Die Gesellschaft lebt nicht vom Staat, sondern von der Bereitschaft der Bürger, Verantwortung zu übernehmen

Begrüßungsansprache von Bundespräsident Roman Herzog aus Anlaß des Zusammentreffens mit engagierten Lehrern am 4. Mai 1999 im Schloß Bellevue:

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich heiße Sie herzlich im Schloß Bellevue willkommen.

Lehrer haben es heute nicht leicht. Das fängt schon bei ihrem Image an. In der Öffentlichkeit müssen sie sich vorhalten lassen, wieviel Urlaub und Freizeit sie haben. Manche unterstellen sogar öffentlich, Lehrer seien faul. Andere wiederum fürchten die Lehrer als angebliche Besserwisser. Und nicht wenige Schüler behaupten, die Lehrer hätten keine Ahnung von der Lebenswelt und den Bedürfnissen der jungen Menschen

Ich kenne aber auch andere Bilder, die vom Berufsalltag des Lehrers gezeichnet werden: Da heißt es, unsere Schulen seien zu Schlachtfeldern geworden. Steigende Gewaltbereitschaft, Lustlosigkeit und fehlende Disziplin der Schüler zermürbten die Lehrer. Und wahr istja, daß Schule und Lehrer heute für alles verantwortlich gemacht werden, was irgend jemand als gesellschaftliches Defizit ausmacht: ob Ausländerfeindlichkeit, zerrüttete Familienverhältnisse oder fernsehsüchtige Kinder Schule und Lehrer sollen es richten.

In einem Beitrag unter der Überschrift "Ausbrennen im 45-Minuten-Takt" hat eine große deutsche Tageszeitung kürzlich gar die Frage aufgeworfen, ob der Lehrerberuf eine Arbeit sei, die krank mache, denn immer mehr pädagogen litten unter dem viel zitierten "Burn-out-Syndrom". Ich kann das natürlich schlecht beurteilen. Jedenfalls besagen ab er die Statistiken, daß der Anteil vorzeitiger Pensionierungen wegen Dienstunfähigkeit bei Lehrern im Vergleich zu anderen Berufsgruppen des Öffentlichen Dienstes besonders hoch ist.

Fest steht, daß der Lehrerberuf den pädagogen heute sehr vieles abverlangt. Von Eltern und Schülern, von der Wirtschaft, von unserer ganzen Gesellschaft werden hohe und vielfältige Erwartungen an sie gerichtet. So erleben Lehrer etwa zunehmend, daß ihnen immer mehr Erziehungsarbeit überlassen wird, für die jedenfalls primär die Eltern zuständig sind.

Der Beruf, den Sie ausüben, ist einer der wichtigsten in unserer Gesellschaft. Denn wenn Wissen die entscheidende Ressource im Informationszeitalter ist und wenn die jungen Menschen unsere Zukunft sind, dann kommt denen, die dieses Wissen den jungen Menschen vermitteln und sie auf das Berufs- und Erwachsenenleben vorbereiten, tatsächlich eine Schlüsselrolle zu.

Hieran knüpfen sich zwangsläufig Fragen an, die diskutiert werden müssen, etwa: Bereiten unsere Schulen die jungen Menschen wirklich ausreichend auf das vor, was in unserer Gesellschaft an Neuem entsteht? Was muß der ideale Lehrer des 21. Jahrhunderts können? Wie muß er ausgebildet werden, um den Schülern das notwendige Rüstzeug für die Informations- und Wissensgesellschaft mitgeben zu können?

Ich habe große Achtung vor den vielen Lehrern, die trotz der Probleme, mit denen sie täglich im Unterricht konfrontiert sind, ihren Idealismus nicht verloren haben und oft sogar über ihre Lehrverpflichtungen hinaus für ihre Schüler da sind. Sie, die heute aus ganz Deutschland meiner Einladung ins Schloß Bellevue gefolgt sind, repräsentieren mit Ihrem besonderen Engagement und mit Ihrem besonders guten Unterricht diese vorbildlichen Lehrer. Dafür sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank!

Ich habe es erst kürzlich auf dem Deutschen Bildungskongreß in B onn angesprochen: Nach meiner Auffassung brauchen wir auch für unsere Lehrer zusätzliche materielle Anreize, mit denen besondere Leistungen belohnt und gefördert werden können. Mindestens gleich wichtig ist aber die Frage, wie sich ein Instrumentarium für die regelmäßige Überprüfung und Bewertung von Unterrichtsqualität entwickeln läßt. Solange wir auf Fragen wie diese keine befriedigende Antwort finden, braucht sich auch keiner darüber zu wundern, wenn auch unsere Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen meist nur Mittelplätze belegen.

Und noch ein weiterer Punkt erscheint mir wichtig: Sind unsere Lehrer richtig vorbereitet auf die Anforderungen jenseits der reinen Wissensvermittlung? Ich meine hier vor allem den Erziehungsauftrag der Schule. Wohlgemerkt: nicht als Ersatz für die Erziehung durch die Eltern, die natürlich an allererster Stelle steht, sondern als deren Ergänzung.

Die Erziehung von jungen Menschen ist eine schwierige, schwer vorhersagbare und daher auch schwer planbare Angelegenheit. In unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft wirken heute mehr Einflüsse von außen auf die Schüler ein als in früheren Zeiten, vor allem aus der Welt der Medien und des Konsums. Wenn es daher für Eltern und Lehrer gilt, unsere Kinder an eine sich immer schneller verändernde Lebenswirklichkeit heranzuführen, bedeutet das zugleich, ihnen Orientierung zu geben, damit sie sowohl eigenständig als auch gemeinschaftsfähig werden.

Um nicht mißverstanden zu werden: Natürlich müssen unsere Kinder möglichst frühzeitig im Umgang mit den neuen Medien wie Computer und Internet vertraut gemacht werden. Ich habe stets nachdrücklich betont, daß Computer als ganz selbstverständliches Unterrichtshilfsmittel . In jedes Klassenzimmer gehören. Aber wir müssen unseren Kindern auch die Fähigkeit vermitteln, eine vernünftige Distanz zur neuen Medienwelt zu wahren, damit sie nicht im Infoschrott und Konsumrausch ersticken.

Die Schule muß auch dazu beitragen, daß die Definition moralischer Standards nicht dem Internet, dem Fernsehen oder den Jugendcliquen auf der Straße überlassen bleibt. Sie sollte ferner ein Ort sein, an dem unseren Kindern Verständnis für die Werte der Freiheit und Demokratie vermittelt wird. Und die Schüler müssen vor allem erfahren, daß unsere Gesellschaft nicht vom Staat lebt, sondern vom Engagement ihrer Bürger und von der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Das alles muß natürlich auch in die Lehrerausbildung einfließen, die nach meinem Eindruck reformbedürftig ist. Einer meiner Kritikpunkte ist, daß es falsch ist, wenn jungen Lehrern nur die wissenschaftlichen Leistungen in Studium und Praxis angerechnet werden, die pädagogische Kärrnerarbeit aber kaum berücksichtigt wird. Ich bin davon überzeugt, daß unsere jungen Lehrer nicht mehr Fachwissen brauchen das wird ihnen ausreichend vermittelt , sondern mehr Zeit für Pädagogik und erzieherische Anleitung. Vor allem das ist wichtig; denn es geht hier ja meist nicht um eigenständige Unterrichtsfächer, sondern um den Stil, das Verhältnis zur Wahrheit, ja um das Vorbild in fast allen Fächern.


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