Ordensverleihungen am 3. Oktober 1999



Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau aus Anlass der Ordensverleihungen zum Tag der Deutschen Einheit am 5. Oktober 1999 im Schloss Bellevue in Berlin:


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie hier im Schloss Bellevue, einem Ort, an dem meine Amtsvorgänger einmal im Jahr deutsche Bürgerinnen und Bürger, aber auch Gäste aus anderen Ländern empfangen haben, um ihnen das Bundesverdienstkreuz zu überreichen. Das Bundesverdienstkreuz wird sonst ausgehändigt von Oberbürgermeistern, von Ministerpräsidenten, von Universitätsrektoren.

Gustav Heinemann, der von 1969 bis 1974 Bundespräsident war, hat es dann übernommen, einmal im Jahr selber diesen Orden auszuhändigen. Er hat das immer am 23. Mai getan dem Tag, an dem unser Grundgesetz in Kraft getreten ist. Der Tag, an dem es jetzt geschieht, ist der Tag, der nahe am 3. Oktober ist an demTag, der uns Deutschen vor neun Jahren die nationale Einheit zurückgegeben hat, ein Tag, den wir in diesem Jahr in Wiesbaden, aber den auch viele Menschen hier in Berlin gefeiert haben. Dieser 3. Oktober ist ein staatlicher Feiertag. Es gibt Menschen, die sehen den 3.Oktober nur im Licht des 9.November, desTages, auf dem eine große Last der Geschichte liegt. Denn dieser 9. November w ar der Tag, an dem die Weimarer Republi k ausgerufen wurde 1918. Es war der Tag, an dem Hitler putschte 1923 Feldherrnhalle. Es war der Tag, an dem 1938 die Geschäfte jüdischer Kaufleute zerschlagen, zerstört und Synagogen verbrannt wurden, und es war der Tag des deutschen Wunders 1989.

Ich kann mich an diesen Tag gut erinnern. Ich war bei einer Kunstausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen in Leipzig und ich hielt eine Rede eine gute Rede, denn sie war aufgeschrieben, vorbereitet. Und während der Rede bekam ich einen Zettel. Ich sprach gerade über die Musikwelt in Detmold, Düsseldorf und Köln. Nun wissen geübte Redner und hier sind viele , wie das ist, wenn man einen Zettel während der Rede bekommt.

Da steht drauf: Bürgermeister noch begrüßen, lauter sprechen, kürzer fassen. Manchmal steht drauf: Bitte stark betonen, da Argument schwach. Der Zettel, den ich bekam, auf dem stand: "Die Mauer ist auf." Da stand ich nun mit meinem Manuskript über nordrhein-westfälische Kulturpolitik und hatte einen Zettel: "Die Mauer ist auf," Und ich wusste überhaupt nicht, was das hieß. Und ich wusste überhaupt nicht, wie ich meine Rede zu Ende bringen sollte. Denn in mir war so viel Neugier, dass mich die eigenen Worte nicht mehr interessierten.

Ich spreche davon, weil der 9. November und der 3. Oktober zusammengehören. Ohne die Kerzen, ohne die Gebete, ohne die Montagsdemonstrationen nicht nur in Leipzig erst in Plauen, dann in Dresden, dann in Leipzig und in Rostock und an vielen Stellen hätte es den Fall der Mauer nicht gegeben, hätte es den 9. November nicht gegeben und damit auch den 3. Oktober nicht. Und wenn wir ein Stüekchen weiterdenken, dann denken wir daran, ohne die Botschaft in Prag und ohne den Außenminister Horn hätte es den Fall der Mauer nieht gegeben. Ohne Budapest, ohne Polen, ohne Warschau, ohne "Solidarnosc" hätte es den Weg der Deutschen zueinander nicht gegeben.

Das ist der Hintergrund, auf dem wir uns heute hier treffen weil Menschen da sind, die in dieser Welt für die Deutschen und in Deutschland etwas bewegt und etwas vorangebracht haben, sehr Unterschiedliches. Sie werden das gleich bei den Laudationes hören, was das für untersehiedliche Menschen sind, die heute hier sitzen.

Da sind Menschen, die haben die Wissenschaft im Lande vorangebracht, dass sie wieder internationalen Rang und Reputation gewonnen hat. Da sind Unternehmer, die haben das getan, was Unternehmer sollen, nämlich etwas unternommen und haben damit Menschen Arbeit und Brot gegeben. Da sind Künstler, die haben mit der Kraft ihrer Begabung nicht nur Abende im Theater gestaltet, sondern Leben verändert. Die unterschiedlichsten Menschen sind hier. Es sind welche da, die haben Brücken gebaut zwischen Deutschland und Polen, zwischen Deutschen und Franzosen, zwischen Israelis und Deutschen, zwischen Juden und Christen. Da sind Menschen, die haben ihr Leben riskiert als Nachrichtenredakteure. Da sind Männer und Frauen, die haben sich der internationalen Verständigung zugewandt. Und da sind Menschen, die haben Gewerkschaften, Verbände aufgebaut, gestaltet, beieinander gehalten. All diesen
Menschen aus Kirchen und Verbänden, aus Krankenhäusern und Universitäten will die Bundesrepublik, vertreten durch den Bundespräsidenten, ein Zeichen des Dankes geben, ein Bundesverdienstkreuz.

Das hat keinen großen materiellen Wert, das Bundesverdienstkreuz. Die Firma, die sie herstellt, ist in Lüdenscheid. Ich kenne die Preise. Aber es ist ein Symbol, es ist ein Zeichen, und darum bitte ich, es auch zu tragen, dasBundesverdienstkreuz. Mit dem wollen wir sagen: Hier ist ein Mensch, der hat mehr getan als seine Pflicht, mehr getan als Tarifverträge und Beamtenrecht vorschreiben, mehr als im Führungszeugnis steht. Menschen haben ein Stück weit die Welt, unsere Welt verändert, heller gemacht, wärmer gemacht. Und dafür sollen sie einen Orden bekommen, und sie sollen ihn bitte auch tragen. Nicht nur aus Stolz, aber auch ein bisschen stolz. Sie sollen ihn tragen, damit andere, die das sehen, sich fragen, ob sie selber nicht auch noch etwas zulegen können. Ob sie nicht auch etwas tun sollten, was dieWelt verändert und nicht nur dem eigenen Profit gilt.




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