Turnfest.htm
30. Deutsches Turnfest - Zeichen für Zuversicht und Optimismus
Rede des Bundeskanzlers in München
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl hielt zur Eröffnung des 30. Deutschen Turnfestes am
31. Mai 1998 in München folgende Rede:
Sehr geehrter Herr Präsident Dieckert,
sehr geehrter Herr Minister Zehetmaier,
Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren, verehrte Gäste,
sehr gerne habe ich die Einladung angenommen, mit Ihnen gemeinsam hier im Herkulessaal
der Münchener Residenz das 30. Deutsche Turnfest zu eröffnen.
Diese Veranstaltung ist ein Zeichen für Zuversicht und Optimismus nicht nur in
der deutschen Sportgemeinde, sondern auch weit darüber hinaus. Sport ist für viele
Menschen die "schönste Nebensache der Welt". sie finden darin Freude,Entspannung
und Anerkennung. Ich bin sicher, daß Sie alle hier in München ereignisreiche und angenehme Tage
erleben werden. Das umfangreiche Veranstaltungsprogramm spricht für sich. Ich möchte
allen, die dieses Turnfest möglich gemacht haben, ein herzliches Wort des Dankes
sagen den Veranstaltern, Organisatoren und Helfern, nicht zuletzt den Aktiven.
Erst vor wenigen Wochen hat der Deutsche Turner-Bund in Hanau sein 150jähriges Bestehen
gefeiert. Sie können mit Stolz auf diese lange Geschichte zurückblicken. Die deutschen
Turnerinnen und Turner haben vieles in diesen anderthalb Jahrhunderten auf den Weg gebracht, was unsere Geschichte mitgeprägt und unsere Gesellschaft mitgestaltet
hat.Dabei stellen die Turnfeste sicherlich besondere Höhepunkte dar. Was von Ihnen
geleistet wurde, verdient unser aller Dank und Anerkennung.
Das Jahr der Gründung des Deutschen Turner-Bundes war zugleich das Jahr der ersten
deutschen Nationalversammlung. Das war der erste große Versuch, in Deutschland Demokratie
zu wagen und durchzusetzen. Am 18. Mai 1848 trat in der Frankfurter Paulskirche das erste frei gewählte gesamtdeutsche Parlament zusammen. Den Abgeordneten ging es darum,
Deutschland im Geiste des Rechts und der Freiheit zu einen. Sie hatten eine breite
Unterstützung in wichtigen Teilen der Gesellschaft. Auch die Turnbewegung stand damals an der Seite derer, die für Parlamentarismus und nationale Einheit, für Einigkeit
und Recht und Freiheit kämpften.
Als ich 1983 in der Frankfurter Paulskirche das 26. DeutscheTurnfest eröffnete, war
Deutschland noch geteilt. Wir alle ahnten damals nicht, daß es nur noch gut sechs
Jahre dauern würde, bis 1989 die Deutschen in der damaligen DDR mit dem Ruf "Wir
sind das Volk" das SED-Regime stürzen und in einer friedlichen Revolution zunächst die Öffnung
der Grenzen und damit schließlich auch die Einheit Deutschlands erzwingen würden.
In Ost und West war die Einsicht gewachsen, daß man auf Dauer keinem Volk gegen seinen
Willen die Einheit verweigern kann. Ich habe Michael Gorbatschow beim Anblick des Rheins
in Bonn einmal gesagt: Sie können den Rhein stauen, aber das Wasser wird dann über
die Ufer treten und doch seinen Weg zum Meer finden. Ebenso werden die Deutschen
ihren Weg zur Einheit finden, wenn sie nur wollen.
Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, daß Turnerinnen und Turner aus den neuen
und den alten Bundesländern gemeinsam Sport treiben und auch zusammen an diesem Turnfest
in München teilnehmen. Das ist ein wahrhaftes Geschenk, für das wir dankbar sind.
Deshalb bin ich sehr froh darüber, daß das nächste Turnfest in vier Jahren in Leipzig
stattfinden wird. Das ist eine großartige Sache !
Die grundlegenden Veränderungen der Jahre 1989/90 haben nicht nur die Wiedervereinigung
unseres Vaterlandes ermöglicht. Auch die widernatürliche Teilung unseres Kontinents
ist überwunden. Ich freue mich deshalb besonders, unter den ausländischen Besuchern
heute auch Gäste aus den östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten begrüßen zu können.
Ihnen allen ein sehr herzliches Willkommen!
Meine Damen und Herren, Sport verbindet. Er führt Menschen aus unterschiedlichen Generationen
und gesellschaftlichen Schichten wie auch aus verschiedenen Ländern und Kulturen
zusammen. Internationalität das sage ich ganz bewußt hier beim Deutschen Turnfest bedeutet aber nicht, daß man seine nationale Identität aufgibt. Dies gilt gerade
auch im Hinblick auf das zusammenwachsende Europa. In diesem Haus Europa, das wirjetzt
bauen, sind wir gleichermaßen Deutsche und Europäer. Mit den Worten von Thomas Mann sagen wir: Wir wollen deutsche Europäer und europäische Deutsche sein. Darauf kommt
es an, wenn wir an die Zukunft denken. Wir müssen begreifen, daß Weltoffenheit und
gelebter Patriotismus eine Einheit bilden.
Ihr Verband und die vielen Turnvereine sind ein unverzichtbarer Bestandteil unseres
gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Ohne sie wäre unser Land um vieles armer.
Der Deutsche Turner-Bund ist mit seinen mehr als 4,6 Millionen Mitgliedern der zweitgrößte Spitzenverband unter dem Dach des Deutschen Sportbundes. Unter den Turnern sind
viele Kinder und Jugendliche. Fast zwei Drittel der Mitglieder des Deutschen Turner-Bundes
sind Frauen. Und kein anderer Sportverband hat mehr Mitglieder, die fünfzig Jahre oder älter sind. Es ist eine großartige Sache, daß sich viele aus der älteren Generation
hier engagieren, Geselligkeit und Freunde finden.
Im Deutschen Turner-Bund haben sich auch viele Menschen zusammengefunden, denen es
nicht nur um den Sport geht, sondern ebenso um gelebte soziale Verantwortung. Das
heißt für mich, daß man Gemeinschaft stiftet, daß man Wettbewerb erprobt - und daß
dies im Geist des Miteinanders geschieht. Ich denke hierbei nicht zuletzt an die Integration
ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen
unterschiedlicher Herkunft zusammen Sport treiben, ist auch für viele andere Bereiche vorbildlich.
Ich finde es erfreulich, daß es auch für behinderte Menschen in Turn- und Sportvereinen
zunehmend Angebote gibt, die ihnen angemessen sind. Gerade im Sport das gilt auch
für den Deutschen Turner-Bund sind wir hier sehr weit. Hierfür gilt Ihnen mein
herzlicher Dank. Ich weiß aber auch, daß noch mehr getan werden muß. Wir sollten gemeinsam
nach mehr Möglichkeiten suchen, damit behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammen
Sport treiben können. Und ich wünsche mir zugleich, daß in den Medien noch stärker darüber berichtet wird.
Durch den Sport werden nicht nur Gesundheit und Wohlbefinden gefördert; der Sport
eröffnet auch vielfältige Möglichkeiten zu einer sinnerfüllten Freizeitgestaltung.
Das ist für Junge wie für Ältere wichtig. Aber besonders für junge Menschen ist dieses
Angebot sehr wertvoll. Sie lernen, ihre Kräfte spielerisch mit anderen zu messen und sie
einzuteilen. Sie lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Junge Menschen,
die Sport treiben und sich in Vereinen engagieren, leiden nicht an Ziellosigkeit
und Langeweile. Sie lassen sich von den Parolen radikaler Gruppierungen nicht beeindrucken.
Im Sport werden Eigenschaften gefördert, die gerade auch in einer modernen Gesellschaft
unerläßlich sind. Dazu gehören Rücksichtnahme und Teamgeist, Leistungswille und Einsatzbereitschaft,
Zielorientierung und Durchsetzungsvermögen. All dies kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Auch den Sport als Wirtschaftsfaktor sollte man nicht unterschätzen. In Deutschland
geben private Haushalte jährlich mehr als 36 Milliarden D-Mark für sportbezogene
Waren und Dienstleistungen aus. Über zwei Prozent aller Arbeitsplätze - etwa ebenso
viele wie in der chemischen Industrie - hängen vom Sport ab.
Der Sport braucht heute mehr denn je auch die Medien als Partner. Ich begrüße es,
daß in vielen Bereichen bereits eine sehr gute Zusammenarbeit besteht. Mit einer
gewissen Sorge sehe ich allerdings die Aufteilung des Sports in "telegene" und "nicht-telegene" Sportarten. So besteht die Gefahr, daß die Vielfalt des Sports in der Berichterstattung
nur unvollkommen wiedergegeben wird. Deshalb wünsche ich mir, daß die Medien über
dieses 30. Deutsche Turnfest umfassend berichten und auf diese Weise einen lebendigen Eindruck vermitteln, wie vielfältig allein das Turnen ist.
Meine Damen und Herren,Turnfeste wie dieses sind einmalig in der ganzen Welt. Sie
sind ein weithin sichtbares Zeichen für unser aktives Vereinsleben in Deutschland.
Die Vereine - das geht weit über den Sport hinaus - leisten einen unverzichtbaren
Beitrag für unser Gemeinwesen. Hier lernen Menschen den partnerschaftlichen Umgang miteinander.
Sie setzen sich für gemeinsame Ziele ein; sie freuen sich über gemeinsame Siege;
sie stehen auch in Niederlagen zusammen. Die Gemeinschaft im Verein gibt dem einzelnen
ein Stück Geborgenheit; mancher findet hier Freunde fürs Leben. Für viele ist der Verein
in ihrem Dorf oder in ihrer Stadt auch ein Stück Heimat. Natürlich gibt es in Vereinen
auch Probleme zu lösen und manche Meinungsverschiedenheit zu überwinden. Aber wenn dies in einer Atmosphäre der Freundschaft und Verbundenheit geschieht, dann können
daraus alle nur lernen.
Das Vereinsleben steht und fällt mit dem Ehrenamt, und der Sport lebt davon, daß etwa
2,5 Millionen Menschen ihre oft knapp bemessene Freizeit in den Dienst einer gemeinsamen
Sache stellen. Wer in seiner Freizeit etwas für andere tun will - beispielsweise
als Jugendwart im Turnverein - oder wer in politischen Parteien, Gewerkschaften, Verbänden
Verantwortung übernimmt oder im kulturellen Bereich unseres Landes tätig ist, leistet
einen Beitrag, dessen Bedeutung wir nicht hoch genug einschätzen können. Ich bin überzeugt, daß unser Land ohne die vielen Männer und Frauen, die sich ehrenamtlich
engagieren, keine gute Zukunft hätte. Wir haben allen Grund, ihnen für ihren Einsatz
dankbar zu sein, denn wir können diese Leistung nicht durch bezahlte Arbeit ersetzen.
Ehrenamtliches Engagement wirkt weit über die Grenzen des eigenen Vereins hinaus:
Es gehört zu den tragenden Säulen einer lebendigen Demokratie; es ist immer auch
ein Beispiel für Bürgersinn und praktizierten Patriotismus. Ausdrücklich möchte ich
in meinen Dank die vielen im Sport hauptamtlich Tätigen einbeziehen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist und bleibt
ein bedeutender Förderer des Sports. Aufgrund der Aufga-
benverteilung in unserem föderalen System können wir nur
den Spitzensport finanziell unterstützen. Vom Spitzensport
aber gehen wichtige Impulse für den Breitensport aus. Gleich-
zeitig wissen wir natürlich, daß der Breitensport Vorausset-
zung für den Spitzensport ist. Die Bedeutung, die wir dem
Sport beimessen, zeigt sich zum Beispiel daran, daß wir im
laufenden Jahr die Fördermittel - trotz der schwierigen wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen - gegenüber 1997 in nahe-
zu unveränderter Höhe zur Verfügung stellen. Ich bin glücklich darüber, daß dies von allen Beteiligten anerkannt wird.
Die von mir geführte Bundesregierung wird auch in Zukunft
ein verläßlicher Partner des Sports bleiben.
Wir werden dabei auch künftig nicht in die Sportbewegung
hinein regieren. Aber ich denke, die Politik - und auch die
Bundesregierung - haben darauf zu achten, daß der Sport
manipulationsfrei ist, daß er gesundheitlich und pädagogisch
verantwortlich ist. Nur so bleibt die Vorbildfunktion der einzelnen Sportlerinnen und Sportler glaubhaft. Wenn durch
Manipulationen Medaillen gewonnen werden, so ist der daraus erwachsene Schaden enorm. Auch ein noch so guter
Medaillenspiegel kann ein solches Verhalten nicht rechtfertigen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung fördert
Spitzensportlerinnen und -sportler ganz bewußt auch deshalb,
weil sie im besten Sinne des Wortes eine Elite sind. Wir brauchen in unserer Demokratie ein klares Ja zu Eliten. Damit meine ich nicht Eliten von Geburt, sondern Leistungseliten.Wir freuen uns über jeden Olympiasieg oder Nobelpreis, der
an Deutsche verliehen wird. Eine solche Auszeichnung ermutigt viele in unserem Land zu Höchstleistungen.
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