Ein Pfirsichkern als Zeichen der Hoffnung – Das Amulett in der Ausstellung 99 x Neukölln
Museum Neukölln
Lena Behrends
Im Museum Neukölln liegt ein unscheinbares Objekt in der Vitrine, kaum größer als eine Walnuss, geschnitzt aus einem Pfirsichkern. Doch in diesem kleinen Amulett steckt eine große Geschichte. Es erzählt von politischem Widerstand, von Flucht, Familie, Schmerz und Hoffnung und von einem Leben zwischen Damaskus, Beirut und Berlin.
Das Amulett wurde von Fadil Al Saokal in einem syrischen Gefängnis gefertigt. Fadil war politischer Häftling, verurteilt ohne Prozess zu elf Jahren Haft, gefoltert und erniedrigt, weil er sich in der Syrischen Kommunistischen Arbeiterpartei engagiert hatte. In der Haft schnitzte er aus einem Pfirsichkern ein Amulett. Auf der einen Seite sind zwei Friedenstauben zu sehen, auf der anderen ein florales Motiv, das eine islamische Erzählung aufgreift: Blumen, die selbst auf steinigem Boden aus Tränen erwachsen. Dieses kleine Kunstwerk ist mehr als eine Geste, es ist ein Lebenszeichen. Fadil ließ es seiner Familie übergeben, als sie ihn im Gefängnis besuchen durften. Der Pfirsichkern gelangte zu seinem Bruder Zakaria, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit seiner Familie im Libanon im Exil lebte. Als auch Zakaria und seine Frau Fadia mit ihren vier Kindern das Land verlassen mussten, nahmen sie das Amulett mit als Andenken an den Bruder, als Symbol des Durchhaltens, als Stück Heimat.
Die Familie kam 1990 nach Berlin über Zypern, über Umwege, unter Unsicherheit. Die erste Zeit war hart: ein beengtes Flüchtlingsheim, strenge Regeln, wenig Perspektive. Und doch fanden sie langsam ihren Platz in Berlin, mit Deutschkursen, politischem Engagement und dem Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen, trotz aller Hürden und trotz des Gefühls, fremd zu bleiben. „Man braucht das Gefühl, dass einem etwas gehört“, sagte Fadia Al Saokal Jahre später. „Aber uns gehört gar nichts hier … es gibt leere Seiten, die muss man füllen.“ Aus diesen leeren Seiten wurde Geschichte. Die Kinder der Familie studierten, machten Ausbildungen und fanden ihren Weg. Und der kleine geschnitzte Pfirsichkern fand seinen Weg ins Museum, als stiller Zeuge einer großen Reise.
Für den neunjährigen Isyan, der 2024 mit seiner Schulklasse die Ausstellung besucht, ist das Amulett mehr als ein historisches Objekt. Es erinnert ihn an seinen Vater Turgay, der aus der Türkei nach Berlin kam, ebenfalls als politischer Gefangener, ebenfalls über viele Umwege. Auch seine Geschichte ist von Repression, Flucht und Neubeginn geprägt. Auch er lebt in Neukölln, hat seine Spuren hinterlassen mit einem Café, das zum Treffpunkt wurde, und mit Geschichten, die weitergetragen werden. So steht der Pfirsichkern heute nicht nur für die Geschichte einer Familie, sondern für viel – für Mut, Widerstand, Verlust und Neuanfang. Er zeigt, dass selbst in der Enge einer Gefängniszelle etwas entstehen kann, das Hoffnung trägt, und nutzt die Metapher, dass selbst aus einem Kern ein neues Leben erwachsen kann. Das Amulett wurde dem Museum 1992 von Zakaria Al Saokal gespendet und ist Teil der Dauerausstellung 99 x Neukölln. In ihr erzählen Alltagsobjekte persönliche Geschichten von Flucht, Ankommen und Zugehörigkeit in einem vielfältigen Berliner Bezirk.
Einblicke in die Ausstellungspraxis: 99 x Neukölln im Museum Neukölln
Im Zentrum der Ausstellung stehen 99 Originalobjekte aus der Sammlung des Museums Neukölln. Diese dinglichen Zeitzeugen eröffnen Besucher:innen grundlegende Einblicke in die Geschichte und Gegenwart des Bezirks. Statt einer linearen Chronologie oder eines Fortschrittsnarrativs setzt die Ausstellung auf eine fragmentarische, assoziative Erzählweise, die die Vielfalt der Neuköllner Lebensrealitäten widerspiegelt. Persönliche Erzählungen stehen im Mittelpunkt. Viele stammen aus Interviews mit den Menschen hinter den Objekten. So sprechen die Subjekte selbst über ihre Geschichte, ihre Hoffnungen und Erfahrungen. Die Ausstellung gibt ihnen eine Stimme und zeigt das Verhältnis zwischen Objekt und Lebensgeschichte als untrennbar verbunden. Die kleinen Gegenstände werden zu Zeugen von Widerstand, Flucht, Familie und Identität.
Die Ausstellung nutzt unterschiedliche Medien: Weiße Vitrinen präsentieren die Objekte, begleitet von klaren, reduzierten Texten. Ergänzt wird dies durch interaktive Computerterminals und einen zentralen, drehbaren Bildschirm, der den digitalen Zugang zu Hintergrundinformationen, Fotografien, Filmen und Tondokumenten ermöglicht. Spielerische Elemente wie Quizfragen machen den Besuch für alle Altersgruppen zugänglich und unterhaltsam. Die Ästhetik ist bewusst zurückhaltend. Sie unterstützt die emotionale Wirkung der Geschichten, ohne zu überfordern oder zu überinszenieren. Dabei zeigt die Ausstellung Brüche und Gegensätze: Hoffnung trotz Unterdrückung, Enge im Flüchtlingsheim trotz Sehnsucht nach Freiheit, Verlorenes und neu Erschaffenes. Diese Spannungen machen das Ausstellungserlebnis lebendig.
Die Ausstellung wurde vom Museum Neukölln initiiert, das als kommunale Einrichtung unter dem Bezirksamt Neukölln mit Kulturförderung des Landes Berlin betrieben wird. Die Finanzierung erfolgt aus Mitteln des Bezirks und des Landes Berlin. Zusätzlich werden projektbezogene Drittmittel, etwa von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin, für digitale Vermittlungsformate und Sonderprojekte genutzt. Das Publikum wird nicht linear durch die Ausstellung geführt, sondern bewegt sich frei zwischen den Vitrinen und Medien. Diese offene Struktur lädt zum selbstbestimmten Entdecken ein und entspricht der komplexen Realität einer migrationsgeprägten Stadtgesellschaft. 99 x Neukölln ist ein Ort der Orientierung und Begegnung, ein Raum, der Erinnerung, Identität und Teilhabe verhandelt.
Die Ausstellung reiht sich ein in eine museale Praxis, die tradierte Ausstellungsweisen hinterfragt, indem sie keine klassischen Kunstwerke zeigt, sondern alltagsgeschichtliche Objekte mit persönlicher Erzählkraft. Sie ist informativ, assoziativ und wirkungsorientiert zugleich. Sie macht deutlich, dass Geschichte nicht abstrakt ist, sondern in den Geschichten von Menschen lebendig wird. So bleibt der Pfirsichkern nicht nur ein stilles Ausstellungsstück, sondern ein lebendiges Symbol dafür, dass selbst im kleinsten Kern die Kraft zur Veränderung, zum Erinnern und zum Weitertragen von Hoffnung liegt.
99 x Neukölln
Dauerausstellung
Museum Neukölln
Alt-Britz 81
12359 Berlin
Öffnungszeiten: Montag bis Sonntag 10-18 Uhr
Eintritt: frei
www.schloss-gutshof-britz.de/museum-neukoelln
https://schloss-gutshof-britz.de/museum-neukoelln