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Handlungs­empfehlungen

Handlungsempfehlungen

Eine Grundeinsicht des Projektes bestand darin, dass die Potenziale des digitalen Publizierens in den Geisteswissenschaften nur dann sinnvoll ausgeschöpft werden, wenn ein konkret fachwissenschaftlich begründeter Bedarf an spezifischen funktionellen Erweiterungen besteht. Veröffentlichungsformen mit möglichst vielen technisch realisierbaren Zusatzfunktionen sind daher nicht per se sinnvoll. Leitend sollte zunächst die Ausgangsfrage sein, an welchen Zwecken der unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Publikationen sich potenzielle erweiterte Publikationsformen und -formate orientieren können. Im Folgenden werden die abgeleiteten Handlungsempfehlungen in Bezug auf das digitale Publizieren in den Geisteswissenschaften überblicksartig vorgestellt und auf vier konkrete Akteursgruppen bezogen:

Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler

1) Digitales Publizieren: Erweiterte Publikationen und auch anderen Formen des digitalen Publizierens entfernen sich potentiell zunehmend vom Printparadigma hin zu einem Digitalparadigma. Dies erfordert von allen Beteiligten ein grundsätzliches Verständnis von vernetzter und dynamischer Medialität, stellt diese doch andere Anforderungen an die Sammlung, Organisation und Vermittlung. Es wird eine verstärkte reflexive Auseinandersetzung mit solchen Medienformen angeraten. Die Orientierung an aus der Printkultur stammenden Vorstellungen und insbesondere auch Metaphern wie “E-Book” sollte auf ihre Passgenauigkeit hinterfragt bzw. gegebenenfalls überwunden werden.

2) Fachgemeinschaften: Für Fachgemeinschaften lassen sich drei Handlungsfelder identifizieren: ein technisch-experimentelles, eine gegenstandsspezifisches und ein wissenschaftssoziologisches. Digitale Wissenschaft ist strukturgemäß datenbasiert und benötigt entsprechende technische Grundlagen (Infrastruktur, Kompetenz). Hier müssen die fachgemeinschaftliche Selbstorganisation sowie insbesondere die Lehre adäquate Entwicklungsansprüche und -schwerpunkte explizieren bzw. entwickeln. Weiterhin wird es unter dem Einfluss der Digital Humanities notwendig, Methodologien und Forschungsgegenstände den digitalen Forschungs- und Publikationsbedingungen gemäß zu reflektieren, u.a. vor dem Hintergrund des möglichen Verschmelzens von Rezeption, Forschungsarbeit und Publikation in einer Struktur. Schließlich muss grundsätzlich eine Balance zwischen Offenheit bzw. Innovationswillen und Traditionsbewusstsein auch im Dialog mit weiteren Akteuren wie bspw. der Wissenschaftspolitik ausgehandelt werden. Entscheidend ist eine bewusste, idealerweise systematisierte und übergreifend diskursive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Grenzen und Folgen digitaler Publikationsmöglichkeiten in Rückbindung an konkret feststellbare Bedarfe der Publizierenden.

3) Digital Humanities: Die digitalen Geisteswissenschaften befassen sich besonders vielschichtig und aktiv mit dem Einsatz digitaler Technologien für wissenschaftliches Forschen und Publizieren sowie den damit zusammenhängenden methodologischen Verschiebungen. Sie sind daher Ansprechpartner für Innovationen sowohl für das digitale Publizieren wie auch digitale Methodologien in den Geisteswissenschaften. Daher wird eine möglichst verstetigte Zusammenarbeit bzw. ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch empfohlen.

Infrastruktureinrichtungen

4) Digitale Editionen: Für Bibliotheken erscheint aktuell die verstärkte Auseinandersetzung mit Digitalen Editionen sinnvoll, da dieses Format der bisher am weitesten entwickelte Anwendungsfall erweiterter Publikationsformen in den Geisteswissenschaften ist. Die Anforderungen an die Bibliotheken finden sich vorwiegend im Bereich der Standardisierung von Metadaten, der Langzeitarchivierung und -verfügbarmachung komplexer digitaler Publikationen sowie der Forschungsdatenpublikation. Bibliotheken sollten daher aktiv Kooperationen suchen und sich als Partner der Forschung verstehen.

5) Enhanced Publications: Es sollten für Prozesspublikationen adäquate Darstellungsformen insbesondere hinsichtlich der Usability und der Komplexitätsreduzierung entwickelt werden. Hier sind Kompetenzen an der Schnittstelle von Informationsdesign, Webdesign und Publikationsgestaltung auf- bzw. auszubauen und die entsprechenden Bedarfe deutlicher zu berücksichtigen.

6) Standardisierung: Die wissenschaftlichen Infrastruktureinrichtungen mit ihrer konkreten Kompetenz bei der Gestaltung der technischen Basis digitaler Forschung werden als Entwicklungs- und Gestaltungspartner besonders auch bei der Etablierung verbindlicher Übertragungs- und Vernetzungsstandards wahrgenommen und sollten diese Rolle offen und aktiv übernehmen sowie gegebenenfalls ausbauen.

7) Bibliotheken: Der Einfluss der digitalen Transformation führt zur Ausweitung der Rolle der Bibliotheken vom Zugangsvermittler zum Ort bzw. sogar Koordinator und Kurator sozialer Interaktionen. In Wechselwirkung mit den Digital Humanities können sie sich als “Labore der Geisteswissenschaften” positionieren. Dies erfordert einen Ausbau entsprechender Kompetenzen, Ressourcen sowie Veränderungen des Berufsbilds. Bibliotheken und Bibliothekswissenschaft sollten entsprechende Programme auflegen und systematisch zeitgemäße Dienstleistungen sowie ein erneuertes Selbstverständnis entwickeln.

8) Publikationsdienstleistungen: Da Infrastrukturentwicklungen mit hohen Investitionen verbunden sind, empfiehlt es sich, diese so bedarfsnah wie möglich umzusetzen. Eine enge Kooperation mit Zielgruppenvertretern sowie laufende Bedarfsanalysen können dieses Ziel sichern. Insbesondere verlagsähnliche Aktivitäten sollten nur in enger Abstimmung mit den Fachgemeinschaften übernommen werden. Bei der Infrastrukturentwicklung ist zudem zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Publikationskulturen unterschiedliche Lösungen brauchen und differenziert adressiert werden müssen.

9) Koordinationsstelle: Für Publikationsdienstleistungen sind Vernetzungen zwischen jeweils spezialisierten Infrastruktureinrichtungen besser als lokale Komplettlösungen. Dafür wäre eine Koordinationsstruktur zu erarbeiten. Diese könnte prinzipiell über die wissenschaftlichen Bibliotheken organisiert sein.

10) Open Access: Anreize für das Open-Access-Publizieren sollten durch reibungsfrei funktionierende technische Rahmenbedingungen gesetzt werden. Repositorien sind nur dann sinnvoll, wenn sie von den Forschenden als ein für sie passendes Dienstleistungsangebot gestaltet sind. Es erscheint sinnvoll, sich an vorhandenen Best-Practice-Beispielen hinsichtlich der Usability, der Umsetzung von standardisierten Prozessen etc. auch an anderen Bereichen zu orientieren.

Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsförderinstitutionen

11) Anreizsysteme: Für die Wissenschaftspolitik genauso wie für die Wissenschaftsförderung ist es notwendig, zu entscheiden, inwieweit bestimmte Publikationsszenarien als wünschenswert gelten. Dies sollte im Dialog mit anderen Akteuren, insbesondere den Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler geschehen. Ein sichtbares Beispiel für einen solchen Transformationsschritt findet sich im Open-Access-Publizieren. Während die Wissenschaftspolitik sich aktiv um einen Interessenausgleich und die Gestaltung entsprechender Rahmenbedingungen bemüht, besteht die Aufgabe der Wissenschaftsförderung darin, Anreize zu setzen und Spielräume zu eröffnen, die auch ein ergebnisoffenes Experimentieren zum Sammeln von Erfahrungen beinhalten. Dazu zählt auch die Kommunikation und Dokumentation von weniger bis nicht erfolgreichen Forschungsresultaten sowie der bewusste Umgang mit Fehlern. Als Anreiz ist bei Entwicklungen neben der funktionalen Ausrichtung eine stärkere Berücksichtigung auch weicher Nutzungsmotivationen (Gestaltung) empfehlenswert.

Verlage und Publikationsdienstleister

12) Geschäfts- und Verwertungsmodelle: Es zeichnet sich ab, dass sich weitgehend an geschlossenen Publikationseinheiten orientierende Produktions- und Vertriebsmodelle nicht auf erweiterte und Netzparadigmen folgende Publikationsformen übertragen lassen. Sie werden von den Befragten fast durchgängig als dysfunktional angesehen Je höher der Grad a) der Vernetzung und b) der Offenheit eines Publikationsobjektes, desto weniger lässt es sich mit dem Verständnis der abgeschlossenen Publikations- bzw. Medieneinheit begreifen. Dies hat erhebliche Implikationen für die Publikationsmärkte, also hier konkret die Verlage und die Bibliotheken. Anstelle von zeitstabilen Einzelobjekten müssen Workflows zum Management bzw. zur Koordination Nutzungsaktivitäten und -interaktionen entwickelt werden. Verlage stehen daher vor einer Neubewertung und Ausrichtung ihrer Rolle. Dafür können sie bestimmte Aspekte wie das Lektorat oder das Branding zu Dienstleistungsportfolios entwickeln. Welche Geschäftsmodelle in diesem Zusammenhang tatsächlich nachhaltig sein können, ist derzeit kaum absehbar.