WM.htm Netzer, 53, spielte als Profi bei Borussia Mönchengladbach, Real Madrid, GC Zürich und 37mal in der deutschen Nationalelf, die er 1972 zum Europameistertitel führte. Der Geschäftsführer des Schweizer Sportvermarkters CWL kommentierte für die ARD aus Frankreich.


Journalist : Herr Netzer, der Deutsche, der bei der WM am heftigsten gefeiert wird, ist ein TV-Kommentator. Woran liegt das?


***

Netzer : Das ist schrecklich. Das ist für mich blamabel, daß sie uns ältere Herren immer noch als leuchtende Vorbilder aus der Vergangenheit holen. Natürlich freuen mich die Lobeshymnen, diese Portion Eitelkeit habe ich mir bewahrt. Aber es wäre mir unendlich viel lieber, wenn die Mannschaft besser Fußball gespielt hätte. Eine Mannschaft funktioniert für mich nach vier Kriterien. Erstens: Technik, und das heißt, daß man mit dem Ball keine Mühe haben darf - das ist bei einigen unserer Spieler nicht erfüllt. Zweitens: Taktik, da sind wir nicht auf dem neuesten Stand. Wir spielen das, was wir können, was unserer Mentalität entspricht. Drittens Disziplin und viertens Effizienz - von beidem haben wir reichlich. Eine perfekte Mannschaft muß mehr als zwei dieser Kriterien erfüllen, sonst erleidet man das Schicksal der Afrikaner - die können so viel Zirkus machen, wie sie wollen, sie fliegen doch immer wieder früh nach Hause, weil ihnen die Ordnung fehlt Egal, wie das Turnier endet: Spielerisch und taktisch stehen wir deutlich hinter Brasilien, Frankreich, Holland und Italien. Wir siegen nie souverän, wir haben das Spiel nicht in der Hand und gewinnen mit Glück und äußerster Kraft, es ist ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.


***

In den acht Jahren seit dem letzten Titelgewinn ist die Fußballkultur, die wir einmal hatten verlorengegangen. Abwehrspieler wie Christian Wörns wird es in Deutschland immer geben, aber uns sind die Genies ausgegangen, die jede Mannschaft befruchten. Viele Menschen sind allzu leicht zufrieden mit sich, weil sie für das, was sie tun, ausreichend Geld kriegen. Und viele unserer besten Profis können keine Mannschaft mehr führen. Ich glaube, daß Zeitungsschlagzeilen oder Fernsehsendungen die Profis verweichlichen und ich fürchte, daß wir sehr bald die Quittung dafür kriegen. Einige Spieler wollen nicht mehr über ihre Leistung diskutieren, und darum erreicht man einen wie Andreas Möller ja gar nicht: Der ist kritikunfähig und lebt in seiner eigenen Welt, an die er niemanden anklopfen läßt. Für den war es ja offenbar eine Zumutung, gegen Mexiko eingewechselt zu werden, als alle ihn gebraucht haben wie nie zuvor - es war ja so heiß, es war alles so schwer, und die anderen lagen auch noch in Führung. Als er im Interview gesagt hat, er sei froh, beim Sieg mitgeholfen zu haben, hat es mich schier vom Stuhl gehauen. Möller denkt vermutlich heute noch, daß er gut gespielt hat.


***

Als Berti Vogts den Kader für die WM zusammenstellte, wurde er nur in einem Punkt kritisiert: Er hätte den Münchner Mehmet Scholl als Ersatzmann für Möller mitnehmen sollen. Vogts ist doch nicht dumm. Selbstverständlich hätte er gerne einen Spieler dabei, der die Lücke schließt. Aber von einem braven Jungen wie Scholl kann er das nicht erwarten. Scholl ist nicht seiner Leistungen in der Bundesliga oder in der Nationalelf wegen ein Star, sondern durch das Image, das ihm Jugendgazetten wie "Bravo" verliehen haben. Das ist das, was ich so angreife: daß man heute für Dinge bekannt wird, die nichts mit dem Fußball zu tun haben.So ist das in den neunziger Jahren: David Beckham ist mit einem Spice-Girl liiert und spielt für England.

© 1998, Francopolis. Tous droits réservés.