Rede anlässlich der Eröffnung der 52. Frankfurter Buchmesse am 17. Oktober 2000 in
Frankfurt
Rede des Bundesministers des Auswärtigen Joschka Fischer zur Eröffnung der 52. Frankfurter
Buchmesse am 17. Oktober 2000 in Frankfurt
Es gilt das gesprochene Wort!
Es ist für mich eine Ehre und Freude, die diesjährige Frankfurter Buchmesse zusammen
mit unseren polnischen Gästen eröffnen zu dürfen.
Daß Polen in diesem Jahr Gastland der Buchmesse ist, freut mich besonders, als Außenminister
und als passionierter Leser. Die polnische Literatur hat in den vergangenen Jahrzehnten
Großartiges vollbracht. Es ist ihr nicht nur gelungen, trotz staatlicher Zensur und Unterdrückung ihre große eigenständige Tradition am Leben zu erhalten. Sie
ist in
dieser schweren Zeit zu einer einzigartigen Vermittlerin der Wahrheit - weit über
Polen hinaus - geworden, und genau hierin lag das Geheimnis des begeisterten Lesens
in Polen wie auch in den anderen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang. In ihrem Ringen
um Freiheit und Wahrheit haben zahlreiche polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller
große politisch-moralische Autorität und auch internationalen Ruhm erlangt. Die Frankfurter
Buchmesse und der Börsenverein des deutschen Buchhandels hatten hieran durch ihre beharrliche Unterstützung von Literaten und Intellektuellen im ehemaligen Ostblock
auch in den frostigsten Zeiten des Kalten Krieges -
allein 3 Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels waren Polen, Janusz
Korczak, Leszek Kolakowski und Wladyslaw Bartoszewski - ihren Anteil.
Wir freuen uns sehr, daß über 70 bedeutende polnische Literaten zu uns nach Frankfurt
kommen werden, um ihre Werke vorzustellen. Stellvertretend für andere möchte ich
den von mir hochverehrten Czeslaw Milosz nennen, der anschließend zu uns sprechen
wird.
Besonders freue ich mich, daß mein polnischer Amtskollege Professor Bartoszewski nach
Frankfurt kommen konnte. Wir heißen ihn als Außenminister eines unserer engsten Partnerländer,
als einen bedeutenden Vorkämpfer für Frieden und Versöhnung mit Deutschland - trotz bitterster persönlicher Erfahrungen - , und auch als Schriftsteller, der
hier sein neues Buch vorstellen wird, recht herzlich willkommen.
Polen als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2000 wird uns den Blick erweitern für
das Kulturleben in unserem wichtigsten östlichen Nachbarland, das uns trotz der geographischen
Nähe aus vielerlei Gründen leider noch zu wenig vertraut ist. Sicher, die fantastische Welt eines Stanislaw Lem, die Werke Andrzej Szczypiorskis, die nachdenkliche
Lyrik Wislawa Szymborkas und Zbigniew Herberts haben auch im Westen viele Liebhaber
gefunden. Dennoch wissen wir, wenn wir ehrlich sind, noch viel zu wenig darüber,
welche Fragen unserer Nachbarn jenseits der Oder bewegen.
Diese beeindruckende Präsentation polnischer Kultur im Ausland wird uns die ganze
Vielfalt und den Reichtum der Literatur unserer Nachbarn erschließen. Ihr kommt eine
enorme kulturelle und auch eine nicht minder wichtige politische Bedeutung zu. Je
mehr die Menschen bei uns und in Westeuropa die Kultur Polens als ein integrales Stück europäischer
Kultur wiederentdecken, je mehr sie sie als Bereicherung ihrer eigenen Kultur wahrnehmen,
umso positiver wird sich dies auf den Prozess der europäischen Wiedervereinigung auswirken. Die kulturelle Verständigung ist vielleicht die wichtigste Grundlage
überhaupt für das Zusammenwachsen unseres Kontinents.
Meine Damen und Herren,
es gibt wohl in ganz Europa keine zwei anderen Völker, die seit
Jahrhunderten im Guten wie im Furchtbaren so sehr miteinander
verbunden gewesen sind wie die Deutschen und die Polen. Polens
Freiheit war immer auch ein Indikator für die Freiheit Deutschlands und Europas. Kaum
ein Volk aber ist in einem solchen Ausmaß Opfer des deutschen Hegemonialstrebens
und der Gewaltherrschaft geworden wie die Polen. Zwischen 1939 und 1945 haben Deutsche
Millionen von Polen ermordet. Die Naziherrschaft hat die großartige polnisch-jüdische
Tradition unwiederbringlich zerstört. Sie hat zugleich alles darauf
angelegt, die gesamte polnische Führungschicht, Professoren,Literaten und Künstler
systematisch zu ermorden und die Polen,das freiheitsliebendste Volk Europas, für
das es nach dem Willen Hitlers keinen Platz mehr geben sollte in der europäischen
Kultur, zu versklaven. Dieser versuchte kulturelle Genozid an dem polnischen Volk war das zweite
große Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands nach dem Holocaust.
Nach dem Krieg konnte die junge Bundesrepublik schon bald durch Adenauers Westpolitik,
für die bereits Gustav Stresemann gesellschaftliche Akzeptanz geschaffen hatte, fest
und dauerhaft in die europäische Integration und die transatlantische Gemeinschaft
verankert werden. Die Ostpolitik Willy Brandts aber, die endgültige Absage an jeglichen
deutschen Revisionismus gegenüber Polen und sein ernstgemeintes "Wagnis der Versöhnung",
symbolisiert in seinem Kniefall im Warschauer Ghetto, traf in unserer Gesellschaft noch
1970 auf ungleich stärkere Widerstände. Diese wirkten sogar noch weitere 2 Jahrzehnte
später nach, als die damalige Bundesregierung monatelang zögerte, die Oder-Neiße-Grenze
anzuerkennen, obwohl die Deutschen gegenüber Polen, dem viermal geteilten, brutal
überfallenen und versklavten Nachbarn im Osten eine mit nur wenig sonst zu vergleichende
historische Schuld tragen. Erst mit Willy Brandt hat Deutschland jene fatale, weit
in die Geschichte zurückreichende Asymmetrie zwischen Ost und West überwunden und
Polen als wirklich gleichwertigen Partner akzeptiert. Hierin liegt vielleicht mehr als
in allem Anderen die historische Leistung dieses großen deutschen Staatsmannes.
Die Literatur wurde schon früh zu einem Medium der Verständigung zwischen Polen und
Deutschen. Günter Grass, Marion Gräfin Dönhoff, Henryk Bereska und Karl Dedecius
mit der von ihm begründeten polnischen Bibliothek, auf polnischer Seite Andrzej Szczypiorski, Stanislaw Stomma und viele andere trugen zu dem beginnenden Versöhnungsprozess
bei. Weitsichtige polnische Intellektuelle, unter ihnen mein Freund Bronislaw Geremek,
erkannten sehr früh, daß der Weg Polens nach Europa nur über die Wiedervereinigung
Deutschlands führen
konnte. Welch eine Weitsicht 20 Jahre nach dem Menschheitsverbrechen Auschwitz! Ohne
diese mutigen Visionäre, ohne die polnische Solidarnosc und den durch sie in Gang
gesetzten inneren Auflösungsprozess der Sowjetherrschaft, ohne den Einfluß des polnischen Freiheitsstrebens auf die friedliche Revolution in der DDR wäre die Geschichte der
deutschen Einheit zweifellos anders und weniger glücklich verlaufen.
Meine Damen und Herren,
nach 1990 eröffnete sich für Polen und Deutsche eine historische Chance für eine grundlegende
Neubestimmung ihres Verhältnisses. Das vereinte Deutschland und das befreite Polen
waren vielleicht zum ersten Mal seit der Entstehung der Nationalstaaten wirklich offen und bereit für eine zukunftsgewandte Nachbarschaftspolitik in einem gemeinsamen
Europa. Es ist heute unser Ziel, das Verhältnis zu Polen
ähnlich eng wie das zu Frankreich zu gestalten.
Angesichts der tragischen Geschichte ist das zwischen Polen und Deutschen in nur einer
Dekade an politischer und menschlicher Nähe Erreichte mehr als wir hoffen konnten.
Wir sollten aber nicht übersehen, das dieser Zustand noch jung ist und deshalb weiter
einer besonderen Pflege und Aufmerksamkeit bedarf. Für die Deutschen bedeutet dies,
daß sie der aus der Geschichte gegenüber Polen erwachsenen Verantwortung verpflichtet
bleiben: Wir sind aufgerufen, die Erinnerung an das begangene Unrecht wachzuhalten
und den Opfern
der Nazi-Herrschaft moralische Genugtuung zu gewähren. Die Bundesregierung wird sich
mit allem Nachdruck darum bemühen, daß die Leistungen der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung,
Zukunft" ehemalige Zwangsarbeiter schnellstmöglich erreichen.
Wir sind aufgerufen, in unserem Land allen Formen von Nationalismus, Rassismus und
Antisemitismus den entschiedenen Kampf von Staat und Gesellschaft anzusagen. Von
Deutschland darf nie wieder Rassismus und Gewalt gegen Menschen anderer Herkunft
oder Hautfarbe oder gar Antisemitismus ausgehen! Literatur und Kunst kommen hier eine zentrale
Rolle zu, denn nur über die geistige Auseinandersetzung können Toleranz und Verständnis
für den anderen wachsen.
Wir haben eine historische Verantwortung, den Polen, die durch die verbrecherische
Politik des Dritten Reiches für fast ein halbes Jahrhundert hinter den Eisernen Vorhang
gerieten, so rasch wie möglich den Weg in die Europäische Union zu eröffnen.
Europa, das ist unsere gemeinsame Zukunft. Polens größter Dichter, Adam Mickiewicz,
hat schon vor über 160 Jahren festgestellt: "Die Lage Europas ist heute so, daß ein
Volk unmöglich den Weg des Fortschritts getrennt von den anderen Völkern beschreiten
kann, ohne sich selbst und
somit die gemeinsame Sache zu gefährden."Diese Prophezeiung war ihrer Zeit weit voraus,
aber mit der europäischen Integration ist sie tatsächlich Wirklichkeit geworden.
Durch dieses völlig neue Prinzip ist es gelungen, im Westteil unseres Kontinents
die alten europäischen Gespenster, Hegemonialstreben, militärische Suprematie, prekäre
Gleichgewichte und Koalitionen, deren Opfer Polen wie wohl kein
zweites europäisches Land immer wieder geworden war, dauerhaft
zu überwinden.
Die Erweiterung ist heute das wichtigste Ziel für die EU. Und diese Erweiterung der
EU ist nicht nur eine ökonomische und politische Herausforderung, sondern vor allem
auch eine kulturelle Aufgabe. Nach fast fünf Jahrzehnten der Teilung muss Europa
jetzt auch weiter kulturell zusammenwachsen. Und Polen kommt dabei eine überragende Rolle
zu. Die Erweiterung stellt nicht nur einen Akt historischer
Gerechtigkeit und für Deutschland einen enormen Zugewinn an
Stabilität dar; die europäische Einigungsidee würde auch substantiell beschädigt werden,
wenn die ostmitteleuropäischen Demokratien keine Aufnahme in die Europäische Union
finden würden. Erst wenn Polen, Tschechien und unsere anderen östlichen Nachbarn
Vollmitglieder in der EU geworden sind, wird das durch den Kalten Krieg entstandene,
in seinen historischen Ursachen aber sehr viel weiter zurückreichende Ungleichgewicht
in Europa überwunden sein. Deutschland wird deshalb alles tun, um die Osterweiterung
so schnell wie möglich zu verwirklichen.
Der polnische Wunsch nach mehr Berechenbarkeit im Erweiterungsprozess ist verständlich.
Die EU sollte so rasch wie m glich einen Fahrplan entwickeln, der die wichtigsten
weiteren Etappen aufzeigt. Ich wünsche mir, daß die erste Gruppe spätestens am Beginn
des Jahres 2005 beitreten kann; wenn es geht, auch früher. Deutschland legt nachdrücklich
Wert darauf, daß Polen beim nächsten Beitrittsschritt dabei ist. Für uns gehört Polen
eindeutig dazu, das sei allen Zweiflern klar gesagt.
Mit den Beschlüssen von Helsinki hat die EU die Weichen in Richtung einer Union von
bis zu 30 Mitgliedern gestellt. Ich habe in meiner Rede an der Berliner Humboldt-Universität
ausgeführt, warum dies nur zweierlei bedeuten kann, entweder Erosion durch den Verlust von
Handlungsfähigkeit, oder aber weitere Integration, durch eine
Demokratisierung, den Umbau der Institutionen und eine klare
Souveränitätsteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten in
einem Verfassungsvertrag.
Die Debatte über die Zukunft Europas und seiner künftigen Verfassung ist in diesem
Jahr in Gang gekommen, und es freut mich besonders, daß sich auch die Beitrittsländer
hieran beteiligen. Wir wünschen uns, daß Polen diese Diskussion so führt, als wäre
es heute schon Mitglied.
Wir Deutsche werden uns dafür einsetzen, daß Polen und die
anderen Kandidaten die europäische Verfassungsdebatte schon vor ihrem Beitritt mitgestalten
können.
Die Kernfrage dabei wird die Frage nach der Souveränitätsteilung sein. Wir werden
einerseits mehr "Europa" brauchen, um unsere gemeinsamen europäischen Interessen
in einer sich globalisierenden Welt zu behaupten. Zugleich wird der europäische Nationalstaat mit seinen
kulturellen und demokratischen Traditionen unersetzlich bleiben.
Die Nationen von morgen werden sich weniger politisch, dafür aber umso stärker kulturell
definieren. Ein ausgeprägtes kulturelles Selbstverständnis wird für die nationale
und die persönliche Identität der Menschen in einer von europäischer Integration
und Globalisierung
geprägten Welt von noch größerer Bedeutung sein als bisher. Einheit in Vielfalt, dies
bedeutete europäische Kultur schon in der Antike, und dies wird auch im Europa der
Zukunft so bleiben.
Die polnische Literatur hatte seit den Zeiten der Teilung die Aufgabe, den Geist und
die Kultur und damit den Zusammenhalt der Nation gegen die jeweils herrschenden politischen
Möchte aufrechtzuerhalten. Nation und Freiheit haben sich dabei aufs Engste miteinander verbunden. Die Literatur Polens ist zugleich immer auch Vermittler einer
weit ins
Mittelalter zurückreichenden Europa-Idee gewesen, einer Idee, deren lebendige Kraft
und Tiefe uns heute im Westen sehr beeindruckt. Es ist diese doppelte, nationale
und europäische Dimension, die sich auch in den beiden großen Themen Freiheit und
Solidarität bündelt, für die Polen mehr als andere steht, die den besonderen Beitrag Polens
zur europäischen Kultur ausmacht. Polen und seine Literatur werden Europa bei seiner
Suche nach einer neuen Gestalt und Identität sehr bereichern. In diesem Sinne freuen
wir uns auf die Bücher und die Autoren, die uns hier in Frankfurt, der Stadt des Euro,
erwarten.
17.10.2000
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