Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse zum Abschied von Josef Ertl.

Trauerstaatsakt im Deutschen Bundestag am 30.11.2000


Zu Ehren des am 16. November 2000 verstorbenen Bundesministers a.D. Josef Ertl hat Bundespräsident Johannes Rau einen Trauerstaatsakt angeordnet. Der Trauerstaatsakt fand am 30. November 2000 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Berlin statt:

 

Herr Bundespräsident!
Sehr geehrte Familie Ertl!
Verehrte Trauergesellschaft!

Der Deutsche Bundestag gedenkt heute unseres ehemaligen Kollegen Josef Ertl, der am 16. November 2000 den Folgen eines tragischen Unfalls erlegen ist. Josef Ertl war 26 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages und über 14 Jahre Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Er war eine in Bonn wie in Brüssel gleichermaßen bekannte Persönlichkeit. Dennoch hat er nie die Wurzeln seiner Herkunft verleugnet. Im Gegenteil sagte er gerne über sich: "Ich war und bin ein Bauernbub".

Am 7. März 1925 in Oberschleißheim bei München geboren, hat er von frühester Kindheit an die tagtägliche harte Arbeit auf dem elterlichen Einödhof kennen gelernt. Aus einem liberal-katholischen Elternhaus stammend, holte Josef Ertl nach Arbeits- und Wehrdienst das Abitur nach und studierte in München Landwirtschaft. Anschließend schlug er die Beamtenlaufbahn ein. Er heiratete 1953 seine Frau Paula, eine Tochter des ersten Landwirtschaftsministers Hans Niklas. Fast 50 Jahre stand sie ihm zur Seite, hat sein politisches Wirken unterstützt, sich um die drei Söhne gekümmert und Josef Ertl in seinen letzten schweren Lebensjahren unermüdlich versorgt.

Josef Ertl war ein überzeugter Liberaler. Nach Jahren als Abgeordneter im Kreistag München-Land wurde er 1961 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er bis 1987 angehörte. Er war ein sehr pflichtbewusster Parlamentarier, der sich nicht nur im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, sondern auch in anderen Feldern der Politik, so im Gesamtdeutschen Ausschuss, in den Ausschüssen für Entwicklungshilfe sowie für Familien- und Jugendfragen, fachkundig und mit viel Gespür für politische Gestaltungsmöglichkeiten einsetzte.

Er nahm die parlamentarische Arbeit sehr ernst, gerade auch als Minister zwischen 1969 und 1983. Hier sah er sich immer in einer besonderen Verantwortung dem Parlament gegenüber. Auf die kollegiale Zusammenarbeit, vor allem auf die schnelle und umfassende Information der Abgeordneten legte er großen Wert.

Josef Ertl war sich bewusst, dass die Landwirtschaftspolitik in besonderer Weise eines Grundkonsenses in Parlament, Politik und Gesellschaft bedarf. Er hat entscheidend dazu beigetragen, Agrarpolitik als umfassende Wirtschafts-, Gesellschafts- und Sozialpolitik zu verstehen. Sein Eintreten für eine differenziert strukturierte Landwirtschaft mit Groß-, Klein- und Nebenerwerbsbetrieben hat sich als vorausschauend erwiesen.

Josef Ertl war ein glaubwürdiger Interessenwahrer der deutschen Landwirtschaft in Brüssel. Und ebenso engagiert setzte er sich in Deutschland für europäische Agrarpolitik ein. Die Verhandlungen des Agrarministerrates über die Abschaffung des Grenzausgleichs 1972 waren ein herausragendes Beispiel für Ertls Verhandlungsgeschick.

Oft ist seine Fähigkeit zur Kompromissfindung gerühmt worden. Dabei war Josef Ertl keineswegs für diplomatische Formulierungen bekannt, im Gegenteil: Er liebte, so hat es Helmut Schmidt einmal ausgedrückt - eine "offene Gesprächsführung". Ebenso temperament- wie humorvoll wusste der vitale Bayer trefflich zu streiten und zu poltern. Aber er konnte auch zuhören, differenziert argumentieren und auf den Konsens hinarbeiten. Er war und ist Vorbild für eine im besten Sinne umgangssprachliche, für jedermann verständliche politische Sprache, auch und gerade zur Beschreibung komplexer politischer Zusammenhänge. Die Bauern spürten, dass Josef Ertl auch in der hohen Politik in Bonn und Brüssel immer einer von ihnen geblieben war.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt 1983 und dem Abschied vom Deutschen Bundestag Anfang 1987 hatte unser verstorbener Kollege weitere wichtige Ämter inne; zum Beispiel war er Präsident der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft. Dennoch blieb ihm nun mehr Zeit für seine Familie, für sportliche Aktivitäten, wie Skilaufen und Bergwandern und natürlich für die geliebte Arbeit auf dem familieneigenen Bauernhof. Am Ostermontag 1993 wurde er hier zum ersten Mal Opfer eines schweren Unfalls. Mit bewundernswerter Gefasstheit hat der gläubige Katholik Josef Ertl diesen Schicksalsschlag und seine Folgen angenommen. Umso tragischer ist es, dass er nun am gleichen Ort wiederum Opfer eines Unfalls wurde, mit diesmal tödlichen Folgen. Am 16. November 2000 ist er seinen schweren Verletzungen erlegen.

Der Deutsche Bundestag gedenkt eines vorbildlichen Parlamentariers, eines bedeutenden Ministers und eines unverwechselbaren Menschen. Der Familie des Verstorbenen gilt unser tief empfundenes Beileid.

Josef Ertl hat sich um unser Land und um Europa verdient gemacht.


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