Queer Reading – eine Methodologie.

Auf dieser Seite informieren wir zum Projekt, zu Methoden des Queer Readings und zu Forschungsergebnissen. Die Seite befindet sich im Aufbau und wird sukzessive erweitert.

Deutsche Literatur im Zeitalter des § 175 – das Projekt

Das Projekt will am Beispiel der im Zeitalter des Paragrafen 175 (1872–1994) entstandenen deutschen Literatur eine übergreifende Methodologie heteronormativitätskritischer Lektüreverfahren entwickeln. Diese Methodologie setzt nicht am oft beschworenen ‚Subtext‘ an, sondern vielmehr an der Textoberfläche selbst. Auf den ersten Blick mag das Begriffspaar ‚Methodologie‘ und ‚queer‘ als terminologisches Paradox erscheinen. Klingen in ‚Methodologie‘ Assoziationen an Systematisierung, Normativität und Vereindeutigung an, steht im Mittelpunkt queerer Projekte die Destabilisierung von Ordnungen: Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten sollen nicht aufgelöst, sondern sichtbar und produktiv gemacht werden. Wie kann Theoriebildung in diesem Spannungsfeld aussehen?

Wir verstehen queeres Schreiben als heteronormativitätskritische Schreibweise. Entsprechend begreifen wir queeres Schreiben nicht als Reaktion auf ein persönliches Problem, also beispielsweise als defensive Praxis um das eigene tabuisierte Begehren zu verschleiern, sondern als Möglichkeit, ein Begehren artikulieren, das sich den heteronormativen Bedingungen nicht nur entzieht, sondern diese auch kritisch hinterfragt und mit alternativen Entwürfen überwinden will. Queeres Schreiben – und queeres Lesen – ist demnach eine widerständige Handlung, die nach Möglichkeiten sucht, etwas trotzdem zu erzählen sowie Schreibweisen zu entwickeln, die Heteronormativität destabilisieren, oder die sich heteronormativen Vorgaben widersetzen.

Queeres Schreiben erfordert eine entsprechende Leseweise – Queer Reading als hermeneutische Methode. Dabei geht es nicht darum, etwas über den*die Autor*in zu enthüllen, also weder um das Aufdecken von Homosexualität, das Festschreiben oder Zuweisen von Identitäten, noch um das Erkennen einer angeblich ‚wahren‘ Textbedeutung. Queer Reading legt den Fokus auf nicht-heteronormative narrative Strukturen, Handlungsebenen, Motive und Figuren. Insofern ‚queer‘ das Gegenteil von ‚heteronormativ‘ bezeichnet, beschränkt sich dieser Begriff nicht auf Sexualität und Begehren, sondern bezieht auch andere Abweichungen von der Norm ein, wie zum Beispiel nicht-binär (non-binary), nicht-weiß, behindert, usf.

Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175 – vom Inkrafttreten des Paragrafen im Jahr 1872 bis zu seiner endgültigen Abschaffung 1994 – entstand unter heteronormativen Bedingungen. Angelehnt an die Revisionen, denen der Paragraf 175 unterzogen wurde, schlagen wir drei Untersuchungszeiträume vor:

  • 1872–1933 (Kaiserreich, Weimarer Republik)
  • 1933–1968/69 (Nationalsozialismus, BRD/DDR)
  • 1968/69–1994 (BRD/DDR, wiedervereinigtes Deutschland)

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1872–1933: Kaiserreich und Weimarer Republik

Das Projekt widmet sich dem Zeitraum von 1872 bis 1933 und untersucht die verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten der Frauenliebe in der Kaiserzeit sowie in der Weimarer Republik. Gleichwohl der Paragraf 175 nicht das Begehren und die Sexualität zwischen Frauen berücksichtigte, gerieten Frauenfreundschaften im Zuge der sexualpathologischen Diskurse im 19. Jahrhundert in den Verdacht, das heterosexuelle Familienmodell zu untergraben. Zuvor wurde Freundschaften zwischen Frauen wenig Beachtung beigemessen, da sie nicht mit Sexualität oder Begehren, sondern mit den weiblich konnotierten Wesensmerkmalen von Emotionalität und Zugewandtheit assoziiert wurden. Frauenrechtlerinnen wurden von antifeministischer Seite als männlich-viril und sexuell deviant diffamiert. Ein enges Spannungsverhältnis zwischen Emanzipation und Heteronormativität sowie Frauenbewegung und Homosexualität bestand entsprechend schon im späten 19. Jahrhundert. Anhand nicht-kanonisierter Texte wie Aimée Ducs Sind es Frauen? Roman über das Dritte Geschlecht (1901), Ilse Frapans Novellenband Bittersüß (1891) und Wir Frauen haben kein Vaterland. Monologe einer Fledermaus (1899) sowie Leonie Meyerhofs Töchter der Zeit (1903) sollen Subjektwerdungsansprüche, Reflexion der Geschlechterrollen, alternative Lebenskonzepte jenseits des heterosexuellen Familienmodells und Abgrenzungen zu sexualwissenschaftlichen Diskursen untersucht werden.

Ein Fokus liegt auf den Motiven, Darstellungsmodi und Chiffrierungen für das Tabu der Frauenliebe. In der Weimarer Republik öffnete sich durch die homosexuelle Sub- und Zeitschriftenkultur ein Kommunikationsraum, in dem unmittelbarer von der Liebe und dem Begehren zwischen Frauen erzählt werden konnte. Einschlägige Texte waren dennoch nicht frei von Chiffrierungen, da die Veröffentlichungen weiterhin von Zensur bedroht waren. Im Mittelpunkt der Analyse stehen Maximiliane Ackers’ Freundinnen (1923), Anna Elisabeth Weirauchs Trilogie Der Skorpion (1919, 1921, 1931), Grete von Urbanitzkys Der wilde Garten (1927) sowie Margaret Goldsmiths Patience geht vorüber (1931). Auch in der populären Literatur jenseits der lesbischen Subkultur wurde weibliche Homosexualität verhandelt. Insbesondere der Film Mädchen in Uniform (1931, 1933) nach dem Drama Gestern und Heute (1930) von Christa Winsloe erlangte über die Landesgrenzen hinweg Bekanntheit. Es werden des Weiteren populäre Romane von Vicki Baum und Irmgard Keun in die Analyse einbezogen.

1933–1968/69: Nationalsozialismus und BRD/DDR

Das Projekt untersucht Kontinuitäten und Transformationen im Erzählen von nicht-heteronormativer Sexualität im zweiten Untersuchungszeitraum von 1933–1968/69. Der Fokus liegt auf Texten der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Auch wenn sich die Lebenssituation queerer Menschen in BRD und DDR freilich anders darstellte als während der NS-Zeit, hatte zumindest die BRD mit dem Paragrafen 175 in der Fassung von 1935 ein durch die Nationalsozialist*innen verschärftes Gesetz in seine Rechtsprechung übernommen. Die NS-Zeit wirkt auch auf unterschiedliche Weisen in die Texte hinein: Eva Siewert unternimmt in ihren Erzählungen Das Orakel (1946) und Das Boot Pan (1948) einen Rückblick auf die Jahre der Verfolgung, während Wolfgang Koeppen im Roman Tod in Rom (1954) die Lebenswege von Nationalsozialisten nach 1945 in Italien erzählt. Bertolt Brechts Prosawerk Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar erschien zwar in mehreren Teilen 1949 und 1957, wurde aber bereits im Kontext der Jahre 1938 und 1939 verfasst. Ein weiteres Beispiel ist das Stereotyp des homosexuellen Verräters, das einerseits Element der nationalsozialistischen Propaganda war, bereits während der NS-Diktatur, etwa in Ludwig Renns Vor großen Wandlungen (1936) und insbesondere in der Nachkriegszeit zur Figur des homosexuellen Nazis transformiert wurde (vgl. Schregel 2017).

Sowohl in der BRD als auch in der DDR wurde die Figur „des Homosexuellen“ mit der homophoben Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen „Homosexualität, Cliquenbildung und Verrat“ (Schwartz 2019, 209) assoziiert, was die Figur unweigerlich mit politischer Opposition verband. Während der verbreitete homophobe Diskurs in Westdeutschland der Homosexualität eine vermeintliche Nähe zum Kommunismus zuschrieb, galt sie in der frühen DDR umgekehrt als kapitalistisches Laster und Bedrohung des Kommunismus. Da Homosexualität auch in Ludwig Renns in der DDR veröffentlichen Texten durchaus an der Textoberfläche erzählt wird, ist sein Gesamtwerk auch in dieser Hinsicht für das Projekt von besonderem Interesse. Joseph Breitbachs Bericht über Bruno (1961) und Ingeborg Bachmanns Schritt nach Gomorrha (1961) wiederum nehmen direkten Bezug auf die gesellschaftlichen Geschlechter- und Moralvorstellungen im Westdeutschland der frühen 1960er-Jahre.

1968/69–1994: BRD/DDR und wiedervereinigtes Deutschland

Das Forschungsprojekt fokussiert die um 1990 in Erscheinung tretende HIV/Aids-Literatur. Im Mittelpunkt stehen die Erzählungen Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod (1991) von Napoleon Seyfarth, Es ist spät ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht (1992) von Mario Wirz und Veränderungen über einen Deutschen. Ein fremdes Gefühl von Irene Dische (1993). Während die Bücher von Seyfarth und Wirz autobiografisch gefärbt sind, aber stets auch auf den Kanon der deutschen Literatur anspielen, ist Disches Roman fiktional und verwendet HIV/Aids als beigeordnetes literarisches Motiv. Mit der Aids-Krise verdoppelte sich die Problemlage der Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175. Zum Tabu der Homosexualität, das sich seit den 1970er-Jahren zu lockern begann, trat nun das Tabu der HIV-Infektion hinzu und erforderte neue Schreibweisen, die nicht nur auf Sexualität und Begehren, sondern auch auf Krankheit und Tod zielten.

Diese und weitere Autor*innen der dritten Phase der Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175 befinden sich derzeit in einem Kanonisierungsprozess, wie sich am Beispiel des homosexuellen, 1991 an den Folgen von Aids verstorbenen Schriftstellers Roland M. Schernikau (Kleinstadtnovelle, 1980; Legende, 1991) aufzeigen lässt, dessen Archiv seit 2016 in der Berliner Akademie der Künste zugänglich ist. Ein weiteres Beispiel ist Hubert Fichte, ebenfalls ein homosexueller, an Aids verstorbener Autor, der in seinem Romanwerk (Geschichte der Empfindsamkeit, 1987–1993) queere mit postkolonialen Perspektiven verschränkte und literaturwissenschaftlich intensiv erforscht wird. Ferner werden Forschungsergebnisse der Dissertation von Janin Afken zu Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974) und Maxie Wanders Guten Morgen, Du Schöne (1977) berücksichtigt, die als Anfänge der lesbischen Literatur in der DDR zählen können.