Rede des Bundesministers der Finanzen, Hans Eichel, auf der Gedenkfeier zum zehnten Todestag von Dr. Detlev Rohwedder am 1. April 2001 in Berlin:

Liebe Familie Rohwedder,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Clement,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Höppner,
sehr geehrter Herr Dr. Waigel,
sehr geehrter Herr Prof. Schröder,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wir wollen heute Detlev Rohwedders gedenken. Wir wollen die Leistungen eines Mannes würdigen, dessen Schicksal in tragischer Weise mit der Geschichte unseres Landes verknüpft ist.

Ich erinnere mich an den 1. April 1991. Aus den Nachrichten erfuhr ich von dem Mord an Detlev Rohwedder. Das kaltblütige Attentat bewegte die Menschen in unserem Land tief. Mit den Schüssen wurde nicht nur der österliche Frieden zerrissen. Diese Schüsse haben das Leben einer Familie zerstört und dabei galten sie doch unserem Gemeinwesen.

Am 10. April nahm ich, als gerade gewählter hessischer Ministerpräsident, an dem Staatsakt für Detlev Rohwedder im Schauspielhaus hier in Berlin teil. Der Fall der Mauer, die Freude über die Wiedervereinigung - es herrschte eine Aufbruchstimmung in unserem Lande, besonders bei den Menschen, die in Grenzregionen wie Nordhessen - woher ich komme - lebten. Wir alle dachten damals wohl auch, dass der schreckliche RAF-Terror der 70er und 80er Jahre zu Ende ist.

Und dann dieser unfassbare Mord, der die Menschen in Ost und West in ihrem Entsetzen, ihrem Unverständnis und ihrer Anteilnahme vereint hat. Für die Ostdeutschen, die sich durch eine friedliche Revolution von einem totalitären Regime befreit hatten, war diese Tat umso schockierender.

Detlev Rohwedders erste Heimat war Thüringen, seine zweite wurde das Rheinland. Er blieb seiner "ersten Heimat" zeitlebens verbunden. Seine "Ost-West-Biographie" war typisch für die vieler Menschen, die nach dem Krieg die Teilung Deutschlands erleben mussten.

Vermutlich war sich Detlev Rohwedder gerade deshalb der großen Herausforderungen von Anfang an bewusst. Er sagte schon früh, eine ganze Volkswirtschaft zu privatisieren, sei "eine Aufgabe von nahezu furchterregender Dimension". Seine biografische Prägung prädestinierte ihn wie wohl kaum sonst jemanden für seine spätere Aufgabe als Präsident der Treuhandanstalt.

Karl Schiller hatte ihn früh ins Bundeswirtschaftsministerium geholt. Später war er dort fast zehn Jahre als beamteter Staatssekretär in den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt tätig. Danach gelang ihm die erfolgreiche Sanierung eines großen Stahlkonzerns.

Soziale Gerechtigkeit und die Suche nach gerechter Teilhabe für die Arbeitnehmer - das war für Detlev Rohwedder Bestandteil erfolgreichen Managements. Der sogenannte "Dortmunder Konsens" aus dem Jahr 1980/81 ist hierfür Beleg. Detlev Rohwedder zeigte, dass ein unaufschiebbarer Strukturwandel sozial verträglich gestaltet werden kann und zugleich neue Perspektiven eröffnet.

Detlev Rohwedder wurde nach kurzer Zeit als Verwaltungsratsvorsitzender der Treuhandanstalt deren Präsident. Die Arbeitsfähigkeit der Organisation und die schnelle Einbettung in die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsnetzwerke war vordringlichstes Ziel. Ohne seine Erfahrung und seine vielfältigen Kontakte wäre das keineswegs so schnell und so effektiv vonstatten gegangen.

Seine Weitsicht zeigte sich nicht zuletzt in seinem "Oster-Brief" vom 27. März 1991 an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhandanstalt. Der Brief war überschrieben mit den Worten "schnelle Privatisierung - entschlossene Sanierung - behutsame Stillegung". Die Prioritätensetzung war klar in dem Kernsatz formuliert: "Privatisierung ist die wirksamste Sanierung."

Seit dem 16. Januar 1992 trägt das Gebäude, das bis 1996 die Treuhandanstalt beherbergte, den Namen Detlev Rohwedders. Es war konsequent und richtig, das Gedenken an ihn in dieser Form aufrechtzuerhalten. Seit Anfang 1999 ist das Detlev-Rohwedder-Haus Hauptsitz des Bundesministeriums der Finanzen. Bereits seit dem 3. Oktober 1990 befand sich dort der Sitz der Berliner Außenstelle des Ministeriums.

Wir, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums haben die historische Herausforderung, die dieses Gebäude bedeutet, angenommen. Mehr als manches anderes in der Hauptstadt kann es auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Es war eine Machtzentrale der NS-Diktatur und nach dem Krieg Sitz der Militäradministration. Dort wurde die DDR gegründet und Wilhelm Pieck zum ersten Präsidenten des neuen Staates gewählt. Vor dem späteren Haus der Ministerien kam es am 17. Juni 1953 zu dem von sowjetischen Panzern niedergeschlagenen Arbeiteraufstand. Mit dem Bau der Mauer 1961 wurde die Wilhelmstraße zur Sackgasse.

Ich denke, es gibt nur wenige Gebäude, die so sehr die neue Geschichte Deutschlands der letzten Jahrzehnte - zugleich Höhen und Tiefen, Verbrechen und demokratischen Widerstand, Freude und Leiden der Deutschen - widerspiegeln. Seine Weiternutzung bietet uns die Chance, Geschichte wach zu halten, als Erinnerung, als Mahnung für die nächsten Generationen. Das Haus repräsentiert heute an zentraler Stelle Berlins ein neues, ein modernes, das wiedervereinigte Deutschland. Es erinnert mit seinem Namen an eine großartige deutsche Persönlichkeit.

Detlev Rohwedder hat einen wesentlichen Beitrag geleistet, damit der Aufbau Ost ein solides Fundament erhält. Ihm war klar, die tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen würden die persönlichen Lebensverhältnisse für viele Bürgerinnen und Bürger grundlegend wandeln. Tatsächlich konnten ja nicht alle Hoffnungen, die sich mit der staatlichen Einheit, der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft verbunden hatten, in den ersten Jahren der Einheit schon in Erfüllung gehen.

Verständlich, dass bei vielen Menschen radikale Umbrüche, der Verlust des Arbeitsplatzes ein Gefühl der Ernüchterung erzeugt haben, das bei manchen zu einer Verklärung der früheren Verhältnisse in der DDR führen kann. Zu schnell wird dabei die Ausgangssituation vergessen, die Vergangenheit wird positiver gesehen, als sie jemals war. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Ostdeutschen ihre eigene persönliche Situation heute als gut einschätzt; die Gesamtsituation wird jedoch eher pessimistisch beurteilt.

Im Nachhinein die wirtschaftliche Lage der DDR zu verklären, ist falsch. Der Dresdner Ökonomie-Professor Lehmann-Waffenschmidt hat dies als "Titanic Argument" bezeichnet: "Wie angenehm das Leben auf der Titanic in den Tagen vor dem Untergang auch immer gewesen sein mag - das Schiff versagte genau darin, wofür es von seinen Erbauern nach eigenem lautstarken Bekunden konstruiert worden war: in der Eigenschaft, unsinkbar zu sein."

Wir wissen, die DDR stand 1989 vor dem Bankrott, politisch und wirtschaftlich. Die Menschen waren nicht bereit, mit der "Titanic DDR" unterzugehen! Sie haben das Schiff rechtzeitig zur Umkehr gezwungen. Die "friedliche Revolution" ist und bleibt eine historisch einzigartige Leistung der hier lebenden Menschen.

Rückblickend können wir feststellen: Die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse haben sich stark angenähert. An vielen Orten sind neue, hochproduktive Industrien entstanden. In den neuen Ländern wachsen moderne Branchen besonders rasch. Die Ausrichtung auf Auslandsmärkte hat stetig zugenommen.

Rechnet man Berlin mit ein, dann hat Ostdeutschland bereits 71 Prozent der westdeutschen Produktivität erreicht. Marktwirtschaft und Unternehmertum haben sich entwickelt. Es gibt rund 550.000 mittelständische Unternehmen, die 3,2 Millionen Arbeitnehmer beschäftigen. Die Infrastruktur Ostdeutschlands wurde durchgreifend erneuert. Die Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer liegen mittlerweile bei 75 Prozent des Westniveaus. Die Ausstattung der Haushalte mit dauerhaften Konsumgütern hat das Westniveau fast erreicht. Von Luft, Wasser und Boden gehen heute, anders als 1989, keine akuten Gesundheitsgefahren mehr aus.

Leider ist die Arbeitslosigkeit nach wie vor bedrückend hoch. Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Entwicklung des Arbeitsmarktes differenziert betrachtet werden muss. Im Jahr 1998 gab es in Ostdeutschland bereits je 100 Einwohner im Alter zwischen 15 und 65 Jahren etwa 58 Erwerbstätige. Diese Erwerbstätigenquote von rund 58 Prozent ist zwar um etwa 10 Prozentpunkte niedriger als in Westdeutschland. Aber: Sie ist höher als in anderen Transformationsländern. Vor allem: Es handelt sich überwiegend um wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Diese in nur 10 Jahren erbrachte beachtliche Leistung wird in der öffentlichen Diskussion viel zu wenig wahrgenommen!

Der Staat hat den wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozess in den neuen Ländern von Anfang an mit erheblichen Mitteln gefördert; zum Beispiel in der regionalen Wirtschaftsförderung, in der aktiven Arbeitsmarktpolitik sowie im Rahmen von Sonderregelungen im bundesstaatlichen Finanzausgleich sowie der steuerlichen Sonderförderung.

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört auch die Feststellung, dass die finanziellen Lasten der deutschen Einheit zum größten Teil der Bund getragen hat. In großem Umfang wurde dies über Haushaltsdefizite und Schuldenübernahmen finanziert. Wir sind dabei, die Handlungsfähigkeit des Bundes wiederzugewinnen. Dies ist nicht zuletzt notwendig, um die Fortsetzung der Hilfen an die neuen Länder über das Jahr 2004 hinaus auf finanzpolitisch solide Grundlagen zu stellen.

Heute wissen wir, dass die Annäherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Länder an die westdeutschen nur in einem langfristigen Zeitraum erfolgen kann. Eine Vielzahl der damals unterstellten Annahmen haben sich im nachhinein als unrealistisch erwiesen.

Wir wollen keine Illusionen pflegen. Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern stellt eine lange und schwierige Wegstrecke dar. Aber: Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, dass sich diese Anstrengungen lohnen und wir bereits eine erhebliche Wegstrecke zurückgelegt haben. Wir investieren in die Zukunft eines vereinten, modernen Deutschlands. Diese Investitionen werden sich rentieren! Davon war auch Detlev Rohwedder fest überzeugt.

Der Strukturwandel hatte leider einen hohen Preis. Seit 1990 sind netto fast drei Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen. Die veralteten Strukturen waren dem internationalen Wettbewerb nicht gewachsen. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch bedrückend hoch. Ihr Abbau bleibt deshalb die größte Herausforderung an die Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Hier bewahrheiten sich die Gedanken von Richard von Weizsäcker, der anlässlich seiner Ansprache bei dem Staatsakt für Detlev Rohwedder im Schauspielhaus am 10. April 1991 meinte: "In Wahrheit werden wir die tiefen Wunden, die den Menschen in der früheren DDR durch den Krieg und das nachfolgende unmenschliche System einseitig zugefügt wurden, erst im Zuge der Vereinigung richtig gewahr."

Ich glaube, Detlev Rohwedder hat dies geahnt. Er ist aber vor großen Herauforderungen nicht zurückgeschreckt, sondern hat sie angenommen und ist mutig vorangeschritten. Folgen wir seinem Vorbild!




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