"Ein pubertäres Land"
Der australische Sportkritiker Barry Spurr über den Starkult um den Schwimmer Ian
Thorpe, die Folgen der Spiele für die Nation und falsche Vorbilder.
journalist:
Den Australiern ist ein neuer Held erschienen: Ian Thorpe. Können Sie die Begeisterung
über seine Goldmedaillen nachvollziehen?
Barry Spurr:
Thorpe ist eine reizende Person. Er steht für Fleiß, Talent, für physische Stärke.
Das ist in Ordnung. Wir brauchen aber nicht nur sportliche, sondern verschiedene
Arten von Vorbildern. Unser Land hat große Probleme im Bereich der Bildung, und die
Selbstmordrate bei männlichen Jugendlichen erreicht epidemische Ausmaße. Da sind wir Spitzenreiter
in der Welt. Diese sozialen Probleme kann Thorpe nicht lösen. Wissen Sie, wir sind
ein sehr skeptisches, eher zynisches Volk. Nicht sehr traditionsbewusst, ohne jeden Sinn für Spiritualität. Und auf einmal reden die Fernsehreporter so salbungsvoll
daher: "Wird Ian Thorpe wieder Gold nach Hause bringen?" Das fing ja schon an, als
diese Fackel durchs Land getragen wurde.
Wir sind das wahrscheinlich unreligiöseste Volk auf der Erde, und dann wird diese
Fackel angebetet, als sei sie ein Fragment des Biblischen Kreuzes. Alte Frauen wurden
interviewt, die sagten: " Ich habe die Flamme gesehen, jetzt kann ich glücklich sterben." Was repräsentiert denn diese Flamme -- das IOC etwa? Seit den ersten Triumphen unserer
Schwimm-Heroen ist die Nachfrage nach der australischen Flagge gewaltig. Seltsam,
nicht? Es ist dieselbe Flagge mit dem Union Jack, die viele kürzlich noch abgeschafft
sehen und durch ein Symbol mit einem Känguru ersetzt haben wollten. Das ist ein sehr
oberflächlicher, unreifer Patriotismus. Weil er einzig auf sportlichen Leistungen
basiert. Von Kindesbeinen an bekommen wir zu hören, wir seien eine Sportnation, erfolgreiche Sportler seien lebende Legenden. Ich sage Ihnen: Wir sind ein pubertäres Land.
Die meisten hier glauben, der bedeutendste Australier aller Zeiten sei Don Bradman,
der Kricketspieler.
Der bedeutendste Australier ist Natürlich Howard Florey, der das Penicillin entwickelt
und damit vielen Millionen Menschen das Leben gerettet hat. Aber die meisten Australier
kennen den nicht mal. Sport dagegen, wird uns eingetrichtert, sei die wichtigste
Sache der Welt. Wenn du nicht dafür bist, bist du kein wahrer Australier. Schauen
Sie sich diesen Werbespot an, in dem ein Läufer hinfällt und ein anderer ihm auf
die Füße hilft. Zum Schluss kommt der Spruch: "Feiert die Menschlichkeit!" Du meine
Güte, Menschlichkeit! So toll das ist, wenn ein Athlet dem Konkurrenten hilft -- ist Menschlichkeit
nicht etwas Größeres?
© 2000, Francopolis. Tous droits réservés.