Dank an die Bundesversammlung
Dr. h. c. Johannes Rau richtete folgende Worte an die Mitglieder der
Bundesversammlung und an alle Bürger:
Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
ich danke ganz herzlich allen, die mich gewählt haben, und bekunde auch denen meinen
Respekt, die sich für die Mitbewerberinnen entschieden haben, denen ich meinen Respekt
nicht versage. In diesen Tagen habe ich gelegentlich gesagt: An dem Wort Familienbande ist viel Wahres dran.
Aber ich sage jetzt: Es ist für mich nicht nur eine selbstverständliche Pflicht, sondern
auch eine persönliche Verpflichtung, von dem Tag an, an dem ich das Amt des Bundespräsidenten
wahrnehme, über alle Grenzen und über alle Unterschiede hinweg der Bundespräsident aller Deutschen zu sein und der Ansprechpartner für alle Menschen, die ohne
einen deutschen Paß bei uns leben und arbeiten.
Am 9. November der Herr Bundestagspräsident hat heute morgen daran erinnert denken
wir an den Tag vor zehn Jahren, an dem die Mauer gefallen ist. Wir werden uns, wir
müssen uns daran erinnern, daß wir das denen zu verdanken haben, die sich mit Kerzen,
Demonstrationen, Liedern und Gebeten von einem System freigemacht haben, in dem sie
nicht mehr leben wollten. Aber wir dürfen nicht vergessen: Daß ihnen das gelungen
ist, das haben wir Menschen in Warschau, in Prag, in Budapest und in vielen anderen
Ländern zu verdanken, ohne die die deutsche Bürgerrechtsbewegung ihren Erfolg nicht hätte
haben können.
Wir wollen daran erinnern und wir wollen daraus lernen, daß die Deutsche Einheit und
der europäische Einigungsprozeß zwei Seiten einer Medaille sind. Es ist in unserem
eigenen und im europäischen Interesse, daß wir unsere Anstrengungen fortsetzen, damit
die Menschen in allen 16 Ländern der Bundesrepublik gleiche Lebenschancen haben.
Heute vor fünfzig Jahren morgen werden wir in einer besonderen Veranstaltung daran
denken ist das Grundgesetz in Kraft getreten. Ich wünsche mir, daß wir uns, bei
allen
Kontroversen über einzelne Sachfragen und bei allem politischen Streit, den es gibt
und geben muß und immer geben wird, immer wieder neu darauf besinnen, daß wir in
unserer Verfassung etliches unaufgebbar festgeschrieben haben: daß die Würde des
Menschen unantastbar ist da steht nicht: die Würde der Deutschen, sondern da steht: die Würde
des Menschen , daß Frauen und Männer gleiche Chancen und gleiche Rechte haben sollen,
daß das private Eigentum zugleich dem Allgemeinwohl dienen soll.
Es hat auch unter uns eine lange Diskussion gegeben: über das Grundgesetz und
seine Chancen, über das Verhältnis von Vaterlandsliebe, Patriotismus und Nationalismus.
Ich glaube, daß Nationalismus und Separatismus Geschwister sind. Ich
will nie ein Nationalist sein, aber ein Patriot wohl. Ein Patriot ist jemand, der
sein Vaterland liebt; ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen
verachtet. Wir aber wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, in Europa und in der
Welt.
Wir leben in einem Zustand des Krieges, der durch Menschenrechtsverletzungen und durch
schreckliche Verfolgung hervorgerufen worden ist. Ich hoffe und wünsche, daß dieser
Krieg nicht lange dauern muß, und ich hoffe, daß dann, wenn ich mein Amt antrete,
die diplomatischen Bemühungen denen ich, Herr Bundeskanzler, mit ganzem Herzen zustimme
Erfolg gehabt haben, damit möglichst schnell Friede ist und Friede sein kann in
Deutschland und in Europa.
Ich danke allen herzlich, die mir ihr Vertrauen gegeben haben, und ich bitte alle,
ob sie mich gewählt haben oder nicht: Nehmen Sie mich so an, wie ich bin. Haben Sie
Geduld mit meinen Schwächen, und suchen Sie ein bißchen mit nach meinen Stärken.
So sage ich: Ich grüße alle Deutschen, ich grüße unsere Nachbarn, und ich grüße unsere
Freunde überall in der Welt.
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