Romano Prodi
Präsident der Europäischen Kommission
Beitrag der
Kommission zur Sondertagung des Europäischen Rates über Beschäftigung,
wirtschaftliche Reformen und sozialen Zusammenhalt - Für ein
innovations- und wissensgestütztes Europa (23. und 24. März 2000)
Rat
"Allgemeine Angelegenheiten"
Brüssel, den 20. März 2000
Herr Präsident,
Der portugiesische Vorsitz hat eine Sondertagung des Europäischen Rates
über "Beschäftigung, wirtschaftliche Reformen und sozialen Zusammenhalt
- für ein innovations- und wissensgestütztes Europa" einberufen. Ich
möchte ihm dafür danken und ihm vor allem zu seiner ambitionierten und
ausgezeichneten Vorarbeit gratulieren. Dem portugiesischen Vorsitz ist
es gelungen, eine sehr breite Zustimmung, auch diejenige der Kommission,
zu den in ihrem Beitrag dargelegten Themen zu finden. Gemeinsam werden
wir dieses Gipfeltreffen zu einem großen Erfolg für Europa machen.
Im
Beitrag der Kommission zu dieser Tagung, den ich Ihnen heute vorstellen
möchte, kommt diese Zustimmung zum Ausdruck.
Wir stimmen als erstes
darin überein, daß Europa zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts eine neue
Zukunftsvision braucht. Unsere Zukunftsvision ist ein Europa mit einer
dynamischen Wirtschaft und einer humanen Gesellschaft. Ein Europa, das
an der vordersten Front der neuen Wirtschaft steht und dennoch seine
gesellschaftlichen Werte verteidigt. Ein Europa, das Vollbeschäftigung
als wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Kernziel wiederherstellen
kann.
Damit diese Zukunftsvision wahr werden kann, braucht Europa eine
neue Strategie - eine langfristige gesellschafts- und
wirtschaftspolitische Strategie. Unser Erfolg bei der Umsetzung dieser
Strategie wird darüber entscheiden, ob Europa in einer sich rasch
verändernden Welt den Anschluß verliert oder in Führung geht. Er wird
die Zukunft des europäischen Gesellschaftsmodells bestimmen.
Wir
schlagen eine Gesamtstrategie vor. Die altvertrauten Faktoren dieser
Strategie sind wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigung, allgemeine und
berufliche Bildung sowie Wirtschaft, Umwelt und Forschung. Neu ist
unserer Gesamtkonzept. Ein solches Konzept ist wichtig, da
wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen untrennbar miteinander
verbunden sind.
Die Informationstechnologien und der Übergang zu einer
neuen, wissensgestützten Wirtschaft können das Leben unserer Bürger
bereichern und mehr und bessere Arbeitsplätze schaffen. Sie müssen aber
auch mit Maßnahmen einhergehen, damit sie allen unseren Bürgern zugute
kommen, da sonst die Gefahr besteht, daß wir eine neue Form der
Ausgrenzung fördern. Und Ausgrenzung bringt nicht nur wirtschaftliche,
sondern auch gesellschaftliche Kosten mit sich.
Wir müssen mit der
Umsetzung dieser Strategie jetzt beginnen, weil sich uns eine
einzigartige Gelegenheit bietet dank der wirtschaftlichen
Errungenschaften, die wir uns durch unsere entschlossene Vollendung des
Binnenmarktes und durch unsere solide Geld- und Steuerpolitik geschaffen
haben. Wir müssen, ohne unsere Selbstdisziplin zu lockern, den Spielraum
dieses wirtschaftlichen Aufschwungs nutzen.
Wir müssen jetzt handeln,
weil die anstehenden Herausforderungen keinen Aufschub dulden.
Wir
stehen vor einer technologischen Herausforderung: Europa liegt in der
globalen wissensgestützten Wirtschaft zurück. Wir müssen diesen
Rückstand aufholen. Wir wissen, daß wir das schaffen können. Das ist der
Zweck der eEuropa-Initiative. Europa kann seine wichtigsten Konkurrenten
überholen und zur führenden Macht in der neuen Wirtschaft aufsteigen.
Wir stehen auch vor einer sozialen Herausforderung: Wir müssen
Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung bekämpfen. Unsere Bürger
erwarten, daß wir Antworten finden. Die Veränderungen, die notwendig
sind, um wirtschaftlich wettbewerbsfähig werden zu können, werden sie
nur dann akzeptieren, wenn wir den sozialen Zusammenhalt stärken. Wir
brauchen die Unterstützung unserer Bürger, wenn wir erfolgreich sein
wollen.
Unsere Strategie besteht in der Beschränkung auf eine begrenzte
Zahl klarer Prioritäten. Gesunde gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen
sind nur eine Voraussetzung für den Aufbau einer wissensgestützten
Gesellschaft mit wirtschaftlichem Wachstum, Vollbeschäftigung und
sozialem Zusammenhalt. Wir müssen uns außerdem auf die Menschen,
Geschäftsideen und den Markt konzentrieren.
Menschen: Die Bürger Europas
müssen ihre allgemeine und berufliche Bildung verbessern, um ihre
Kenntnisse und Fertigkeiten dem heute bestehenden und dem morgen
wahrscheinlichen Arbeitsplatzangebot anzupassen. Wir müssen die
Sozialpartner in diesen schwierigen Prozeß im Interesse aller in vollem
Umfang beteiligen. Angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung
brauchen wir eine Reform unseres Wohlfahrtssystems.
Geschäftsideen: Wir
müssen wir unsere Ausgaben für Forschungsmöglichkeiten und
-einrichtungen steigern. Wir müssen die Finanzierung von Forschungs- und
Entwicklungskosten erleichtern. Europa muß neue Geschäftsideen schneller
entwickeln und schneller zur Marktreife bringen.
Markt: Strukturreformen
müssen fortgeführt werden, um europäische Unternehmen auf dem globalen
Markt wettbewerbsfähiger zu machen. Es gibt immer noch Bereiche, in
denen die Leistungsfähigkeit des Binnenmarktes nicht voll ausgeschöpft
wird. Dazu gehören das Dienstleistungsgewerbe, insbesondere der
elektronische Handel, die Energiewirtschaft, das Verkehrsgewerbe und die
Finanzdienstleistungen. Europa braucht ein Statut der europäischen
Aktiengesellschaft, ein Gemeinschaftspatent, einen flüssigeren
Kapitalmarkt und bessere Vorschriften für das öffentliche Vergabewesen.
Wir müssen auf diese Probleme eine Antwort finden, damit wir unsere
wirtschaftlichen Möglichkeiten voll ausschöpfen können.
Ich habe gesagt,
daß Europa eine Zukunftsvision braucht, und Ihnen meine Zukunftsvision
erläutert, die vom portugiesischen Vorsitz und von den Mitgliedstaaten
weitgehend geteilt wird. Ich habe gesagt, daß Europa eine Strategie
braucht, und die in unserem Papier dargelegte Strategie kurz
zusammengefaßt.
Europa braucht aber auch eine Methode. Ich wünsche mir,
daß dieser Gipfel zu einem "Gipfel der Methode" wird.
Um unser Ziel der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung zu erreichen,
brauchen wir keine weiteren Prozesse als die bereits bestehenden von
Luxemburg, Cardiff und Köln. Wohl aber müssen wir die uns zu Gebote
stehenden Prozesse, Mittel und Wege vereinfachen und verbessern.
Außerdem müssen wir unser finanzielles Instrumentarium überprüfen und
auf unser vorrangiges Ziel, den Aufbau einer humanen
Wissensgesellschaft, neu ausrichten.
Ferner brauchen wir eine Verfahren,
um unsere Fortschritte messen zu können. Benchmarking wird ein wichtiger
Teil unserer Methode sein. Uns geht es nicht um Zielvorstellungen, zu
deren Verwirklichung uns das politische Instrumentarium fehlt, sondern
um die Nutzung von Indikatoren, um unsere Leistungen mit denjenigen von
anderen zu vergleichen. Mit vorab festgelegten Indikatoren können wir
erkennen, was wir erreicht haben. Benchmarks, Meßzahlen der besten
Leistung, werden uns zeigen, welche Ziele wir anstreben. Mit ihnen
können wir die Gründe von Erfolg oder Mißerfolg feststellen und die
erfolgreichsten Verfahren verbreiten.
Abschließend möchte ich Ihnen,
meine Damen und Herren, sagen, daß Europa einen starken politischen
Willen braucht.
Entscheidend ist nicht, welche Verpflichtungen wir auf
dem Papier eingehen. Davon hat es bisher schon zu viele gegeben, die
aber nicht weiterverfolgt worden sind. Entscheidend wird vielmehr unsere
gemeinsame Entschlossenheit sein, diese Verpflichtungen auch zu efüllen.
Sie können versichert ein, daß meine Kommission und ich fest
entschlossen sind, unseren Teil dazu beizutragen.
Die Kommission wird
die erforderlichen Schritte unternehmen, damit diese Verpflichtungen
auch konkrete Ergebnissen zeitigen. Vor allem aber wollen wir eine
"e-Kommission" werden, die im Bereich der Informationstechnologie die
Führung übernimmt und als leuchtendes Beispiel einer effizienten,
modernen und rechenschaftspflichtigen Verwaltung vorangeht.
Die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Erneuerung ist kein Ziel, das wir
alleine verwirklichen können. Wir alle, also der einzelne Bürger und die
gesamte Gesellschaft, Zentralregierungen und Gebietskörperschaften, die
Organe der Europäischen Gemeinschaft, Handel und Industrie, müssen ihr
Teil dazu beitragen.
Meine Damen und Herren,
was ich von diesem
Gipfeltreffen erwarte, ist eine Einigung über unser Konzept und, was
noch viel wichtiger ist, über präzise Verpflichtungen für dessen
Umsetzung. Wir müssen uns auf eine begrenzte Zahl von Maßnahmen
konzentrieren, um Veränderungen zu beschleunigen, uns klare Ziele zu
setzen und unsere Fortschritte auf dem Wege zu ihnen zu messen. Bei
unserem Streben nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erneuerung
Europas können wir es nicht leisten, unentschlossen zu sein und auf Zeit
zu spielen. Ich rechne mit Ihrer uneingeschränkten Unterstützung.
Ich
danke Ihnen.