekt" zu bezeichnen wäre übertrieben, denn der Grad der Verschlüsselung kann als niedrig eingestuft werden. Sie wird nur auf bestimmte Wörter des Satzes angewandt, mit einfachen Mitteln und dies aus praktischen Gründen: Die Dekodierung muss schnell erfolgen. Ohne die Wortbildungs- und somit Kodierungs- möglichkeiten des Argot zu inventarisieren, kann hier etwa auf die Verwendung des Verlan, also der Umkehrung der Silben eines Lexems mit z.T. phonetischer Stilisierung, verwiesen werden. Zwar wirkt ein Wort in Verlan zunächst verwirrend, sein kryptisches Vermögen ist jedoch begrenzt. Diese "Verkleidung der Wörter" – Calvet spricht in diesem Zusammenhang von einem Maskenball (Calvet: 89) – beinhaltet auch eine ludische Dimension: Die oft humorvollen oder ironischen Metaphern, Sinnentgleisungen, Wortspiele oder stilistische Mittel des Argot lassen einen klaren "Spaß" an der Sprache erkennen (siehe auch Exkurs 2)[9]. Neben diesem Spiel, welches nicht nur mit den Wörter sondern mit den Sprachsituationen erfolgt, kann mit der kryptischen Funktion des Argot ebenfalls eine besondere Freude am Düpieren Dritter einhergehen (Schmitt: 283): Es entsteht eine Komiksituation gegenüber dem Nicht-initiierten, wenn z.B. dieser aus einer Konversation offenkundig ausgeschaltet wird. Vielleicht auch um diese "peinlichen" Augenblicke zu vermeiden, sind zahlreiche Wörterbücher erschienen, welche als deklariertes Ziel die "Einweihung" ihrer LeserInnen hatten.[10] Wir haben die dynamische Wirkung solcher Werke auf den Argot bereits angesprochen. Zusammen mit weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen, scheint dies Ende des 20. Jh. zu einer deutlichen Schwächung der kryptischen Funktion des Argot geführt zu haben (Cf. Calvet: 92 und Schmitt: 301). Doch wenn das "Geheimnis" um den Argot gelüftet zu sein scheint, behält dieser eine weitere wichtige Funktion: Die soziale Definition seiner SprecherInnen.
Der Argot ist vor allem ein soziales Phänomen: Seine Entstehung und Existenzberechtigung erklärt sich aus einer gewollten oder geführten Abgeschlossenheit bestimmter Gruppen zur Gesellschaft. Es dient der Kohärenz von Gruppen, der Stärkung und der Identifizierung der Mitglieder gegenüber dem soziologischen Zentrum und ermöglicht gleichzeitig eine Distanzierung nach außen (Schmitt: 283). Calvet spricht in diesem Zusammenhang von einer emblematischen Funktion (Calvet: 114). Da der Argot als "Sprache der unteren Klassen" stigmatisiert wurde, implizierte seine Verwendung eine "eindeutige" Positionierung und Zugehörigkeitsbekundung zu diesen "Klassen", welche heute als "Randgruppen" bezeichnet werden.
Die Mechanismen der "Mode" sind mit dieser emblematischen Funktion der Sprache, welche beim Argot besonders geprägt ist, eng verwandt. Die bereits erwähnte Sympathiewelle zugunsten des Argot war auch verbunden mit dem semantischen Wandel des Begriffs "untere Klasse / Randgruppe" - vom pejorativen "Klasse der Verlierer und Nichtsnutze" hin zum positiv besetzten "Gruppe der kreativen Rebellen". Der Gebrauch z.B. durch manche PolitikerInnen und KünstlerInnen von argotischen Ausdrücken in der Öffentlichkeit erfolgt aus klaren demagogischen Gründen und soll etwa bekunden: "Ich gehöre zu euch, also wählt bzw. liebt mich!" (Cf. Merle 1991: 48). Ähnlich verfährt die Werbewelt. Diese Wirkung kann jedoch fehlschlagen, denn der Gebrauch von Argot ist auch eine Sache von Intimität zwischen den Gesprächspartnern: So wird z.B. normalerweise kein öffentliches Publikum damit angesprochen. Die subjektive Diskrepanz zwischen dem durch die Sprechweise –hier der Argot- übernommenen sozialen Status und dem "reell" erlebten Status kann allenfalls zu besonderen Komiksituationen führen, wie es z.B. Mathieu Kassovitz in dem Film "La haine" (1995) thematisierte (siehe Exkurs 3)[11]. Daraus lässt sich schließen, dass das soziale Phänomen "Argot" nicht nur eine selbstidentitäre Definition, sondern auch eine von außen aufgetragene Induktion der Identität beinhaltet. Die Subjektivität dieser Definitionen erschwert die Klärung des Begriffs "Argot": Um seine soziale Funktion zu entfalten, braucht der Argot eine Glaubwürdigkeit, welche stets neu ausgehandelt wird. Um diese schwer fassbare Welt von interdependenten kommunikativen Signalen zu umschreiben, spricht Merle von einem Duft: Der Argot hätte also auch eine "odorisierende" Funktion. Manche mögen es penetrant, andere nur hauchzart – eine persönliche Frage.
Die Schwierigkeit den
Argot in der Sprache eindeutig einzuordnen liegt also zum Einen in den
endogenen Wandlungen dieses Sprachstils. Eine Sprachvariante lässt sich aber
auch in Bezug zu ihrer Referenz-Sprache positionieren. Linguisten haben gezeigt,
dass diese sich entlang etwa dreier Achsen oder Variablen artikulieren lässt (cf.
Exkurs 1). Die soziale, geographische und berufliche Dimension eines Sprechaktes
scheint zunächst keiner besonderen Erläuterung zu bedürfen: Man spricht jeweils
von Soziolekt, Regiolekt oder Dialekt und von Technolekt, um eine besonders in
dieser Richtung geprägte Variante zu bezeichnen. Für Merle liege die
Besonderheit des Argot darin, dass er gleichzeitig ein Soziolekt, ein Dialekt
und ein Technolekt sei (Merle 1996: 40). Eine weitere Dimension scheint m.E.
hier noch zu fehlen: Die Referenz zur körperlichen Identität der SprecherInnen.
Auch wenn Soziologen anderswo gezeigt haben, dass Geschlecht und Alter soziale
Konstrukte sind,[12] haben
Linguisten besondere Merkmale bspw. bei der Sprache der Männer oder der Älteren
aufweisen können.[13] Da im Zusammenhang
mit dem Argot z.B. oft eine "Jugendsprache" erwähnt wird – wir werden
im Abschnitt 3 diese Argumentation weiterentwickeln -, scheint die Einführung
des Begriffs "Biolekt" hier angebracht zu sein: es bezieht sich auf
die biologische, also körperlich erfahrene Dimension der SprecherInnen.
Um diese Architektur der Sprache graphisch zu verbildlichen,
wurde die Abbildung 3 entwickelt: Die Sprache wird dabei als der Inhalt einer
Pyramide dargestellt. Die verschiedenen Pole dieser Pyramide verhalten sich
relativ zueinander, ihre Spitze wird durch die neutrale "Norm"[14]
gebildet. In diesem dreidimensionalen Gebilde ist es nun möglich, den Argot
schematisch zu positionieren: Es entsteht ein elastisches Ovoid, welches im
Spannungsfeld der verschiedenen Variablen steht. Wir können nun die Beziehung
des Argot zu diesen Varietäten einzeln besprechen, ohne die Interpolarität des
Ganzen außer Acht zu lassen.
Der Begriff "Biolekt" wurde eingangs angedeutet: Er bezieht sich auf die körperliche Dimension der SprecherInnen. Wie diese Einführung Sinn macht, zeigt uns vielleicht bereits die Geschichte des Argot, als Sprache der Buckeligen, Einäugigen, Aussätzigen und anderen Missgebildeten der "Cour des Miracles", wie Hugo sie in seinen Romanen darstellte. Um Argot zu sprechen, so schien es, brauchte man ein hässliches Gesicht, "la tête de l'emploi" – die dazugehörige Facies. Ein umfangreicher lexikalischer Bereich des Argot bezieht sich übrigens auf den Körper, was zu der Annahme führt, dass in der Standardsprache diese Thematik oft umgangen wird.
Dazu gehört natürlich, wie oben angeschnitten, der Bereich unter der Gürtellinie. Es liegen meins Wissens keine wissenschaftlichen Untersuchungen über einen geschlechterdifferenzierten Gebrauch von Argot vor. Eine lexikalische Betrachtung zeigt jedoch, dass frauenbezogene Wörter oft pejorativ besetzt sind, sowie das machistische Gehabe eine prominente Stelle im Vokabular, also im Argot einnimmt (siehe auch Exkurs 4)[17]. Bedauerlicherweise greifen weder Schmitt noch Calvet dieses Problem auf. Eine tiefgreifende Analyse hierüber scheint also wünschenswert und vielversprechend.
Die Nähe vom Argot zu dem "parler jeune"
scheint dagegen besser beleuchtet zu sein. Doch auch hier herrscht etwas
Konfusion: In einem gleichnamigen Artikel stellte 1986 Albert Barrera-Vidal[18]
eine "neue Sprache" vor: Die junge Redensart. Bei einer näheren
Lektüre entpuppte sich jedoch dieser "parler jeune" als "français
branché" heraus (B.-Vidal: 105-106) und die Quelle seines Wortschatzes
als einer Mischung aus "kodiertem Französisch" (also Argot) und Werbesprüchen
(B.-Vidal: 106-107). Weitere Verwirrungen erwarten die LeserInnen: Diese
Sprache sei dabei in das "français populaire" einzufließen,
sei jedoch in ständiger Erneuerung begriffen (B.-Vidal: 108). So viel
Ähnlichkeit mit dem hier bis jetzt Beschriebenen führt zu folgender Frage: Was
ist also diese "neue Sprache", wenn nicht der Argot als Biolekt?
B.-Vidal fügt als Ausblick zu seiner Ausführung bedeutenswerter Weise hinzu: "La jeunesse n'est plus un phénomène
de génération, c'est un état d'âme, mieux: une valeur-symbole" (B.-Vidal:
120). …Exit biolectus jovensis?
Lange galt der Argot diatopisch als eine relativ homogene
Sprachvariante. Paris sei dabei sein Schmelztiegel gewesen. Sylvie Mougin
versucht allerdings in einer neu angelegten Studie dies zu wiederlegen.[19]
Ihre Argumention ist in zwei Punkte angelegt: Forschungen sollen zum Einen die
bisher unbekannte Existenz von regionalen Argots wie in der Bretagne oder in
Lothringen, belegen; zum Anderen versucht Mougin zu beweisen, dass Linguisten
bisher ein erdachtes linguistisches Konstrukt geschaffen haben, welches als
Ausdruck einer homogenen und atopischen Gegen-Kultur hochstilisiert wurde
(Mougin: o.S.). Mougins künftige Publikation darf mit Spannung erwartet werden
und wird sicherlich in Fachkreisen neue Debatten entfachen.
In der "Schusslinie" Mougins liegen ebenfalls die
zahlreichen Studien über das "français des cités" (Mougin,
o.S.). Jean Pruvost definierte den Begriff "Urbalekt", um dieses
Phänomen besser einzuordnen: Einen Neologism zwischen Dialekt und Soziolekt, wo
die Stadt als kreativer linguistischer Raum fungiert (Pruvost: o.S)[20].
Pruvost bedient sich des Vergleiches von Stadt- und Landratte
(Urbalekt/Dialekt) um seine Argumentation zu verbildlichen und kann sich über
argotische Ausdrücke wie dem bekannten "laisse béton!" (etwa:
"Vergiß'ess") oder "un plan béton" (etwa: "ein
Superplan, Egon") freuen um die Existenz eines typisch urban-geprägten
Vokabulars zu "betonieren". Als Kernsatz seiner Forschung kann dieses Zitat gelten: "La ville est
un laboratoire lexical aux multiples sociolectes, une colossale éprouvette où
bouillonent les mots de demain." Doch mehr Unterschiede zum Argot
sind in seinem umfangreichen Artikel leider nicht zu erkennen und Pruvost
beschreibt eigentlich den Argot aus dem "Mystères de Paris"
von Sue, sowie vor allem eine "kodierte Jugendsprache", welche primär
identitäre Ziele verfolgen würde, um seine Ideen Gestalt zu geben (Pruvost:
o.S. Kap. 3).
Zusammenfassend
muss hier auf die Gefahr einer all zu schnellen Gleichung "Argot=populaire=branché=jeune=voyou=banlieue"
hingewiesen werden. Vielmehr verhalten sich diese Prädikate relativ zueinander.
Gerade dies soll auch die Abbildung 2 verbildlichen. Diese Sphären überlappen
sich jedoch z.T. erheblich und der Argot kann entweder als Bereich dieser
Überlappung oder als deren Gesamtbereich definiert werden.
Bei solch einer breiten Basis scheint die Zukunft des Argots gesichert zu sein - könnte man meinen. Doch 1991 stellte Pierre Merle kritisch fest: Der Argot "hätte den Blues", sei also schwermütig, ja sei dabei Geruchs- neutral und Geschmack- los zu werden (Merle 1991: 12). Braucht denn niemand mehr einen Argot?
Merle präzisiert seine
Bedenken: Der Argot sei immer weniger von der "Straße" generiert,
sondern zunehmend wie ein Wegwerfprodukt konsumiert. Seine Produktion sei
nunmehr von der Medienwelt aus marktwirtschaftlichen Absichten gesteuert. Die Bezeichnung
"Argot Fastfood" sei nicht nur damit begründet, so Merle, dass diese
Sprache in der Umgebung solcher Imbisse zu hören sei, diese Sprache sei
zugleich "standardisiert, lauwarm, pappig und aus einer dunklen Mischung
verschiedener Zutaten bestehend " (Merle 1991: 8). In einem in vieler
Hinsicht lesenswerten Buch[21]
erweiterte Merle 1999 diese Betrachtungsweise auf ein "prêt-à-parler",
Nachfolger eines "prêt-à-penser", welcher sich gesellschaftsübergreifend
seit den 1980er Jahren propagieren würde. Kennzeichnend sei dabei die neue
Rolle der RTPW- Medien (Radio, TV, Presse und Werbewelt), sowie dem Aufkommen
der "political correctness", die einen normativen und somit
destruktiven Einfluss auf den Argot ausüben würden. Der "prêt-à-parler"
unterscheide sich zudem vom "français branché", indem er zu
einem postmodernen alternativlosen sprachlichen Rückgriff avanciere (Merle
1999: 54-76). Bereits 1991 begab sich Merle auf die Suche nach dem heutigen Argot
in den "traditionellen Biotopen" und lamentierte: Sogar die Unterwelt
sei nicht mehr was sie früher mal war! (Merle 1991: 35). Im Laufe seiner
Ausführung wissen jedoch die LeserInnen nicht mehr, ob der Argot oder Merle
selbst einem "Blues-Anfall" erliegt: überall lauern feindliche Übergriffe
aus den USA, so wie bei den Taggern, Rappern und Dealern.
"Der Argot ist nicht mehr Orgasmusfähig" ist abschließend aus seinem
Schlusswort zu entnehmen (Merle 1991: 108). 1999 kommt Merle in seiner
Abhandlung über den "Argot fin-de-siècle", dessen Titel schon
eine Endzeitstimmung verkündet, auf diese Feststellung zurück (Merle 1999:
161-175). In der Interrogativform relativiert er diesmal seine Aussage, um
schließlich zu der Erkenntnis zu kommen: Nein der Argot sei [noch] nicht tot,
jede Epoche bekomme nur den Argot, den sie verdient (Merle 1999: 163). Gegen
Ende des Kapitels bekommt Merle, wie sein Argot, doch wieder Farbe: Vielleicht
entstünde ja in den "banlieues" ein neuer Argot, welcher
[jedoch] noch nicht Zeit gehabt hätte, sich voll zu entfalten und sicherlich
stärker auf fremde [afrikanische und arabische] Kulturen zurückgreifen würde
(Merle 1999: 175). Gegen seinen Kollegen Goudailler[22],
und übereinstimmend mit seinen sozialanalytischen Ansichten (cf. S. 8), kann
oder will er jedoch dieses Phänomen nicht als "linguistischen Ausdruck
einer Revolte und/ oder eines tiefen sozialen Bruches" interpretieren
(Merle 1999: 172). Dies anzuerkennen, hätte natürlich eine Schwächung seiner
These des "prêt-à-parler" zu Folge, wo "jeder wie jeder
spricht" und 95% der Franzosen in einem Gleichklang passiv vor ihren
Fernsehgeräten sitzen würden (Merle: 1999: 8).
Auf der Suche nach einer Definition der Sprachvarietät Argot erwies sich zunächst ein geschichtlicher Rückgriff als hilfsreich: Von der Sprache der Unterwelt bis zur Sprache der Randgruppen wirkte er bereichernd auf die "Umgangsprache". Zugleich desintegrierte er sich aufgrund verschiedener Faktoren. Allgemein ließe sich sagen, dass der Argot sich durch Kreativität und Schnelllebigkeit auszeichnete. Seine Funktionen waren kryptischer und ludischer Natur, vor allem aber sozial-identitärer Ordnung, einem olfaktorischen Signal ähnlich. Der Argot konnte als Soziolekt, aber auch als Technolekt, Urbalekt und Biolekt eingeordnet werden. Seine enge Verwandtschaft mit anderen Varietäten wie dem "français populaire, jeune, branché" oder der "banlieues", wurde dabei beleuchtet.
Neuerliche
Entwicklungen ließen zunächst ein absehbares Ende des Argot befürchten. Die
durch die neoliberale Marktwirtschaft versuchsachten sozialen Spaltungen und
die Gettoisierung der Banlieues werden jedoch linguistischen Ausdrücke
finden, welche die Tradition des Argot sicherlich weiter leben lassen werden.
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[1] "Si la langue qu'a parlé une nation
ou une province est digne d'intérêt, il est une chose plus digne encore
d'attention et d'étude, c'est la langue qu'a parlé une misère", mahnte
sogar Victor Hugo. Zitiert in: Calvet, J.-L., L'argot, Paris 1994, S.
96.
[2] Cf. u.a. Merle, Pierre, Le blues de
l'argot, Paris 1991.
[3] Beide Geschlechtsformen scheinen allgemein gültig zu sein; eine nicht alltägliche Tatsache, die bereits zum Nachdenken Anlass geben sollte. In dieser Arbeit wird, wie im Französischen, die männliche Bezeichnung verwendet.
[4] Ähnliche Hinweise lassen sich in zahlreichen Überblickswerken über den Argot finden. Der Einfachheit halber beziehen sich viele der nachfolgenden Verweise auf: Calvet, Jean, L'argot, a.a.O., eine handliche, gut informierte und aktuelle Abhandlung über das Thema.
[5] Originalillustration aus einer Ballade von Villon. Quelle: Association @lyon, online verfügbar auf: http://www.alyon.org/litterature/argot_voleurs/ (Zugriff: 20.05.01)
[6] Nach Schmitt sollen die mafiösen Strukturen der "Argotiers" von Chéreau jedoch z.T. erfunden worden sein. (Schmitt: 290)
[7] Über dessen Rolle in der Geschichte siehe: Halbwachs, M., Das kollektive Gedächtnis, Ff/M. 1991.
[8] Die neuerliche Debatte um das Verbot für private Bürger hochentwickelte Verschlüsselungssysteme z.B. für Emails zu benutzen, zeigt welches Machtinteresse die Kryptographie in sich birgt.
[9] Quelle: Guiguet, Dominique und Dominique
Fournier, Les inoubliables dialogues de Michel Audiard, online verfügbar
auf: http://users.info.unicaen.fr/~giguet/audiard , (Zugriff: 06.2001.)
[10] Siehe dafür u.a. die umfangreiche Bibliographie in: Schmitt, a.a.O., S. 303-307.
[11] Quelle: Datenbank "Fiches de cinéma". Online verfügbar über http://www2.hu-berlin.de/francopolis/films/
[12] Dazu u.a: Scott, Joan W.,
"Gender, a useful category of historical analysis", in: Feminism
and History, J. Scott (Hg.), Oxford 1997; Lepenies, Anette, Alt &
Jung, Dresden 1997.
[13] Dazu mehrere Überblicksdarstellungen in: Lexikon der romanistischen Linguistik, a.a.O. Calvet spricht seinerseits von Chronolekt, um altersbedingte Variationen zu bezeichnen. (Calvet: 114)
[14] Bourdieu nennt es " forme
légitime ". Cf.: Bourdieu, Pierre, Ce que parler veut dire,
Paris 1982.
[15] In diesem Zusammenhang siehe u.a.: Bourdieu, a.a.O.
[16] Zitiertes Werk: Esnault, Gaston, Dictionnaire historique des argots français, Paris: Larousse, 1965. Heute verursacht das Wort "voyou" (Flegel) oft ein müdes Lächeln: Die diachronischen Unterschiede der semantischen Wertungen Gut/ Böse sind die Ursache dafür.
[17] Quelle: Paroles de Brassens, online verfügbar auf http://www.brassens.sud.fr/html/paroles.htm (Zugriff 15.08.01). Dagegen ist ein Argot der Homosexuellen bereits anerkannt. Das neuerliche Tod von C. Trenet zwang sogar zu einer neuen Lektüre seiner Lieder (Quelle: R.F.I., Au fil des mots, Sendung vom 21.02.01. Persönliche Aufzeichnung.)
[18] Barrera-Vidal, Albert, "Le parler jeune, un néo-français?", in: Barrera-Vidal A., H. Kleindam und M. Rampach (Hg.), Französische Sprachlehre und 'bon usage', München: Hueber, 1986, S.103-121.
[19] Mougin, Sylvie, "L’homogénéité de l’argot : un mythe qui a la vie dure", Vortrag am 10.11.2000 auf der Tagung France, pays de contacts de langues in Tours. Online verfügbar auf: http://www.univ-tours.fr/franvar/jenove.htm (Zugriff: 11.08.01)
[20] Pruvost, Jean, "Les urbalectes:
approche définitoire", in: Ecriture des villes, o.J., online verfügbar
auf: http://imac.u-paris.fr/fuel/lettresmod/urbalectes.html
(Zugriff: 29.05.01)
[21] Merle, Pierre, Le prêt-à-parler, Paris : Plon, 1999. Die bis jetzt umfangreichste und tiefgreifendste Publikation Merles mit vielen anregenden Beobachtungen über die neuen sprachlichen Entwicklungen der letzten Jahre. "Einfach" empfehlenswert, um die neue Sprechweise zu übernehmen.
[22] Goudailler, Jean-Pierre, Comment tu tchatches!, Paris 1997. Goudailler ist Professor am CARGO.
[23] Von "Tutti Bianchi" bis "Malbouffe" haben auch die GlobalisierungsgegnerInnen "ihr" Vokabular erfunden. Im Internetbereich grassieren kryptische Ausdrücke, sogar ein Verlan sei gegen Napsters Einschränkungspolitik angewandt worden (Quelle: "Usiquem", in: Largeur.com, 06.03.2001, online verfügbar auf: http://www.largeur.com/expArt.asp?artID=664 [Zugriff 16.08.01])
[24] Perrier, Jean-Claude, Le Rap français, Paris: La table ronde,
1999.
[25] Quelle: Perrier, a.a.O., S. 128-130.
[26] Auzanneau, Michelle und Margaret Bento, "Le rap en France et ailleurs : intérêt d’une démarche pluridisciplinaire". Vortrag am 10.11.2000 auf der Tagung France, pays de contacts de langues in Tours. Online verfügbar auf: http://www.univ-tours.fr/franvar/jenove.htm (Zugriff: 11.08.01) Beide Forscherinnen sind an der Universität Paris V (CARGO/CAFRES) tätig.
[27] Hervorhebung meinerseits. Cf. Jablonka, Frank, "Sociolinguistique suburbaine: quelle langue a droit de cité en France ?" a.a.O. ; soweit Sie diese Seite noch nicht abgerufen haben und was Sie wirklich tun sollten, online auf: http://www.univ-tours.fr/franvar/jenove.htm (Zugriff: 11.08.01).