Karl Schiller hat Maßstäbe gesetzt
Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Gedenkstunde zum fünften Todestag
von Prof. Dr. Karl Schiller am. 19. Oktober 1999 in Freiburg.
Sehr geehrte F rau Prof. Dr. Limbach,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Böhme,
sehr geehrter Herr Dr. Gerken,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich jemanden von Ihnen mit besonderer Freude begrüße.
Alle haben es verdient, aber aus meiner Sicht Lord Dahrendorf am meisten. Ich bin
sehr froh, dass Sie hier sind und dass sich die Gelegenheit des Wiedersehens ergibt.
Es ist eine Menge diskutiert und an politischen Thesen ausgetauscht worden. Wer zum
Schluss Recht behalten wird, werd en wir sehen. Die heutige Gedenkstunde ruft uns
den Politiker, den Ökonomen und den Menschen Karl Schiller in Erinnerung, dessen
Todestag sich am 26. Dezember zum fünften Mal jährt. Ich habe Karl Schiller in den sechziger
und siebziger Jahren aus der Distanz kennen gelernt. "Distanz" ist nicht nur politisch
gemeint, sondern bezieht sich auch auf die persönliche Begegnung. Nach sehr bewegten
Zeiten von ihm - manche sagen: auch von mir - habe ich ihn persönlich dann Ende der
achtziger Jahre kennen lernen dürfen. Das war in der Lüneburger Heide, wo ich mich
aufmachte, niedersächsischer Ministerpräsident zu werden, was er eigentlich nicht
schlecht fand. Er hat dann auch geholfen. Das bestimmt mein sehr persönliches Verhältnis zu
ihm. Ich habe eine sehr gute Erinnerung an ihn - weniger an sein wissenschaftliches
Werk, das werden viele von Ihnen sehr viel besser bewerten
können - als vielmehr an seine - ganz im Gegensatz zu seinem öffentlichen Image -
durchaus humorvolle und freundliche, gelegentlich auch freundschaftliche Art des
Umgangs.
Viele von Ihnen haben Karl Schillers überragenden Intellekt und sein vorbildliches
Engagement für unser Land als Zeitzeugen erlebt. Sie haben gewiss noch vor Augen,
mit welch großer Gabe Schiller es verstand, seine wissenschaftlichen Überzeugungen
in die Politik einzubringen - übrigens in einer Sprache, die jeder verstand. Er prägte - wie
kein anderer nach Ludwig Erhard - die Wirtschaftsordnung und die Wirtschaftspolitik
im Nachkriegsdeutschland. Ich freue mich, das politische und wissenschaftliche Vermächtnis von Karl Schiller heute auf Einladung des Walter-Eucken-Instituts mit Ihnen zusammen
würdigen zu können. Karl Schiller war der Freiburger Schule stets verbunden. Das
Wettbewerbsprinzip als Motor für Wachstum und Beschäftigung, verlässliche Rahmenbedingungen für die Unternehmen - wie Walter Eucken sie mit seiner Konstanz der Daten immer
wieder einforderte -, aber eben auch ein sozialer Ausgleich im Rahmen des wirtschaftlich
Finanzierbaren : dies alles sind wirtschaftspolitische Grundverständnisse, die Schiller und Eucken ohne Wenn und Aber gemeinsam teilten. Es war kein Zufall, dass beide
zu jenem Kreis von Hochschullehrern gehörten,die sich ab 1947 imWissenschaftlichen
Beirat der damaligen Verwaltung für Wirtschaft für den ökonomischen Wiederaufbau
des zerstörten Deutschlands beratend zur Verfügung stellten. Die Wurzeln dieses Gremiums,
das übrigens heute noch als Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für
Wirtschaft die aktuelle Wirtschafts-politik berät, reichen bis nach Freiburg.
Karl Schiller zögerte nicht, als man ihn 1947 - zusammen mit einigen der Freiburger
Vordenker - als Gründungsmitglied in den Wissenschaftlichen Beirat der Wirtschaftsver-
waltung berief. Durch seine Mitarbeit in diesem sehr hochkarätigen Gremium begleitete
Schiller den wirtschaftspolitischen Neubeginn in Deutschland als wissenschaftlicher
Ratgeber. Wer hätte zu jener Zeit - er sicherlich auch nicht - geahnt, dass er knapp
20 Jahre später als Bundeswirtschaftsminister selbst Adressat jenes Beratungsgremiums
sein würde, dem er damals noch angehörte. Bis es so weit war, hatte Schiller jedoch
noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, um seine - wie er formulierte - "fortschrittliche Synthese und Weiterentwicklung der Lehren von Keynes und Eucken voranzubringen".
Kein Anspruch, der unbedingt den Geist allzu großer Bescheidenheit atmet.
Diese Synthese, die er mit dem Markenzeichen der - wie er es nannte - "volkswirtschaftlichen
Globalsteuerung" versah, zielte einerseits darauf ab, die Funktionsfähigkeit der
Märkte und damit die Angebotsseite der Wirtschaft zu stärken. Eine marktorientierte Wettbewerbs- und Strukturpolitik stand für ihn dabei im Vordergrund. Andererseits
ging es Schiller aber auch darum, die Instabilitäten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
im konjunkturellen Auf und Ab antizyklisch zu beeinflussen. Das war der keynesianische Aspekt seiner Politik. Beides miteinander in Harmonie zu bringen, war seine wohl
größte wirtschaftspolitische Leistung - eine, die dauert und nach wie vor notwendig
ist.
Freilich fand die Globalsteuerung in Schillers Version auch viele Kritiker. Mit ihrem
Glauben an eine geradezu punktgenaue Machbarkeit der Konjunktur durch den Staat bot
sie in der Tat Angriffsflächen. Karl Schiller indessen war sich darüber im Klaren,
dass sein Konzept vielleicht etwas zu sehr auf den - wie er es nannte - "technologischen
Fortschritt in der Wirtschaftspolitik" setzte. Diese kritische Distanz, mit der er
seinen Ansatz immer wieder neu überprüfte, zeichnete ihn wirklich aus. Er hat sich
nicht in sein
Konzept verbissen, sondern war zu Korrekturen bereit, als der keynesianische Aspekt
seines Werkes auf Grund der Entwicklungen an der wirtschaftlichen Basis an Überzeu-
gungskraft zu verlieren schien. So maß der Schiller der späteren Jahre dem angebotspolitischen
Standbein seiner Konzeption ein vielleicht größeres und stärkeres Gewicht bei, als
er es anfangs selbst für möglich gehalten hätte. Mit seinen Beiträgen zum Godesberger Programm 1959 hat Karl Schiller Geschichte geschrieben - und nicht nur sozialdemokratische
Geschichte. Er hat sie in meiner Partei geschrieben, aber er hat sie auch für Deutschland
geschrieben. Wettbewerb - so viel wie möglich, Planung - so viel wie nötig: Mit diesem Leitmotiv aus seiner Feder hat die wirtschaftspolitische Programmatik
der SPD damals eine grundsätzlich andere, im Prinzip noch heute gültige Richtung
erhalten. Mit diesem Erfolg bei der Umsetzung wirtschafts-wissenschaftlicher Erkenntnisse in politische Programmatik war Schiller auf dem Wege zum Vordenker, ja zum Gestalter
seiner Zeit ein gutes Stück vorangekommen. So wie Ludwig Erhards Leistungen für den
Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft prägend waren, so kann man Karl Schillers Verdienst um die Wirtschaftspolitik in der Phase der Prosperität nicht übersehen. Noch
eine Parallele gibt es zwischen diesen beiden Ökonomen und Politikern: Beide hatten
Skeptiker und Zweifler - auch aus den eigenen Reiben, gele-gentlich vor allem aus
den eigenen Reihen - zu überzeugen. Aber beide haben sich von ihren Kritikern nicht beirren
lassen. Sie haben mit ihrem Mut, Unkonventionelles zu den-ken, Türen geöffnet und
neue Wege aufgezeigt.
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