Kritische Positionen im Hamburger Bahnhof
Church for Sale. Werke aus der Sammlung Haubrok und der Sammlung der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart
Ellena Stelzer
Särge aus Pappe, Erde aus Bilbao, Jesus als Meterware und das Geigenspiel eines Amateurs als Memento mori – so ließen sich vier der vierundzwanzig Kunstwerke aus der Sammlung Haubrok verschlagworten, die zwischen dem 28. November 2021 und dem 19. Juni 2022 neben ergänzenden Werken aus der Sammlung der Nationalgalerie unter dem etwas rätselhaften Titel Church for Sale im Hamburger Bahnhof präsentiert werden. Die von Gabriele Knapstein und Franziska Lietzmann kuratierte Ausstellung versammelt in der Historischen Halle vorwiegend konzeptuelle Arbeiten von 15 Künstler*innen und einem Kollektiv aus der Zeit von 1969 bis in die Gegenwart, in verschiedenen Medien und Dimensionen und mit diversen inhaltlichen Schwerpunkten. Ihr gemeinsamer Nenner im Kontext der Ausstellung: ein Verständnis von Kunst als politische Tätigkeit.
Die gezeigten Skulpturen, Fotografien, Grafiken, Wandbilder und Videos entpuppen sich folglich als Arbeiten, die – manchmal mehr, manchmal weniger direkt – zum Nachdenken anregen: über gesellschaftliche Konstrukte, Machtstrukturen und Missstände, über Vorurteile, Unterdrückung, Ausgrenzung und Rassismus, Vertreibung und Migration, Krankheit, Identitätsbildung, Sexualität, Freiheit und Privilegien oder über Ungerechtigkeit und Ausbeutung im Rahmen des Kapitalismus. Unter dem Kernthema der Ausstellung fächert sich somit schnell ein äußerst großes Spektrum an zusätzlichen Begriffen auf. Das zeichnet einerseits die Objektauswahl als vielseitig aus, kann andererseits für Besucher*innen aber womöglich auch voraussetzungsreich und etwas überfordernd erscheinen.
Provokation, Evokation, (Un)Zugänglichkeit
Eröffnet wird die Ausstellung theoretisch bereits außen im Innenhof des Museums mit Christoph Büchels DUMMY (F-16) von 2003, einer aufblasbarer Kunststoff-Attrappe eines amerikanischen Kampfflugzeugs, welche die Gefährdung des zivilen Schutzraums thematisiert; zu sehen ist diese Arbeit dort allerdings nur zu Beginn und Ende des Ausstellungszeitraums. Im Innenraum hingegen begegnen die Besucher*innen zuerst Kara Walkers Wandbild Pastoral. Mit Büchel und Walker sind in Church for Sale gleich zum Einstieg zwei Künstler*innen ausgewählt worden, die das Publikum mit ihren Arbeiten in der Vergangenheit stark provoziert und dadurch Kontroversen ausgelöst hatten.[1] Im Hamburger Bahnhof setzt das unterbewusst bereits einen Grundton für die Ausstellung.
In der weitläufigen Historischen Halle haben die anschließend präsentierten Skulpturen genug Raum, um jeweils für sich selbst zu stehen und um von den Besucher*innen umrundet werden zu können. Eindrücklich zeigt sich beispielsweise Tom Burrs Howl, eine Gruppe aus vier großen begehbaren Metallkäfigen, die vor allem Fragen nach Gefangenschaft und Freiheit aber auch nach Schutzräumen evozieren. Cady Nolands Blank for Serial zeigt inmitten des Raums einen Tisch mit zwei sich gegenüberstehenden Stühlen, umschlossen von einer Absperrung aus Eisenstangen, an der mit Handschellen die amerikanische Flagge befestigt ist und an der zwei rote, menschengroße Kissenrollen lehnen; unwillkürlich ruft das Ensemble die Situation eines gewaltsamen Polizeiverhörs hervor. Die Arbeiten im linken Bereich der Halle sind interessanterweise auf unterschiedlichen Höhen angebracht: zum Beispiel an der Decke befestigt oder ungewohnt tief an der Wand platziert.
Schnell stellt sich heraus, dass das Begleitheft für das Verständnis vieler Arbeiten essentiell ist. Über eine zugeordnete Nummer kann im Heft zu jedem präsentierten Beitrag ein knapper erläuternder Text gelesen werden; durch die Anzahl der Ausstellungsstücke summiert sich die Lesezeit allerdings trotzdem. Neben Hintergrundinformationen zu Schwerpunkten oder Arbeitsweisen der Künstler*innen oder dem Entstehungskontext des jeweiligen Kunstwerks werden in den Texten auch direkte Bezüge zu beispielsweise der Black Lives Matter Bewegung, der rassistischen Praxis des Blackfacing, der Geschichte homosexueller Bewegungen, der Care-Ökonomie oder dem Israel-Palästina-Konflikt aufgemacht. Nicht alle der Interpretationen aus dem Begleitheft wirken aber ohne weiteres nachvollziehbar und es stellen sich die Fragen, welche Aussagen dabei wohl tatsächlich von den Künstler*innen stammen bzw. ihrer Motivation entsprechen und wie viel und welche Art von politischem Inhalt jemandem eigentlich zugeschrieben werden dürfte. In einer Ausstellung, die sich so intensiv mit ernsten und gesellschaftlich „heiklen“ Themen befasst, wäre es äußerst interessant, die Künstler*innen selbst sprechen zu hören oder doch noch etwas mehr (optionale) Informationen zu ihrer Person und ihrem Schaffen zu erhalten.
Auch für die Bedeutung der eigens konzipierten und raumgreifend errichteten Ausstellungsarchitektur des Büros b+ ist ein gewisses Hintergrundwissen zu den baulichen Konflikten rund um den Hamburger Bahnhof und die sich anschließenden, zum Museum gehörenden Rieckhallen hilfreich. Die durch den gesamten Ausstellungsraum verlaufende Gerüst-Wand aus wiederverwendbarem Material, wie es für Schutzfassaden an Baugerüsten genutzt wird, nimmt der Historischen Halle auf spannende Weise ihre Symmetrie und kreiert praktischerweise einen abgedunkelten Bereich für die Videoarbeiten auf der rechten Seite des Raums. Auch wenn bereits im Herbst 2021 – nicht lange vor Eröffnung der Ausstellung – beschlossen wurde, dass die Rieckallen zunächst nicht abgerissen werden, sondern für ein weiteres Jahr gesichert sind, funktioniert die Gerüst-Architektur dennoch als Mahnung an die auf lange Sicht noch ungelöste Situation des Hamburger Bahnhofs als öffentlicher Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst in Berlin.[2] An dieser Stelle bringt das Architekturbüro die kritische Stimme des Museums in die Ausstellung mit ein.
Titelzitate
Etwas unverständlich bleibt am Ende der Ausstellungstitel, der offenbar keinen Bezug auf die Gesamtheit der präsentierten Arbeiten widerspiegelt, sondern den Titel eines Beitrags von Edgar Arceneaux aus dem Jahr 2013 wörtlich übernimmt. Jener besteht aus einer Serie von sechs Aquarellen, die räumlich gesehen aber keinesfalls im Fokus der Ausstellung stehen, sondern eher unauffällig weiter hinten an der linken Seitenwand der Halle angebracht sind. Sie zeigen „Anzeigetafeln aus der vom finanziellen Bankrott bedrohten Stadt Detroit […], auf denen für den Verkauf von Kirchenräumen und mithin von gemeinschaftsbildenden Versammlungsräumen geworben wird“, wird im Begleitheft erklärt. Entstanden seien sie in Vorbereitung für Arceneaux’s Film A Time To Break Silence aus dem Folgejahr, der allerdings nur einmal zum Ende der Ausstellung in einer Live-Performance aufgeführt werden soll. Inwiefern die im Zusammenhang mit dem erwähnten Film sehr spezielle und aus Besucher*innen-Sicht etwas schwer einzuordnende Arbeit Church for Sale stellvertretend für alle weiteren Ausstellungsstücke stehen kann, wird nicht unbedingt ersichtlich. Möglicherweise sollte die Übernahme des Titels der Person Edgar Arceneaux im Kontext der anderen präsentierten Künstler*innen, die in der Ausstellung teils mit mehreren Werken vertreten sind, besondere Aufmerksamkeit verleihen? – Oder aber das Museum, parallel zu den Kirchen in Detroit, als einen ebenso bedrohten „gemeinschaftsbildenden Versammlungsraum“ beschreiben und dadurch auf einer weiteren Ebene auf den zuvor erwähnten Bebauungsplan anspielen? – Oder doch einfach als Eyecatcher funktionieren?
Nachhall
Auch wenn das am Eingang auf einer Informationstafel vorgestellte kuratorische Konzept von Knapstein und Lietzmann unter den diversen Erscheinungsformen der Kunstwerke und angesichts der vielfältigen relevanten Themenbereiche, die von diesen entweder angedeutet oder direkt angesprochen werden, nach einem ersten Rundgang durch die Ausstellung möglicherweise nicht sofort als roter Faden greifbar wird, bietet Church for Sale durchaus eine sehr gelungene und anregende Zusammenstellung zeitgenössischer, politisch informierter Arbeiten.
Begleitet vom atmosphärisch hallenden Klangteppich der Videoarbeiten lässt sich Church for Sale selbstverständlich auch rein ästhetisch und ohne Begleitheft erfahren. Gewinnbringend erscheint die Ausstellung aber insbesondere für Besucher*innen, die einerseits bereit sind, sich auf die teils schwer zugänglichen Arbeiten auch einzulassen, und die andererseits ausreichend Zeit mitbringen, um über eine Auseinandersetzung mit dem Begleitheft der kuratorischen Idee nachzuspüren. Und um nicht zuletzt den eigenen Gedanken zu den unterschiedlichen Facetten gesellschaftlicher Strukturen und politischen Handelns Raum zu geben – um sowohl die eigene gesellschaftliche Position als auch die eigene gedankliche Positionierung zu befragen.[3]
[1] Zu Büchel s. beispielsweise https://maxglauner.com/2019/07/24/unser-boot-chritstoph-buechels-strategien-der-subversiven-affirmation/ (Letzter Zugriff am 06.02.2022) und zu Walker s. beispielsweise https://awarewomenartists.com/en/magazine/de-representation-violence-lart-de-kara-walker/ (Letzter Zugriff am 06.02.2022).
[2] Zu den Verhandlungen um die Rieckhallen s. https://www.deutschlandfunkkultur.de/berliner-stadtplanung-rieckhallen-vor-dem-abriss-100.html (Letzter Zugriff am 06.02.2022) und https://www.berliner-woche.de/moabit/c-bauen/rieckhallen-vorerst-vor-abriss-gerettet_a324158 (Letzter Zugriff am 06.02.2022).
[3] Bei den vier Arbeiten vom Beginn dieses Texts handelt es sich übrigens um Rodney McMillians 18 Boxes (2006), Santiago Sierras 4m3 of Earth from the Iberian Peninsula (2013), Rodney McMillians Double Jesus (2006) und Bruce Naumans Violin Tuned D E A D (1969).
Church for Sale. Werke aus der Sammlung Haubrok und der Sammlung der Nationalgalerie
28.11.2021–19.06.2022
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart
Öffnungszeiten: Di, Mi und Fr 10:00–18:00; Do 10:00–20:00; Sa und So 11:00–18:00
Eintrittspreise: 14€, ermäßigt 7€; am ersten Sonntag im Monat freier Eintritt
Führung durch die Ausstellung am 26. März 2022
https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/hamburger-bahnhof/ausstellungen/detail/church-for-sale/