Erklärung der Bundesregierung zum 50. Jahrestag des Marshall-Plans
Abgegeben von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gab in der 181. Sitzung des Deutschen Bundestages am
12. Juni 1997 zum 50. Jahrestag des Marshall-Plans folgende Erklärung der Bundesregierung
ab:
Frau Präsidentin,
meine Damen und Herren,
vor einer Woche, am 5. Juni, jährte sich zum 50. Mal der Tag, an dem der amerikanische
Außenminister George Marshall in Harvard seine zu Recht berühmte Rede hielt. Darin
schlug er eine umfassende Hilfe für das vom Krieg zerstörte Europa vor. Diese Hilfe
veränderte das Gesicht Europas und auch das Gesicht Deutschlands.
Ich hatte in der vergangenen Woche die Gelegenheit, in Washington an den Feierlichkeiten
zum 50. Jahrestag des Marshall-Plans teilzunehmen. Ich habe diese Gelegenheit genutzt,
dem amerikanischen Volk noch einmal den Dank der Deutschen für diese Hilfe auszusprechen.
Ich glaube, es ist gut und richtig, wenn wir diesen Dank auch hier vor dem Deutschen
Bundestag bekräftigen. Wir werden niemals vergessen, was das Volk der Vereinigten
Staaten von Amerika für uns Deutsche getan hat.
Wenn ich diesen Dank vor allem auch in Erinnerung an den Präsidenten der Vereinigten
Staaten Harry S. Truman und seinen Außenminister George Marshall ausspreche, dann
gilt er zugleich den vielen Amerikanern, die uns in Deutschland in einer großen Not
durch ihre tätige Hilfe mit Paket- und Spendenaktionen jeglicher Art geholfen haben.
Die Rede George Marshalls wird stets als ein Dokument der Weisheit, der Klugheit und
vor allem auch der Großherzigkeit des amerikanischen Volkes in Erinnerung bleiben.
Für Europa und vor allem für uns Deutsche ging es dabei um mehr als um wirtschaftliche
Hilfe.
Die Rede Marshalls war in erster Linie eine Botschaft der Solidarität. Sie besagte:
Die Vereinigten Staaten von Amerika werden Europa nicht seinem Schicksal überlassen.
Sie war zugleich ein Anstoß für die Europäer, sich zusammenzuschließen und sich vor
allem selbst zu helfen. Für uns Deutsche war sie wie ein Lichtstrahl der Hoffnung, der
die Dunkelheit von Not und Verzweiflung durchbrach, der einen neuen Anfang ankündigte.
Das Nein Stalins in jener Zeit verhinderte, daß dieser Lichtstrahl auch den Eisernen
Vorhang durchdringen konnte.
In Westeuropa und auch im westlichen Teil Deutschlands entfaltete George Marshalls
Rede eine ungeheure, heute kaum vorstellbare psychologische Wirkung. Der Sieger reichte
dem Besiegten die Hand zur Hilfe und zur Versöhnung. Wann je hat es in der Geschichte Vergleichbares gegeben? Dieses Beispiel moralischer Größe hat Konrad Adenauer wenige
Jahre später zu Recht als "eine der größten Taten eines Volkes"
bezeichnet.
Man kann die Tragweite dieser Geste nur ermessen, wenn man sich die Ausgangslage
vorAugen führt. Der Zweite Weltkrieg, von der nationalsozialistischen Diktatur entfesselt,
hatte zu unsagbarem Leid auf unserem Kontinent geführt. Viele Millionen Menschen
starben auf den Schlachtfeldern oder wurden barbarisch ermordet. Am Ende stand die Verwüstung
weiter Teile Europas. Das besiegte Deutschland wurde in vier Besatzungs- zonen aufgeteilt.
Vor allem auch das soll ausgesprochen werden die moralische Verantwortung für das, was im Namen Deutschlands getan wurde, lastete schwer auf unserem Volk.
Ich erinnere mich gut an die Situation im Jahre 1947. Ich war damals 17 Jahre alt.
Für die Mehrheit der heutigen Deutschen, die die Nachkriegszeit nur vom Hörensagen
kennen, ist die Not, in der die Menschen damals lebten, schwer vorstellbar. Viele
wohnten notdürftig in den Kellern zerbombter Häuser. In den überfüllten Städten drängten sich
die Flüchtlinge. Die Fabriken standen vielerorts still. Vor Hunger waren die Menschen
oft zu schwach, um die notwendigsten Dinge für die Ernährung zu beschaffen. In jenem Jahr schrieb Wolfgang Borchert "Draußen vor der Tür", ein Stück, das eine ganze Generation
zu Recht tief erschüttert hat.
Die Rede George Marshalls wies den Weg aus dieser verzweifelten Lage in eine bessere
Zukunft. Er verkündete im Auftrag seines Präsidenten Truman das Ziel, den vom Krieg
zerstörten Ländern Europas zu wirtschaftlicher Stabilisierung und Unabhängigkeit
zu verhelfen. Die Politik Amerikas, so sagte er, richte "sich nicht gegen irgendein Land
oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos". Für
die Vereinigten Staaten sei es eine logische Notwendigkeit, den Völkern bei der Rückkehr
zu gesunder wirtschaftlicher Entwicklung zu helfen. Nur so würden politische Stabilität
und Frieden in der Welt möglich.
Natürlich erkannte George Marshall mit der nüchternen Lagebeurteilung und dem strategischen
Blick des erfahrenen Soldaten auch die Interessen Amerikas. Seine Initiative schuf
ein Instrument, um die politische Widerstandskraft der Länder im
Westen Europas gegen die Expansionspolitik Stalins zu stärken.
Zugleich machte sie deutlich, daß Amerika nicht den verheerenden Fehler wiederholen
würde, den es nach dem Ersten Weltkrieg begangen hatte: sich vom europäischen Kontinent
zurückzuziehen und in Isolationismus zu verfallen. Dabei hatte Marshall auch die
Schaffung einer sich frei entfaltenden stabilen Weltwirtschaft im Auge. Er wollte die
durch den Krieg zerstörte internationale Arbeitsteilung wiederherstellen.
Dies schmälert die Bedeutung seiner Rede als eines beispiellosen Zeugnisses der Humanität
keineswegs, im Gegenteil: Es zeichnet die Initiative Marshalls aus, daß sie das politisch
und strategisch Richtige mit dem menschlich und moralisch Gebotenen klug zu verbinden wußte. Die Aufgabe, die die damalige amerikanische Regierung sich damit
stellte, war beispiellos, und die Anstrengungen, die sie unternommen hat,
waren es ebenso.
Amerika unterstützte Europa in den vier Jahren des Marshall Plans mit insgesamt rund
13,3 Milliarden US-Dollar, von denen etwa 1,4 Milliarden Dollar an Deutschland gingen.
Diese Zahlen muß man sich verdeutlichen: Auf dem Höhepunkt der Marshall-Plan-Hilfe
1948 und 1949 war mit dieser Leistung ein Verzicht auf über zwei Prozent des Volkseinkommens
der Vereinigten Staaten und ihrer Bevölkerung verbunden. Fast die Hälfte aller Ausfuhren
nach Europa zwischen 1948 und 1951 wurden vom amerikanischen Steuerzahler selbst finanziert. Jeder Amerikaner hat 1952 mit rund 80 US-Dollar zum Aufbauprogramm
beigetragen. Dies entsprach damals mehr als einem durchschnittlichen Wochenlohn.
Die Hilfsbereitschaft der amerikanischen Bevölkerung ging weit darüber hinaus. Viele
hier im Saal aus meiner Generation erinnern sich gut an die CARE-Pakete. Ich selbst
weiß noch, mit welchem Gefühl die ersten Pakete mit dieser Aufschrift in unserer
Familie und unserem Freundeskreis aufgenommen wurden. All denen, die damals dazu beitrugen,
die Not der Menschen nach dem Krieg zu lindern, gehört auch heute unser
besonderer Dank.
Die amerikanische Unterstützung schenkte den Menschen neue Kraft und neue Zuversicht,
das Aufbauwerk in Deutschland und in Europa anzupacken. Eine neue Perspektive für
die Zukunft tat sich auf. Diese psychologische Wirkung macht in erster Linie den
wahren Erfolg des Marshall-Plans aus.
Auch für die Wirtschaft war das amerikanische Angebot mehr als nur rein materielle
Unterstützung. Zu einer Zeit, als man in Deutschland mit Zigaretten mehr kaufen konnte
als mit Geld, bedeutete der Marshall-Plan ein ganz wichtiges Element der Stabilität
und der Sicherheit. Damit hat er auch einen entscheidenden Beitrag zum Gelingen der
Währungsreform im Jahr 1948 geleistet. In den Jahren danach half der Marshall-Plan
bei der Modernisierung unserer Industrie und trug so wesentlich zur Initialzündung
des Wirtschaftswachstums bei.
Einen Neubeginn bedeutete der Marshall-Plan auch im Blick auf die Beziehungen zu unseren
Nachbarn. Amerika zeigte uns damit den Weg, der zurück in die Gemeinschaft der freien
Völker wies, und unterstützte uns bei den ersten schwierigen Schritten auf diesem Weg.
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