Staatsbesuch des Bundespräsidenten in Argentinien und Mexiko vom 1. bis 11. März 1999
Bundespräsident Roman Herzog stattete vom 1. bis 5. März 1999 der Argentinischen Republik
und vom 5. bis 11. März 1999 den Vereinigten Mexikanisehen Staaten einen Staatsbesuch
ab.
Staatsbesuch in der Argentinischen Republik
Ansprache vor argentinischen und deutschen Wirtschaftsvertretern
Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog bei einem Mittagessen mit argentinischen
und deutschen Wirtschaftsvertretern am 2. März 1999 in Buenos Aires:
Herr Vorsitzender,
meine Herren Präsidenten,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
es ist mir eine besondere Freude, heute zu Ihnen zu sprechen. Daß ich das an einem
für die Geschichte und Gegenwart Argentiniens so bedeutsamen Platz wie der Börse
tun kann, läßt sich auch als Symbol verstehen. Es zeigt einmal mehr, daß Unternehmer,
Finanzexperten und Spitzenmanager für die Entwicklung eines Landes, aber eben auch für die
Beziehungen zwischen den Ländern eine erhebliche Verantwortung tragen. Im Zeitalter
der GlobaIisierung darf der Dialog zwischen Politik und Wirtschaft nicht an Staatsgrenzen enden.
Zwischen deutschen und argentinischen Wirtschaftsführern und Politikern sollte dieser
Dialog eigentlich besonders leicht fallen, denn zwischen unseren Ländern stimmen
die Voraussetzungen dafür: Hier gibt es bereits eine lange Tradition kultureller
Verbundenheit. Mehr als zehn Millionen Europäer sind zwischen 1860 und 1970 nach Argentinien
ausgewandert, und unter ihnen waren viele Deutsche. Und ich habe
mich sehr gefreut, in meinem ersten Gespräch mit Präsident Menem zu hören, welche
Bedeutung die deutschstämmigen Einwanderer haben. Die meisten ließen die Verbindung
mit ihrer alten Heimat auch von der Neuen Welt aus nicht abreißen. Ein Ergebnis davon
ist das europäische Flair, das ich in Buenos Aires bereits bewundern konnte und das sich
aufs Vortrefflichste mit der Schönheit und Vielfalt Lateinamerikas
zu einem einzigartigen Lebensgefühl zu verbinden scheint. Nicht alle Einwanderer kamen
freiwillig. Die ersten von ihnen hatten Hunger und Elend aus ihrer Heimat vertrieben,
und während der Zeit der Nazi-Diktatur fanden zahlreiche Verfolgte Deutsche und
Menschen anderer Nationalität in Argentinien Schutz und Heimat. Zu Zeiten, in denen
Europa von Krieg und Terror beherrscht war, war die Aufnahmebereitschaft Argentiniens
vorbildlich. Sie verdient noch heute höchste Bewunderung. Und sie verdient unseren
Dank.
Neben diesen geschichtlichen Erfahrungen, neben den ausgezeichneten Wirtschaftsbeziehungen
und neben der großen Zahl deutscher Einwanderer sind es heute auch die Begegnungen
im Sport und in der Kultur, die unsere Länder miteinander in Kontakt bringen und
uns bereichern: Wer erinnert sich nicht an das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft
1986 mit Maradona und Rummenigge oder an die faszinierenden Duelle zwischen Gabriela
Sabatini und Steffi Graf? Was bringt die geistige Nähe zwischen unseren Ländern besser
zum Ausdruck, als die Werke des großen argentinischen Schriftstellers Borges, der
europäische Philosophie und lateinamerikanische Phantasie meisterhaft zu verbinden
wußte? Und wo in Europa wird die Verbindung von europäischer und südamerikanischer
Musiktradition mehr geschätzt als in der deutschen Hauptstadt Berlin, die darüber hinaus mit
dem Dirigenten Daniel Barenboim einen Argentinier zu einem ihrer kulturellen Glanzlichter
erkoren hat?
Diese starken und vielfältigen Bindungen zwischen unseren Ländern erleichtern die
Verständigung. Gerade heute kommt es auf solche Verständigung an. Denn unverkennbar
hat die Globalisierung der Wirtschaft bereits zu einem faktischen Autonomieverlust
der Staaten geführt. Der Lenkungsspielraum der einzelnen Regierungen wird immer stärker eingeengt,
und die Steuerung der Entwicklung erfolgt zunehmend außerhalb der nationalen politischen
Systeme. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben wir deswegen gar keine andere Wahl, als den Weg der intensiven Kommunikation und Kooperation zu beschreiten und diesen
Weg fortzusetzen, mit Partnern, die wir kennen und schätzen.
Die Verantwortlichen aller Länder werden heute mit neuen Fragen konfrontiert, auf
die Antworten gefunden werden müssen. Fünf dieser Fragen möchte ich hier nur kurz
nennen. Sie lauten:
Erstens gibt es an der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch Entscheidungskriterien
jenseits von Angebot und Nachfrage?
Zweitens gibt es neben der unsichtbaren Hand des Marktes auch noch ein sichtbares
Herz von Politik, Kultur und Gesellschaft?
Drittens können im globalen Wettlauf wertgebundene politische Entscheidungen überhaupt
noch wirksam durchgesetzt werden?
Viertens definiert der weltweite Wettbewerb um Standortbedingungen allein, was politisch
akzeptabel ist?
Fünftens läßt sich der Anpassungsdruck, den die Globalisierung auf die Politik ausübt,
auch konstruktiv wenden und auf das Ziel globaler sozialer Gerechtigkeit ausrichten?
Ihnen allen dürfte bewußt sein, was von der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen
abhängt Der Vertrauensschwund der internationalen Finanzmärkte im Gefolge der Asien-
und Rußlandkrise hat auch in Lateinamerika zu einem Abfluß von Kapital geführt. Insbesondere Brasilien wurde davon in Mitleidenschaft gezogen, aber auch in Argentinien,
dem Nachbarn Brasiliens, ist er nicht völlig ohneWirkung geblieben.
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