Presse mitteilung vom 19.04.99


Regierungserklärung abgegeben von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Stand der deutschen Einheit vor dem Deutschen Bundestag (Reichstagsgebäude Berlin) am 19. April 1999


Heute, so schreibt eine große deutsche Zeitung, "beginnt die neue Zeit." Das mag ein wenig übertrieben klingen. Aber soviel ist klar. Mit der heutigen Plenarsitzung endet ein weiteres Provisorium in der Geschichte unserer Republik. Das alte Reichstagsgebäude ist bezugsfertig für den neuen Bundestag.

Über Geschmack soll man nicht streiten, und dies ist nicht der Deutsche Architektentag, sondern der Deutsche Bundestag. Aber ich möchte persönlich Sir Norman Foster ein großes Lob aussprechen für Mut und Behutsamkeit, mit der er traditionelle und moderne Elemente zusammengefügt hat. Ich wünsche mir, die gläserne Kuppel, die der Architekt für dieses Haus entworfen hat, würde zum Sinnbild für Offenheit und Transparenz unserer demokratischen Politik.

Denn natürlich lebt Architektur auch hier von der Institution, die sie belebt. Unsere Demokratie und unser Parlament sind stark und stabil. Der Umzug nach Berlin ist kein Bruch in der Kontinuität deutscher Nachkriegs-Geschichte. Wir gehen ja nicht nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären.

Die gelungene Bonner Demokratie, die Politik der Verständigung und guten Nachbar-schaft, die feste Verankerung in Europa und im atlantischen Bündnis, aber auch die Ausstrahlung eines Lebens in Freiheit haben entscheidend dazu beigetragen, die "Berliner Republik" im geeinten Deutschland zu ermöglichen.

Wie immer man diesem Begriff gegenübersteht selbstverständlich werden wir auch in Berlin die Bundesrepublik Deutschland sein und bleiben.

Und noch etwas wird bleiben : Die Probleme und Aufgaben nehmen wir mit, wenn wir von Bonn in die Bundeshauptstadt Berlin umziehen.

Als Bundestag des demokratischen Deutschland tagen wir nun in einem Haus mit guter demokratischer Tradition. Der aus geheimer, gleicher und freier Wahl hervorgegangene Reichstag dessen Gebäude übrigens im Volksmund noch lange so heißen wird wurde Bismarck und dem Kaiser abgetrotzt.

Und auch wenn manche an der Vorsilbe " Reich" Anstoß nehmen : Zu seiner konstituierenden Sitzung nach Hitlers Machtantritt 1933 trat der Reichstag eben nicht hier in diesem Gebäude zusammen, sondern in der Potsdamer Garnisonskirche.

Und das "Ermächtigungsgesetz", das den Reichstag faktisch ausschaltete, wurde nicht hier beschlossen, sondern in der Kroll-Oper gegenüber.

Sicher. Der Umzug nach Berlin ist auch eine Rückkehr in die deutsche Geschichte, an den Ort zweier deutscher Diktaturen, die großes Leid über die Menschen in Deutschland und Europa gebracht haben. Aber "Reichstag" mit "Reich" gleichzusetzen, wäre genauso unsinnig, wie Berlin mit Preußens Gloria und deutschem Zentralismus zu verwechseln. Das föderative Modell deutscher Politik ist bewährt und nicht im geringsten gefährdet.

Mir scheint, dies ist der richtige Ort und die richtige Zeit, eine Zwischenbilanz der deutschen Einheit zu ziehen. Der richtige Ort, weil so, wie Bonn schließlich doch für den Westen der Republik steht, Berlin das vereinte Deutschland symbolisiert. Nicht nur für die Ostdeutschen macht es viel aus, daß Regierung und Parlament nicht mehr fern am Rhein, sondern relativ nahe hier an der Spree sind.

Die richtige Zeit, weil das vereinte Deutschland auch politisch den Generationswechsel vollzogen hat. Und ich meine damit keineswegs nur den Regierungswechsel vom vergangenen Herbst. Es gibt kein Land, in dem die Ablösung der politischen Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch unmittelbar miterlebt hat, nicht eine bedeutende Veränderung in der Politik bezeichnet hätte. Das gilt für uns in Deutschland allemal.

Die richtige Zeit für eine Zwischenbilanz aber auch, weil nicht zuletzt die Ereignisse der letzten Wochen und Monate uns dramatisch vor Augen geführt haben , daß sich Deutschlands Rolle in der Welt verändert hat. Daß wir heute anders und intensiver in der Verantwortung für das Schicksal anderer Völker stehen, als dies in den Jahren der Teilung und unmittelbar danach der Fall war.

Das wiederum sage ich ganz bewußt von Berlin aus, der Stadt, in der das Wort von der "internationalen Solidarität" so unterschiedlich erlebt und erfahren wurde.

Eine solche Zwischenbilanz der deutschen Einheit fällt aus meiner Sicht überwiegend positiv aus. In Ostdeutschland ist eine eindrucksvolle Aufbauleistung vollbracht worden. Wir wissen, daß es noch nicht gelungen ist, das Ost-West-Gefälle zu überwinden. Gleichwohl denke ich, es lohnt, über das zu reden, was wir miteinander schon erreicht haben.Über Leistungsbereitschaft und Solidarität der Menschen im Osten und im Westen.

Die nach wie vor bestehenden Probleme der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur sind ja nicht etwa Folge mangelnden Leistungswillens der Bevölkerung in den neuen Ländern! Und andererseits : Mit finanziellen Hilfen allein wären wir längst nicht so weit gekommen, wie wir durch das Engagement der Bürger gekommen sind : beim Aufbau und der Erneuerung der Städte und der Wirtschaft, bei den Unternehmensgründungen und den Innovationen. Bei Hilfe und Selbsthilfe.

Es ist eben beides wahr, was die Demonstranten damals, vor und nach dem Fall der Mauer gerufen haben : Wir sind das Volk, und, ja, wir sind ein Volk.

Ich will deshalb auch gar keine detaillierte Auflistung dessen vornehmen, was getan worden ist und was noch getan werden wird. Unter den laufenden und von dieser Bundesregierung fortgesetzten oder neu aufgelegten Projekten für den " Aufbau Ost" möchte ich nur die folgenden hervorheben :

Da ist zunächst das Programm "100.000 Jobs für junge Leute" mit seinem Schwerpunkt in den neuen Ländern. Aus diesem Programm hat es in ganz Deutschland 75.000 Vermittlungen in Arbeit und Ausbildung gegeben. Davon 33.000 allein in den neuen Bundesländern .

Zusätzlich sind 17.500 Jugendliche in einem weiteren Sonderprogramm untergekommen.

Man sieht daran zweierlei : Einmal, daß es uns ernst ist mit der Aussage, daß wir die Jugendlichen einsteigen lassen müssen, wenn wir nicht wollen, daß sie aus der Gesellschaft aussteigen. Zum andern, daß die Jugendlichen von sich aus erkannt haben, daß sie nicht nur ein Recht auf diesen Einstieg haben. Sondern auch die Pflicht, entsprechende Angebote anzunehmen. Und ich bin froh darüber, daß sie das insbesondere in den neuen Bundesländern auch tun.

Die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik haben wir auf hohem Niveau verstetigt. Unter dieser Bundsregierung wird es da kein Auf und Ab vor und nach Wahlen geben. Wir finanzieren lieber Arbeit, als Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen .

Die Bundesfinanzhilfen für die Städtebauförderung werden bei 520 Millionen Mark für alle neuen Länder stabilisiert. Unser neuer Ansatz dabei ist die "soziale Stadt". Es geht uns um die Förderung von Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf. Wir wissen, welchen Einfluß das städtische Umfeld auf das Leben gerade junger Menschen hat. Und wir wissen, daß gerade in Stadtvierteln mit schlechter Bausubstanz Langzeit-arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Zuwanderung ohne Arbeitsperspektive gefährlicher sozialer Zündstoff werden.

Deshalb ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, daß wir uns bei der Lösung der städtebaulichen Probleme auf solche stadtviertel konzentrieren.

Noch in diesem Jahr werden wir die Förderinitiative "InnoRegio" starten. Ziel ist es, innovative Entwicklungen in regionalen Netzwerken zu unterstützen. Denn wir wissen : Ohne eine nachhaltige Förderung der Innovation, die zu neuen, international wettbewerbsfähigen Produkten, zu neuen Verfahren auf neuen Märkten führt, werden wir der Arbeitslosigkeit gerade in den neuen Ländern nicht Herr.

Unsere Gesellschaft wird nicht bestehen können, wenn sie nicht gerecht ist gerade gegen, diejenigen, die aus dem Arbeitsprozeß der "alten" Industrien herausgefallen sind. Aber unser Land würde keine Zukunft haben, wenn wir nicht alle zu Gebote stehenden Mitteln für die Erneuerung unserer Wirtschaft und Gesellschaft einsetzten.

In dieser Hinsicht, sagen wir es ganz deutlich, hat der Osten dem Westen unseres Landes nach der Vereinigung durchaus schon einiges vorgemacht.

Besonders greifbar sind die Fortschritte beim Umweltschutz. 1990 stand die DDR beim Ausstoß an Schwefeldioxid weltweit an der Spitze der Pro-Kopf-Belastung. Heute werden die Grenzwerte nirgends mehr überschritten; in Leipzig zum Beispiel ist die Belastung um 83 % zurückgegangen .

Durch ökologische Modernisierung konnten bereits jetzt europaweit mustergültige Regionen geschaffen werden.

Dasselbe gilt für den Bereich der Telekommunikation hier wurde in Ostdeutschland das modernste Netz der Welt geschaffen. Aber es gilt auch für manche Industrieanlagen Opel/Eisenach, die Kraftwerksbetriebe Schwarze Pumpe oder die Mikrochip-Herstellung in Dresden erreichen heute Produktivitätswerte, die an der Weltspitze rangieren.



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