"Berliner Rede" von Bundespräsident Johannes Rau am 18. Mai 2001im Otto-Braun-Saal
der Staatsbibliothek zu Berlin:
"Wird alles gut? - Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß."
I.
Fast täglich erreichen uns atemberaubende Meldungen aus Wissenschaft und Forschung.
Gerade die so genannten Lebenswissenschaften lassen uns staunen, in welche Bereiche
der Natur wir vordringen können. Lange schon hat uns der Fortschritt in Biologie
und Medizin nicht mehr so stark bewegt wie heute. Krankheiten, die wir für unbesiegbar gehalten
hatten, scheinen heilbar zu werden. Genetische Defekte lassen sich möglicherweise
korrigieren. Neue Pflanzensorten sollen den Hunger ganzer Weltregionen stillen. Heute scheinen Menschheitsträume wahr zu werden. Wir werden zu Mitspielern der Evolution.
Gleichzeitig werden Ängste wach.
Wir erleben ja höchst Widersprüchliches: Einerseits hören wir, schon bald solle der
erste Mensch geklont werden. Auf der anderen Seite sind wir nicht imstande, eine
seit Jahrhunderten bekannte Tierseuche in den Griff zu bekommen. Wir hören, dass
sich menschliche Eigenschaften künftig vorherbestimmen lassen - und gleichzeitig können wir
nicht verhindern, dass neue Krankheiten sich ausbreiten. Manche fragen besorgt: Werden
wir zu Zauberlehrlingen? Setzen wir Entwicklungen in Gang, deren Folgen wir weder
überblicken noch beherrschen können?
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Möglichkeiten stellen uns vor grundsätzliche
Fragen:
* Wie gehen wir mit der Natur um?
* Wie gehen wir mit der Gattung Mensch um?
* Was bedeutet Fortschritt heute?
Es geht aber auch um ganz praktische Fragen:
* Werden in der Forschung und in der Wissenschaft die richtigen
Schwerpunkte gesetzt oder lassen wir uns von bestimmten Moden
leiten?
* Kümmern wir uns um die Luxusprobleme von wenigen?
* Vernachlässigen wir darüber Forschungsfelder, die für viele
Menschen überlebenswichtig sind?
Hier wirft die Wissenschaft Fragen auf, die uns alle angehen. Sie müssen in der ganzen
Gesellschaft diskutiert und dann politisch entschieden werden - im Parlament. Gerade
die Wissenschaftler, die Forscher und Ingenieure haben einen Anspruch auf klare
Rahmenbedingungen. Wir verdanken ihnen viel von dem, was wir gewöhnlich Lebensqualität
nennen. Sie arbeiten auf vielen Feldern an besseren Lebensbedingungen für uns, auch
da, wo es nicht um spektakuläre Durchbrüche geht. Wir alle leben von der Neugier
der Forscherinnen und Forscher, von ihrer beharrlichen Arbeit, von ihrer Leidenschaft
für die Sache. Ihre Leistungen verdienen hohe Anerkennung und breite Unterstützung.
Darum will ich gerade junge Menschen
ermutigen, in Wissenschaft und Forschung zu arbeiten.
Heute möchte ich dazu beitragen, dass wir in all unseren Debatten Ausschau halten
nach dem, was ich das menschliche Maß nenne. Ich möchte dabei den Blick auf jenen
Bereich der neuen Möglichkeiten richten, in dem die Veränderungen so dramatisch sind
wie sonst nirgendwo - den Umgang mit dem menschlichen Leben.
II.
Wer von "Maß" spricht, der spricht von Grenzen. Ohne Grenzen, ohne Begrenzung, gibt
es kein Maß. Aber ist das nicht ein Widerspruch: von Fortschritt und zugleich von
Grenzen zu sprechen? "Denken heißt überschreiten" - das war das Motto von Ernst Bloch,
dem großen deutschen Philosophen der Hoffnung. Ja: Denken - forschen, wissen, entdecken
- das heißt überschreiten. Wir wissen aber auch: Jedes Überschreiten von Grenzen
stellt uns immer wieder vor neue, vor Grenzen der Erkenntnis, vor Grenzen dessen,
was wir Menschen können und was wir verantworten können. Dafür brauchen wir Maßstäbe, die
uns unterscheiden helfen, was wir tun dürfen und was wir nicht tun dürfen. Wir müssen
uns die nur scheinbar einfache Frage vorlegen: Was ist gut für den Menschen?
Was aber ist dem Menschen gemäß? Was ist das "Menschliche" am "menschlichen Maß?"
Ist nicht gerade "das Menschliche" eine sehr vieldeutige Kategorie? In seinem Schauspiel
"Antigone" hat Sophokles vor fast 2.500 Jahren die großen Leistungen und Erfindungen
der Menschheit benannt. Und er fasst sein Staunen darüber so zusammen:
"Ungeheuer ist viel, nichts aber ist ungeheurer als der Mensch". Heute staunen wir
wieder - wie damals Sophokles - über die ungeheuren Leistungen, die uns Menschen
möglich sind - und manches Mal halten wir erschreckt inne.
III.
Die Antworten auf die Frage: "Was ist gut für den Menschen?" finden wir weder in der
Natur noch in unseren technischen Möglichkeiten. Wir können sie nur finden, wenn
wir ethische Grundsätze für unser persönliches Leben und für das Zusammenleben von
Menschen formulieren, achten und selber leben. Ganz gleich, was wir tun oder nicht tun, wir
treffen ja immer wertende Entscheidungen - gewollt oder unbedacht, bewusst oder unbewusst.
Auch wenn wir über die neuen Möglichkeiten der Lebenswissenschaften sprechen, geht es nicht in erster Linie um wissenschaftliche oder technische Fragen. Zuerst und
zuletzt geht es um Wertentscheidungen. Wir müssen wissen, welches Bild vom Menschen
wir haben und wie wir leben wollen. Ethische Grundsätze zu formulieren, das bedeutet,
sich auf Maßstäbe und Grenzen zu verständigen.
Nun ist es immer leicht, die Trauben zu verschmähen, die unerreichbar hoch hängen.
Schwierig ist es, Grenzen da zu setzen und zu akzeptieren, wo man sie überschreiten
könnte und sie sogar dann zu respektieren, wenn man dadurch auf bestimmte Vorteile
verzichten muss. Ich glaube aber, dass wir genau das tun müssen. Ich glaube, dass es
Dinge gibt, die wir um keines tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteiles willen tun
dürfen. Tabus sind keine Relikte vormoderner Gesellschaften, keine Zeichen von Irrationalität.
Ja, Tabus anzuerkennen, das kann ein Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns sein.
IV.
In der Diskussion über die Möglichkeiten der Lebenswissenschaften spielen Hoffnungen
eine ganz große Rolle. Die Heilung von schweren und schwersten Krankheiten: Das ist
es, was viele Menschen sich in erster Linie von den Fortschritten in der Bio- und
Gentechnik versprechen. Viele leiden so sehr, dass sie und ihre Angehörigen inständig
Heilungsmöglichkeiten und Linderungen herbeisehnen. Die meisten von uns kennen kranke
Menschen, denen unsere Ärztinnen und Ärzte heute nicht oder nicht genug helfen können.
Wer versteht nicht, dass sie auf jede Entwicklung setzen, die ihnen Hilfe verspricht? Überall auf der Welt wird zum Glück an Arzneimitteln und Behandlungsformen geforscht
und gearbeitet, die kranken Menschen helfen sollen. Das geschieht - mit guten Aussichten
- auch mit solchen Methoden der Bio- und Gentechnik, die niemanden in Gewissensnöte zu bringen brauchen. Diese Forschung verdient jede Ermutigung und Unterstützung.
Es gibt in der Tat große Aufgaben: Denken wir nur an einige Krankheiten, die uns in
unserem Teil der Welt täglich gegenwärtig sind: Diabetes, Krebs, Multiple Sklerose,
Parkinson, Alzheimer. Vergessen wir aber nicht, dass in anderen Teilen der Welt Hunderte von Millionen Menschen noch mit ganz anderen Krankheiten zu kämpfen haben. Dabei
denke ich nicht nur an AIDS, das für weite Teile des afrikanischen Kontinents eine
noch weit größere Bedrohung ist als für uns, ich denke an Malaria, an Hepatitis oder
an Parasitenbefall, an dem fast die Hälfte der Weltbevölkerung leidet. Hier reichen manchmal
wenige Mittel, um ganz vielen leidenden Menschen wirkungsvoll zu
helfen. Wenn wir uns in Wissenschaft und Forschung zusätzlich anstrengen, dann können
wir für Millionen Menschen weltweit außerordentlich großen Nutzen bringen. Ich bin
fest davon überzeugt, dass wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne dass Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel
Raum diesseits des Rubikon.
V.
Wenn ich von manchen Verheißungen angesichts der großen Möglichkeiten der Lebenswissenschaften
höre, dann erinnert mich das an die Euphorie, die viele in den fünfziger und sechziger
Jahren erfasst hatte. Damals ging es um die friedliche Nutzung der Atomenergie, die auch ich lange Jahre für den richtigen Weg gehalten habe. Damals träumten
viele - nicht nur Wissenschaftler - von nie versiegender Energie zu konkurrenzlos
niedrigen Preisen. Die Atomenergie sollte alles möglich machen: Wüsten zum Blühen
bringen, Autos zum Fahren und sie sollte sogar das Sprengen für den Straßenbau erleichtern.
Heute staunen die meisten über so viel Naivität und über so viel schlichten Glauben
an den Fortschritt.
Als der Deutsche Bundestag am 3. Dezember 1959 das Gesetz über die friedliche Nutzung
der Kernenergie verabschiedete, hat sich ein Abgeordneter der Stimme enthalten -
ein Physiker übrigens. Alle anderen haben dafür gestimmt. Die Kernenergie zu nutzen,
das erschien als das Selbstverständlichste von der Welt. An die Brisanz vieler
Probleme, zum Beispiel der Entsorgung, hat man zu wenig gedacht und andere hat man
sich gar nicht erst vorstellen können. Das sollte uns ein wenig skeptisch machen,
wenn neue Technologien das Paradies auf Erden zu versprechen scheinen. Vielleicht
hat Ernst Bloch an solche Situationen gedacht, als er einen Satz Hölderlins umkehrte und warnte:
"Wo aber das Rettende naht, wächst auch die Gefahr".
VI.
Was in der Biotechnologie und in der Fortpflanzungsmedizin geschieht oder möglich
ist, das hat in einem wesentlichen Punkt eine völlig neue Qualität: Da geht es nicht
mehr allein um technologische Chancen und Risiken für Mensch und Umwelt. Zum ersten
Mal scheint die Menschheit fähig, den Menschen selber zu verändern, ja ihn genetisch neu
zu entwerfen. Angesichts der moralischen Dimension dieser Fragen wird es niemanden
erstaunen, dass die Kirchen hier besonders engagiert sind. Es wäre aber ein Irrtum,
zu glauben, es handelte sich dabei um bloße kirchliche Sondermoral. Man muss ja wahrlich
kein gläubiger Christ sein, um zu wissen und zu spüren, dass bestimmte Möglichkeiten
und Vorhaben der Bio- und Gentechnik im Widerspruch zu grundlegenden Wertvorstellungen
vom menschlichen Leben stehen. Diese
Wertvorstellungen sind - nicht nur bei uns in Europa - in einer mehrtausendjährigen
Geschichte entwickelt worden. Sie liegen auch dem schlichten Satz zu Grunde, der
in unserem Grundgesetz allem anderen vorangestellt ist: Die Würde des Menschen ist
unantastbar. Diese Wertvorstellungen zieht niemand ausdrücklich in Zweifel. Wir können es
uns aber auch nicht leisten, ethische Überzeugungen unbewusst oder schweigend aufzugeben
oder sie zur Privatangelegenheit zu erklären.
Wir müssen uns darüber klar sein, was die Folgen wären, wenn wir den Wertekanon, den
wir in einer langen Geschichte entwickelt haben, als Grundlage allen staatlichen
Handelns in Frage stellten. Würden wir dann nicht die Gefangenen einer Fortschrittsvorstellung, die den perfekten Menschen als Maßstab hat? Würden damit nicht Auslese und schrankenlose
Konkurrenz zum obersten Lebensprinzip? Das wäre eine völlig andere, eine neue Welt
- keine schöne. Nach meinem Eindruck haben sich solche Vorstellungen durchaus schon verbreitet. Das zeigen manche Argumente, die man zuweilen in der Debatte über
Fragen der Gentechnologie hören kann. Die Optimierung zum Stärksten und Besten wird
zu einer selbstverständlichen Vorstellung. Wird dann nicht der menschliche Körper
selber zur Ware und zu einem Gegenstand
ökonomischen Kalküls?
Selbstverständlich: Wirtschaftliche Argumente haben einen legitimen Platz in der Debatte
über die Nutzung des medizinischen Fortschritts. Für Arbeitsplätze zu sorgen, für
gesicherte Lebensverhältnisse - das ist natürlich auch eine ethisch begründete Verpflichtung. Dazu gehört Unternehmergeist. Dazu gehört das Streben nach wirtschaftlichem
Erfolg. Dazu gehört politische Leistung. Die Teilhabe aller an Fortschritt und Wohlstand
ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Entscheidend sind aber doch Rangordnung und Gewichtung der Argumente. Wir sind uns gewiss einig darüber, dass etwas ethisch Unvertretbares
nicht dadurch zulässig wird, dass es wirtschaftlichen Nutzen verspricht. Wo die Menschenwürde
berührt ist, zählen keine wirtschaftlichen Argumente. Zur Ernsthaftigkeit und zur Lauterkeit gehört es aber auch, dass ethische Argumente nicht dazu missbraucht
werden, andere Interessen durchzusetzen.
VII.
Eine der Schwierigkeiten der Debatte, die wir führen müssen, liegt darin, dass die
wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen so schnell voranschreiten. Wir kommen
kaum noch dazu, ihre Chancen und ihre Risiken kritisch zu reflektieren. Beschleunigung, wachsender Zeitdruck sind aber selbstgemachte Sachzwänge, denen wir uns nicht ausliefern
dürfen. Ethische Reflexion darf nicht zum moralischen
Deckmantel für längst getroffene Entscheidungen verkommen. Nachdenken kann man nur,
wenn zwischen Entdeckung und Anwendung Zeit bleibt, wenn wir die möglichen Folgen
bedenken können, bevor sie eingetreten sind. Es hat ja gute Gründe, dass zum Beispiel
Medikamente erst nach angemessener Zeit und nach sorgfältiger Prüfung für die allgemeine
Praxis zugelassen werden. Wo kommen wir hin, wenn wir über gravierende Veränderungen
erst dann nachdenken können, wenn sie schon längst
eingetreten sind?
VIII.
Bei uns in Deutschland darf an Embryonen nicht geforscht werden. Das haben die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages aus ganz unterschiedlichen Überzeugungen heraus im Jahre
1990 beschlossen. Sie haben als Beginn des schutzwürdigen menschlichen Lebens die befruchtete Eizelle festgelegt. Wer die Auffassung nicht teilt, dass menschliches
Leben mit diesem Zeitpunkt beginnt, der muss die Frage beantworten: Ab welchem anderen
Zeitpunkt sollte menschliches Leben absolut geschützt werden? Und warum genau erst
ab diesem späteren Zeitpunkt? Wäre nicht jede solche andere Grenzziehung willkürlich
und dem Druck auf neuerliche Veränderung ausgesetzt? Bestünde nicht die Gefahr, dass
andere Interessen dann höher rangierten als der Schutz des Lebens? Nicht jedem scheint
klar zu sein, was das über diese spezielle Debatte hinaus bedeutet. Es würde bedeuten,
das ethisch Verantwortbare stets neu den technischen Möglichkeiten anzupassen. Auch
hochrangige Ziele wissenschaftlicher Forschung dürfen nicht darüber bestimmen, ab
wann menschliches Leben geschützt werden soll.
IX.
Manche fordern, dass auch in Deutschland die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID,
erlaubt werden soll. Dabei geht es um die Frage: Soll bei einer künstlichen Befruchtung
ein Embryo auf genetische Schäden untersucht werden, bevor er in den Körper einer
Frau eingepflanzt wird? Darf der Embryo beseitigt oder darf er verwertet werden, wenn
solcher Schaden festgestellt wird? Dieses Verfahren - so sagen seine Befürworter
- soll nur in ganz wenigen Fällen angewendet werden, nämlich bei Paaren, bei denen
mit schweren Erbschäden gerechnet werden muss. Selbst nach Auffassung ihrer Befürworter
handelt es sich also um eine Methode, die so problematisch ist, dass sie nur ganz
selten eingesetzt werden soll - obwohl sie in Tausenden von Fällen angewendet werden
könnte.
Aber müssen wir nicht fragen: Wäre eine solche Beschränkung einzuhalten, wenn die
Erlaubnis einmal grundsätzlich gegeben ist? Widerspricht das nicht aller Lebenserfahrung?
Und muss man deshalb nicht die Befürchtungen jener verstehen, die glauben, dass mit
dieser neuen Form von Diagnostik die Tür geöffnet wird oder geöffnet werden soll zu
ganz anderen Zielen. Nun wird gesagt, die PID könne man schon
deswegen nicht verbieten, weil bei uns jedes Jahr Tausende von Abtreibungen straflos
bleiben. Dieses Argument übersieht, dass es sich hier um zwei vollkommen unterschiedliche
Sachverhalte handelt.
Erinnern wir uns an die schwierige Debatte zum Paragraf 218: Eine breite Mehrheit
der Abgeordneten des Deutschen Bundestages war der Überzeugung, dass das Leben des
Kindes nicht gegen den Willen der Frau geschützt werden kann und dass Beratung und
praktische Unterstützung das Leben besser schützen als Strafandrohung. Darum stellt der Paragraf
218 eine Abtreibung unter bestimmten Bedingungen straffrei. Er ist also kein Argument
für die Präimplantationsdiagnostik, denn er zielt auf die unvergleichbare Konfliktsituation während einer Schwangerschaft. Er rechtfertigt keine Praxis, die das Tor
weit öffnet für biologische Selektion, für eine Zeugung auf Probe.
X.
Kinder sind ein Geschenk. Ich weiß, wie bitter es für viele ist, wenn sie keine Kinder
bekommen können. Wenn es die Möglichkeit gibt, Kinder künstlich zu erzeugen oder
die genetischen Anlagen eines Embryos zu testen - entsteht dann nicht leicht eine
Haltung, dass jede und jeder, der eigene Kinder bekommen will, auch das Recht dazu habe
- und zwar sogar das Recht auf gesunde Kinder? Wo bisher unerfüllbare Wünsche erfüllbar
werden oder erfüllbar scheinen, da entsteht daraus schnell ein Anschein von Recht.
Wir wissen aber doch, dass es ein solches Recht nicht gibt. Noch so verständliche Wünsche
und Sehnsüchte sind keine Rechte. Es gibt kein Recht auf Kinder. Aber es gibt sehr
wohl
ein Recht der Kinder auf liebende Eltern - und vor allem das Recht darauf, um ihrer
selbst willen zur Welt zu kommen und geliebt zu werden.
XI.
Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Einzelnen gehören spätestens
seit der Aufklärung zu den großen Errungenschaften unserer Zivilisation. Die Entscheidungsfreiheit
des Einzelnen hat herausragende Bedeutung. Das darf uns den Blick nicht dafür verstellen, dass auch Selbstbestimmung an Voraussetzungen gebunden ist und Grenzen
hat. Wir sollten auch bedenken: Nicht jede zusätzliche Wahlmöglichkeit führt automatisch
zu mehr Freiheit. Das gilt auch für den medizinischen Fortschritt. Was wie freie Selbstbestimmung aussieht, kann sich umkehren in faktischen Zwang.Das wird besonders
deutlich, wenn wir an das denken, was moderne Diagnosemöglichkeiten für unseren Umgang
mit Behinderungen bedeuten könnten. Wird nicht in Zukunft immer häufiger die Frage gestellt werden, ob es denn nötig gewesen sei, ein behindertes Kind zur Welt zu
bringen? Heute sei doch niemand mehr dazu gezwungen. Wird so Behinderung vorwerfbar
werden? Wird sie als Schädigung der Gesellschaft verstanden werden?
XII.
Wie scheinbare Selbstbestimmung neue Zwänge erzeugen kann, das lässt sich an einem
Beispiel aus jüngster Zeit zeigen. In den Niederlanden ist kürzlich die gesetzliche
Grundlage für aktive Sterbehilfe geschaffen worden. Umfragen weisen darauf hin, dass
es auch bei uns für eine solche Regelung eine weit verbreitete Stimmung gibt. Auch in
dieser Diskussion wird die Selbstbestimmung des Menschen, seine Autonomie, als wichtigstes
Argument genannt. Wo es um das Ende des eigenen Lebens geht, scheint dieses Argument auf den ersten Blick besonders zu überzeugen. Aber gilt nicht, was ein Arzt vor
kurzem so formuliert hat: "Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen
ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens
aufbürdet". Was die Selbstbestimmung des Menschen zu stärken scheint, kann ihn in Wahrheit erpressbar
machen.
Dem steht das Argument entgegen, man dürfe etwas nicht allein deshalb verbieten, weil
es zu ungewollten schlimmen Konsequenzen oder auf eine schiefe Bahn führen könne.
Entsprechende Regelungen könnten Fehlentwicklungen verhindern. Spricht aber nicht
sehr viel gegen die Hoffnung, dass Fehlentwicklungen oder gar Missbrauch sich aufhalten
ließen? Das ist keine akademische Frage. In den Niederlanden berufen sich die Gegner
des neuen Gesetzes auf eine staatlich geförderte wissenschaftliche Studie. Sie hatte
zum Ergebnis, dass es während der sogenannten Erprobungsphase vor der gesetzlichen Regelung
der aktiven Sterbehilfe jährlich 1.000 Fälle gab, in denen, ich zitiere, "lebensbeendende
Handlungen ohne ausdrücklichen Wunsch" des Getöteten
vorgenommen worden sind. Auch das sollte man sich vor Augen führen, wenn man über
aktive Sterbehilfe spricht.
XIII.
Wenn ich es recht sehe, sind deshalb so viele Menschen für aktive Sterbehilfe, weil
sie große Angst davor haben, am Ende ihres Lebens Leid und Schmerzen nicht mehr auszuhalten,
ihnen hilflos ausgeliefert zu sein. Sie haben Angst davor, alleingelassen zu sein oder anderen zur Last zu fallen. Sie haben Angst davor, Schmerzen nicht mehr
ertragen zu können und würdelos dahinzusiechen. Ich verstehe diese Angst gut. Ich
habe sie auch. Die aktive Sterbehilfe ist aber nicht die einzig mögliche Antwort
auf diese verständliche Verzweiflung. Ja, wir brauchen einen anderen Umgang mit dem
Sterben und dem Tod. Wir müssen wieder lernen: Es gibt viele Möglichkeiten, sterbenskranken
Menschen beizustehen, sie zu trösten und ihnen zu helfen. Oft ist schon entscheidend,
sie nicht allein zu lassen. Die wirksamste medizinische Hilfe ist in vielen Fällen
eine gute Schmerztherapie. Mich hat tief beeindruckt, was neulich einer der Pioniere der
deutschen Schmerztherapie, Prof. Eberhard Klaschik, in einem Interview dazu sagte:
"Ich behandele seit fast 20 Jahren Patienten, die nicht heilbar sind. Viele, die
zu uns kommen, sagen: So kann ich nicht mehr leben, so will ich nicht mehr leben, die Schmerzen
sind zu groß .... All diesen Patienten haben wir helfen können."
Viele Ärzte bestätigen diese Erfahrung. Wenn das so ist, dann ist der Streit um die
aktive Sterbehilfe die falsche Debatte. Wir können und müssen viel mehr als bisher
für die Schmerztherapie tun. Das ist ein Feld, das lange Zeit sträflich vernachlässigt
worden ist. Ich wünsche mir, dass Deutschland bei der Schmerzforschung und der Schmerztherapie
so schnell wie möglich vorbildlich wird. Das ist nun wirklich zutiefst
human und im Interesse eines jeden von uns. Der Blick in die Niederlande oder auch
nach Großbritannien und in andere Länder zeigt: Über den Umgang mit dem Leben und
den Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts wird derzeit überall intensiv und
mit großem Ernst diskutiert. Zum Teil werden bisher geltende Grundsätze tiefgreifend verändert.
Niemand macht sich die Entscheidungen leicht. Ich hielte es für gut, wenn wir uns,
in dem Maße wie Europa weiter zusammenwächst und wie wir uns unserer gemeinsamen
Werte versichern, in Zukunft stärker auch über diese Fragen austauschen würden.
XIV.
Eugenik, Euthanasie und Selektion: Das sind Begriffe, die in Deutschland mit schlimmen
Erinnerungen verbunden sind. Sie rufen deshalb - zu Recht - emotionale Abwehr hervor.
Trotzdem halte ich das Argument für ganz falsch und irreführend, wir Deutsche dürften bestimmte Dinge wegen unserer Geschichte nicht tun. Wenn wir etwas für unethisch
und unmoralisch halten, dann deshalb, weil es immer und überall unethisch und unmoralisch
ist. In fundamentalen ethischen Fragen gibt es keine Geografie des Erlaubten oder
des Unerlaubten. Richtig ist: Die Erfahrung, die wir mit dem Nationalsozialismus gemacht
haben, speziell mit Forschung und Wissenschaft im Dritten
Reich, muss für die ethische Urteilsfindung - nicht nur bei uns - eine ganz wichtige
Rolle spielen. Wir erinnern daran nicht, weil wir moralischer sein wollen als alle
anderen. Nein, es geht nicht um deutsche Sondermoral. Niemand darf vergessen, was
damals auch in Wissenschaft und Forschung geschehen ist. Entwicklungen, die schon vor
1933 und auch in anderen Ländern begonnen hatten, konnten dann ohne jede Grenze weiter
gehen. Eine entfesselte Wissenschaft forschte - um ihrer wissenschaftlichen Ziele
willen - ohne moralische Skrupel.
Ich erinnere immer wieder daran, dass die Geschichte uns hilft - nicht nur uns Deutschen
- zu begreifen, was geschieht, wenn Maßstäbe verrückt werden, wenn Menschen vom Subjekt
zum Objekt gemacht werden. Wer einmal anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden, der
ist in Wirklichkeit auf einer Bahn ohne Halt. Die Erinnerung daran ist
ein immerwährender Appell: Nichts darf über die Würde des einzelnen Menschen gestellt
werden. Sein Recht auf Freiheit, Selbstbestimmung und auf Achtung seiner Würde darf
keinem Zweck geopfert werden. Eine Ethik, die auf diesen Grundsätzen beruht, gibt
es freilich nicht umsonst. Es hat einen Preis, wenn wir nach ethischen Grundsätzen handeln.
XV.
Weil es hier im wahrsten Sinne des Wortes um existenzielle Fragen geht, muss ganz
besonders gelten: Wenn wir begründete Zweifel haben, ob wir etwas technisch Mögliches
tun dürfen oder nicht, dann muss es so lange verboten sein, bis alle begründeten
Zweifel ausgeräumt sind. Ich kenne den Satz: "Die Anderen tun es doch auch". Aber wir sagen
doch schon unseren Kindern, dass sie tun müssen, was richtig ist, ganz gleich, was
andere machen. Und wir akzeptieren dieses Argument ja auch nicht im Falle von Kinderarbeit, von Sklaverei oder bei der Todesstrafe. Das gleiche gilt für das ähnliche Argument:
"Wenn wir es nicht tun, dann tun es die Anderen". Dieses Argument ist Ausdruck ethischer
Kapitulation. Es scheint allerdings dann besonders stichhaltig zu sein, wenn es ökonomisch aufgeladen wird: Wenn wir dies und jenes nicht tun, dann tun es andere
- und die setzen sich dann an die Spitze des Fortschritts, die verschaffen sich Standortvorteile,
die verdrängen uns vom Markt.
Mit diesem Argument müssten wir zum Beispiel auch unbegrenzten Rüstungsexport betreiben.
Das tun wir aber nicht. Zu Recht - und letztlich auch nicht zu unserem Schaden. Ich
wiederhole: Ökonomische Interessen sind legitim und wichtig. Sie können aber nicht
gegen die Menschenwürde und den Schutz des Lebens aufgewogen werden. Wer den Schutz
des Lebens an seinem Beginn aufgibt, der wird das bald auch für das Ende des Lebens
geltend machen können. Dann wird vielleicht gefragt: Können wir uns den hohen Pflegeaufwand am Ende des Lebens leisten? Wäre es nicht ökonomisch vernünftiger, Alte und Kranke
willigten rechtzeitig in die Sterbehilfe ein? Ich weiß, dass niemand so etwas vorschlägt.
Aber wir alle wissen auch, dass beste Absichten oft nicht verhindern können, dass schließlich geschieht, was anfangs niemand wollte. Und ich weiß auch, dass schon
heute alte Menschen sich solchen Fragen drangvoll ausgesetzt fühlen.
XVI.
Die Fortschritte in den Lebenswissenschaften wecken zum Glück auch die berechtigte
Hoffnung, dass wir vieles verbessern können. Wir alle wünschen uns, dass Krankheiten
immer genauer erforscht und immer wirksamer behandelt werden können. Gentechnik und
Genomforschung spielen dabei eine wichtige Rolle. Ja, ich bin zuversichtlich: vieles
wird besser werden. Aber glauben wir nicht den falschen Propheten, die uns sagen:
Alles wird gut. Gegen alle Heilsversprechungen und gegen alle Ohnmachtgefühle sage
ich: Fortschritt nach menschlichem Maß kennt seinen Wert und weiß um seine Werte.
Das Gegenteil von unbegrenztem Fortschritt ist nicht Stillstand oder Rückschritt. Wer gegen
einen Fortschritt um jeden Preis plädiert, der ist kein Gegner des Fortschritts.
Um unserer Freiheit willen müssen wir fragen: Was von den vielen neuen Möglichkeiten
ist gut? Was müssen wir unbedingt versuchen? Was dürfen wir keinesfalls tun? Unser
Umgang mit diesen Fragen muss geprägt sein vom Respekt vor dem Leben von Anfang an.
Die Würde des Menschen lässt sich gegen keinen anderen Wert aufrechnen. Das Leben erinnert
uns immer wieder daran, dass wir Menschen - bei allem Fortschritt - immer endliche
Wesen bleiben. Wenn wir so tun, als seien unsere Möglichkeiten grenzenlos, überfordern wir uns selber. Dann verlieren wir das menschliche Maß.
XVII.
Die Fragen nach Leben und Sterben betreffen uns alle. Darum dürfen sie nicht allein
die Sache von Experten sein. Wir können unsere Antworten nicht delegieren: Nicht
an die Wissenschaft, nicht an Kommissionen und nicht an Räte. Sie können uns gewiss
helfen, aber wir müssen die Antworten selber geben. Wir müssen über diese Fragen streiten
und dann gemeinsam entscheiden. Es geht um politische Entscheidungen. Wer die
Entscheidungen über das, was gemacht werden soll, der Wissenschaft überlassen will,
der verwechselt die Aufgaben von Wissenschaft und Politik in einem demokratischen
Rechtsstaat.
Wir brauchen eine fundierte und gewissenhafte öffentliche Diskussion, in der nichts
unausgesprochen bleibt: Weder die Absichten noch die Ziele, weder die Hoffnungen
noch die Ängste, die sich mit den neuen Möglichkeiten verbinden. Wir brauchen Aufklärung
im besten Sinn des Wortes. Aufklärung richtet sich gleichermaßen gegen irrationale Ängste
und apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische
Machbarkeitsphantasien. Wir müssen uns gemeinsam immer wieder neu darauf verständigen,
welche Richtung wir dem Fortschritt geben wollen. Wir müssen immer wieder neu entscheiden,
welche Grenzen wir überschreiten und welche Grenzen wir akzeptieren wollen. Wir müssen immer wieder wägen und entscheiden, welche Möglichkeiten unser Leben wirklich
freier machen und welche Möglichkeiten uns bloß neuen Zwängen unterwerfen oder gar
in das Leben anderer eingreifen.
Die Zukunft ist offen. Sie ist kein unentrinnbares Schicksal und kein Verhängnis.
Sie kommt nicht einfach über uns. Wir können sie gestalten - mit dem, was wir tun
und mit dem, was wir nicht tun. Wir haben viele, wir haben große Möglichkeiten. Nutzen
wir sie für einen Fortschritt und für ein Leben nach menschlichem Maß.
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