Autor/enHerzogliches Staatsministerium, Abteilung für Kirchen- und Schulsachen
TitelBrief an Wyneken zu Konflikt Salomon. 4 Seiten
OrtMeiningen
Datum1909.04.19
ZusatzDK
Anmerkungen(II.7., V.4.) "1. Den Zöglingen der Freien Schulgemeinde sind im deutschen Unterricht Stoffe dargeboten worden, die auf anderen Schulen erst mehrere Jahre später oder gar nicht im Unterricht behandelt werden (Beispiele: Goethes Götz von Berlichingen und Hermann und Dorothea in Untertertia, Schopenhauersche Schriften in Obersecunda). Es muss notwendig zu Bildungshochmut, ja Bildungsdünkel führen, wenn die Schüler sich sagen, dass ihnen im Verhältnis zu den Zöglingen in anderen Lehranstalten so viel mehr Auffassungskraft und Verständnis zugetraut werden. Es wäre aber in dieser Beziehung Vorsicht um so mehr geboten gewesen, als das Schülermaterial der Freien Schulgemeinde offenbar und zugestandenermassen von sehr ungleicher Vorbildung ist, derart, dass neben einzelnen Schülern, die den Eindruck geitiger Regsamkeit machen, andere sitzen, die sehr wenig wissen und, wenn sie gefragt werden, so gut wie nichts herausbringen." ... "2. Es sind im deutschen Unterricht Themata für Aufsätze gestellt oder zugelassen worden, die entschieden nicht als angemessen angesehen werden können. (Beispiele in Obertertia: Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein; Strebertum und Strebsamkeit; Bedeutung der Schule. In Unterskunda: Was ist wertvoller, Sport oder körperliche Arbeit? Bekam die deutsche Poesie den ersten wahren und höheren Lebensgehalt durch die Taten Friedrichs des Grossen? Wie denkt die Bergpredigt über das Verhalten der Christen zum Rechtsleben? In Obersecunda: Die Idee der Freien Schulgemeinde; Was ist Stil? Die Bedeutung der Kritik; Haben unsere sogenannten grossen Männer uns mehr genutzt oder geschadet? In Prima: Welche Weltanschauung liegt Spittelers Olympischem Frühling zugrunde? Die Entwicklungsstufen des Problems in Goethes Faust. Den Versuch der derzeitigen Leitung, einzelne Themata zu Aufsätzen und Vorträgen (über Ibsen, über den Selbstmord, über die Berechtigung einer besonderen theologischen Fakultät an Universitäten) zu rechtfertigen, können wir nicht als geglückt ansehen. Und das durch die Behandlung solcher Aufgaben in den Schülern eine Neigung zu absprechender Kritik erzeugt und genährt werden muss, ist für uns ausser allem Zweifel. Wie gross wird sich ein Schüler der Untersecunda dünken, wenn er durch die Behandlung des Themas: Bekam die deutsche Poesie u.s.w., zu dessen Bearbeitung mit selbständigem Urteil Untersecundaner gar nicht fähig sind, sich einbilden zu dürfen glaubt, er habe Goethe widerlegt?" (IV.4., V.3.) "3. Die Aufsätze, die unser Referent durchgesehen hat beweisen denn auch, dass die Schüler in der Tat vom Geiste hochmütig absprechender Kritik erfüllt sind. Und es handelt sich dabei durchaus nicht etwa nur, wie ein Ununterrichteter nach den Darlegungen der Eingabe annehmen könnte, um die Aufsätze der Schülerin Elli Salomon in Untersecunda, sondern auch um solche anderer Schüler, ( ein Beispiel möge hier genügen: 'Somit ist die Bergpredigt der heutigen Anschauung entfremdet und ganz unzugänglich geworden und es wäre eins Schande für den modernen Menschen, seine Ethik aus dieser fremden Ueberzeugung zu schöpfen' steht im Aufsatz des Untersecundaners Walter Buchard). Auch ist den in diesen Aufsätzen enthaltenen unreifen Urteilen durchaus nicht immer mit der wünschenswerten Kritik seitens des korrigierenden Lehrers begegnet: einem so törichten Satz z.B. wie dem, dass der Sport als wertvoller zu betrachten sei als die körperliche Arbeit, ist mit keiner Bemerkung entgegengetreten; auch das ganz unpassende Urteil: 'Das Wort Schule ist in Misskredit geraten und mit Recht, wenn man sie an dem Massstab der öffentlichen Schule misst' (in dem Aufsatze: 'Die Idee der Freien Schulgemeinde' der Schülerin Salomon in Obersecunda) hat, wenn unseren Referenten sein Gedächtnis nicht sehr täuscht, unbeanstandet die Korrektur des Lehrers passiert". "In diesem Zusammenhang muss als schwerwiegend auch die Tatsache hervorgehoben werden, dass eine Reihe von Aufsätzen überhaupt nicht korrigiert worden sind. In dem Hefte der Schülerin Elli Salomon in Untersecunda standen fünf unkorrigierte Arbeiten hintereinander. Wenn hierin unter allen Umständen eine schwere Vernachlässigung einer selbstverständlichen Berufspflicht gesehen werden muss, die mit Zeitmangel schlechterdings nicht entschuldigt werden kann und darf, so musste gegenüber dieser Schülerin, von der die Leitung aud Seite 6 ihrer Eingabe eine so wenig erfreuliche Charateristik entwirft, erst recht darauf gesehen werden, auf Schritt und Tritt ihren frühreifen und zugleich hochmütig abwertenden Urteilen entgegenzutreten und sie nicht Aufsatz um Aufsatz wieder solche unwidersprochen auskramen zu lassen" (V.3.,V.4.) "Und wenn der Leiter in dem Falle der Schülerin Elli Salomon fragt: 'Aber bin ich daran schuld?', so müssen wir demgegenüber betonen, dass jedem unbefangenen Leser der Aufsätze (wir wiederholen, es handelt sich nicht nur um solche der Elli Salomon) die Ueberzeugung kommen muss, es werde hier von den Schülern das nachgesprochen, was im Unterricht und bei sonstigem Zusammensein den Schülern von dem Lehrer geboten worden. Und je intensiver bei der Eigenart der dortigen Anstalt die Einwirkung des Erziehers auf den Zögling ist, um so verhängnisvoller muss gerade die Wirkung sein. Und mag das von dem Lehrer Gebotene in manchen Fällen vielleicht anders gelautet haben, als der Schüler es wiedergeben, die Häufigkeit der Urteile der charakterisierten Art in den Aufsätzen lässt erkennen, dass Unterricht und Erziehung von dem Geist einer ungesunden Kritik beherrscht werden".
ArchivBurg Ludwigstein/II/M/D/2
SignaturE/R2/30
SchlagworteBildung
Brief
Ethik
Wyneken, Gustav
Abteilungen2