Musafiri: Von Reisenden und Gästen
Haus der Kulturen der Welt
Helen Hube, Pia Ihringer, Olivia Weber
40 Exponate, Drei Perspektiven, Ein Gespräch
„We‘re all travelers in this exhibition.“ Mit diesen Worten werden wir in der Ausstellung Musafiri: Von Reisenden und Gästen im Haus der Kulturen der Welt willkommen geheißen. Mit Blick auf den am Empfang ausgehändigten Reader und eine beginnende Führung im Foyer fragen wir uns, wie es wäre, die Ausstellung ganz ohne Anleitung zu besuchen. So entsteht unser Experiment: Wir durchlaufen die Ausstellung mit einer jeweils anderen Methode und dokumentieren unsere Eindrücke in Form eines Gesprächs. Pia betritt mit dem Reader in der Hand den Raum der Ausstellung, Olivia schließt sich gespannt der Führung an und Helen begibt sich mit Stift und Notizbuch in einen Raum von Assoziationen. Somit reisen wir auf drei verschiedenen Wegen durch die über 40 Geschichten von Migration.
Struktur, Wegführung, Methoden
Olivia: Statt den Anderen als einen Fremden zu sehen, werden in Musafiri Menschen als Reisende und Gäste betrachtet. Auch wir als Besucher:innen fungieren sowohl als Reisende als auch als Gäste in der Ausstellung.
Pia: Den Reisenden und Gästen wird eine Stimme verliehen. Migration als solche wird nicht nur als politisches oder soziales Phänomen behandelt, sondern erhält eine persönliche, teilweise intime Dimension. Die Texte im Reader ermöglichen, weiterführende Informationen über die Künstler:innen und über die Exponate zu gewinnen. Zusätzlich werden darin individuelle Geschichten, Erfahrungen und Reflexionen erzählt.
Olivia: Die Ausstellung widmet sich verschiedenen Formen sowie Beweggründen der Migration, verflochten mit historischen und aktuellen Migrationsbewegungen: Von Kriegsflucht und politischer Verfolgung, über Binnenwanderung, Arbeitsmigration und internationale Migration. Die Gemeinsamkeit liegt in der Bewegung bzw. in der Reise, die Menschen, sei es freiwillig oder unfreiwillig, auf sich nehmen, um Grenzen zu überqueren und sich anschließend an einem neuen Ort niederzulassen.
Anne Samat, Wide Awake and Unafraid #3 (2025), Foto: Hanna Wiedemann
Helen: Ebenfalls werden wir durch unser eigenes Interesse durch den Raum geleitet. Die Ausstellung ist kaleidoskopisch aufgebaut, wodurch kein kommerzielles „Centerpiece“ und keine Hierarchie der Positionen existiert, was ich sehr angenehm fand. Da habe ich z.B. einen Reader gar nicht vermisst und empfand es eher befreiend, selbstständig durch die Räume gehen zu können und mich nicht beeinflussen zu lassen. Was außerdem ungewöhnlich ist, ist die Entscheidung, weder die Titel der Werke noch die Namen der Künstler:innen am Kunstwerk zu vermerken.
Pia: Das Motiv der freien Bewegung ist ein weiteres Merkmal des Ausstellungskonzepts, da dieses keiner strengen Chronologie gefolgt wird. Den Besucher:innen wird so Freiheit, aber auch Verantwortung vermittelt. Sie müssen selbst entscheiden, wie tief sie eintauchen und welchen Weg sie nehmen.
Olivia: Andererseits besteht die Möglichkeit, Musafiri aus einem kollektiven Blickwinkel zu besuchen. Durch die Führung wird der Weg zwar vorgegeben, jedoch bereichern die sogenannten Kunstgespräche den Ausstellungsbesuch insofern, als dass sie zum gemeinsamen Betrachten der Kunst und zum Austausch einladen.
Helen: Musafiri bietet Raum für den kollektiven Austausch, aber auch für individuelle Wege und freie Orientierung. Wie wir die Ausstellung aus drei verschiedenen Perspektiven erlebt haben, so bietet auch das Haus der Kulturen der Welt unterschiedliche Vermittlungsformen.
Olivia: Genau. Dadurch können die individuellen Bedürfnisse der Besucher:innen abgedeckt werden. Die traditionelle museale Praxis, welche durch das Ausstellen und Differenzieren des Anderen zum Konzept des sogenannten Othering beiträgt, indem Menschen mit Migrationshintergrund exotisiert werden, wird bei der Musafiri Ausstellung durchbrochen. Hier haben internationale Künstler:innen und Kurator:innen an der Ausstellung mitgewirkt und werden zu Entscheidungsträger:innen.
Medientechniken
Helen: Die Künstler:innen arbeiten mit sehr verschiedenen Medien – von Fotografie und Malerei über Statuen, Textilien und Installationen zu Kurzfilmen und Videospielen. Die Ausstellung ist demnach multimedial konzipiert, was sie für mich abwechslungsreich macht. Was ist euch diesbezüglich besonders aufgefallen?
Pia: Für mich war besonders die Rolle des Readers als interaktives Medium auffällig, da ich zuvor noch nie eine Ausstellung mit diesem Zugang besucht hatte. Er ergänzt die physisch-individuelle Erfahrung in der Ausstellung durch eine textbasierte, reflexive Ebene und fordert mich zu einer aktiven Auseinandersetzung mit den Inhalten auf.
Helen: Unsere Sinne nehmen in der Ausstellung vieles gleichzeitig wahr. Als ich vor einer Fotografie stand, hörte ich aus einer anderen Ecke des Raums den Ton eines Kurzfilms. Oder während ich vor einer Installation stand, hörte ich K-Pop. Obwohl vieles gleichzeitig passiert, schafft es die Konzeption, dass sich dies nicht überwältigend anfühlt, sondern eine interessante Erfahrung entsteht.
Installationsansicht der Ausstellung Musafiri: Von Reisenden und Gästen (2025), Foto: Hanna Wiedemann
Sprache und Interaktivität
Olivia: Die Kunst fungiert als Sprachrohr der Subjekte (Künstler:innen) und ihrer Communities. Da die Ausstellung auf multimedialen Kunstinstallationen basiert, wird eine ganz andere Herangehensweise und Methode des Ausstellens genutzt. Diese bietet mehr Möglichkeiten und Erzählformen als das klassische Sammeln und Ausstellen historischer Objekte in Vitrinen, die den Besucher:innen visuell den Inhalt vermitteln sollen.
Pia: In Musafiri wird sowohl über die Subjekte als auch über die Objekte gesprochen, denn im Reader berichten Kulturwissenschaftler:innen, Kurator:innen und Kunstkritiker:innen über die Exponate.
Olivia: An die Frage, wer wie über wen spricht, kann ich gut anknüpfen, da ich an zwei unterschiedlichen Tagen an Kunstgesprächen teilnahm. Je nachdem, wer die Führung gab und aus welchem Arbeitsfeld die Person kam, erhielten wir als Besucher:innengruppe unterschiedliche Denkanstöße. Das erste Kunstgespräch wurde von einer Kulturwissenschaftlerin geführt, die vermehrt auf kulturhistorische Hintergründe einging. Das zweite Kunstgespräch leitete eine Kuratorin, die uns auf die künstlerische Praxis, Materialien und Farbpaletten aufmerksam machte. Dieser Zugang bietet die Möglichkeit, Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Wissensstände zusammenzubringen und die Ausstellung auf einer diskursiven Ebene zu besuchen. Außerdem erhält man von den Kunstvermittler:innen Informationen, die über die Werkbeschreibungen hinausgehen, die einem sonst nicht aufgefallen wären. Wie bewertet ihr die Interaktivität mittels eurer Zugänge?
Helen: Für mich war der Besuch der Ausstellung auch ohne eine Führung oder den Reader auf jeden Fall interaktiv, zum Beispiel durch ein Videospiel (The City of Willows von Simon Soon und Chong Yan Chuah) oder ein Werk, bei dem man Platten hören konnte (Llorando se Foi. O Museu da Lambada. In memoriam de Francisco ,Chico’ Oliveira von Carlos ,Marilyn’ Monroy). Auch kam ich durch Fragen, die ich mir nicht selbst beantworten konnte, in den Austausch mit anderen Besucher:innen und führte interessante Gespräche, in denen wir unsere Assoziationen und unser Vorwissen austauschen konnten und Menschen ihre eigenen Geschichten und Berührungspunkte mit Migration mit mir teilten. Die Ausstellung schafft einen Raum, der eine Reise durch verschiedene Geschichten ermöglicht. Dementsprechend bietet sie eine Form der Interaktivität, die über den gängigen Rahmen hinausgeht.
Pia: So habe ich den Besuch auch erlebt. Ich habe es genossen, die Ausstellung als meine eigene Reise ohne ein vorgegebenes Tempo oder eine vorgegebene Reihenfolge der Kunstwerke zu besuchen. So lag es ganz bei mir, welchen Weg ich nehmen wollte.
Narrative, Brüche, Gegensätze
Helen: Dadurch, dass über 40 künstlerische Positionen gezeigt werden, tauchen wir in über 40 verschiedene Geschichten der Migration ein, was die Ausstellung unter anderem so spannend und nahbar macht. Teilweise lassen sich in den verschiedenen Migrationsgeschichten der Künstler:innen Verflechtungen finden. In der Ausdrucksweise der Künstler:innen ist jedoch deutlich zu sehen, wie individuell der Umgang mit der eigenen Geschichte und den verschiedenen Arten der Umwandlung in Kunst ist.
Sonia E. Barrett, Paths to Joy. Roscoe Parish Chapeltown, Leeds (2017), Foto: Hanna Wiedemann
Pia: Meiner Ansicht nach liegt ein zentraler Gegensatz im Spannungsfeld zwischen der ästhetischen Wahrnehmung der Kunstwerke und dem zugehörigen informativen Gehalt, welcher über den Reader vermittelt wird. Die Kunstwerke sprechen visuell eine sehr eigene Sprache, wohingegen der Reader die Aufmerksamkeit in Richtung Kontext und Hintergrundwissen lenkt. Zuvor habe ich Museen oft binär kategorisiert: Kunstmuseum oder Geschichtsmuseum. In Musafiri verschmelzen diese beiden Komponenten; Kunst und Geschichte sind koexistent. Zudem bestehen verschiedene Zeitebenen; die historischen stehen gleichwertig neben gegenwärtigen Positionen. Manche Kunstwerke entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wohingegen andere im Jahr 2025 fertiggestellt wurden, was wiederum erklärt, weshalb die persönlichen Geschichten über Migration und die Ausstellung so vielschichtig sind.
Helen: Auch ohne Reader sind die verschiedenen zeitlichen Ebenen direkt zu erkennen. Gerade die Videoinstallationen sprechen für die Kunstwerke der Gegenwart, wohingegen die geschnitzten Holztafeln ältere Migrationsgeschichten thematisieren. Manche der Kunstwerke sind laut und bunt, andere hingegen wirken still und beruhigend. Es werden Emotionen und persönliche Geschichten zum Ausdruck gebracht, die die Künstler:innen in ihrer eigenen Ästhetik darstellen.
Olivia: Beim Kunstgespräch begleitete uns die Fragen, was es bedeutet, Menschen als Reisende und Gäste willkommen zu heißen, und welche Machtverhältnisse dahinterstecken. Diese Frage beschäftigt die Menschheitsgeschichte schon immer und scheint heute aktueller denn je. Das Forschungsprojekt Musafiri kann als Versuch und Ansatz gesehen werden, die Art und Weise, wie in der Vergangenheit sowie heutzutage über Migration berichtet, reflektiert und diskutiert wird, zu hinterfragen. Denn die Narrative in Musafiri durchbrechen die kollektiven Bilder und Erzählmuster der Migration, die in den Köpfen unserer Gesellschaft verankert sind.
Publikum
Pia: Die Kurator:innen beteuern, dass sich die Ausstellung an ein breites Publikum richtet. Der Intendant und Chefkurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung richtet sich hingegen in seinem Begrüßungsschreiben an Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende. Mir ist wiederum aufgefallen, dass die Texte im Reader ein sehr hohes sprachliches Niveau haben. Für mich waren diese zwar sehr informativ und interessant, jedoch möchte ich an dieser Stelle kritisieren, dass auf diese Weise ein breites Publikum nicht erreicht werden kann.
Olivia: Diesen Eindruck teile ich nicht ausschließlich, da es das Angebot gab, die Ausstellung in einfacher Sprache zu besuchen, was die Bemühungen für eine sprachliche Barrierefreiheit des HKW aufzeigt. Außerdem waren die Kunstgespräche im Ticket enthalten und wurden in unterschiedlichen Sprachen abgehalten. An der Führung nahm ein diverses Publikum teil: von Student:innen und Senior:innen über Berliner:innen bis zu Tourist:innen. Zudem gab es während der gesamten Ausstellungsdauer jeden Montag kostenlosen Eintritt für alle Besucher:innen. So werden die Eintrittsbarrieren gesenkt und ein breiteres Spektrum an Besucher:innengruppen in die Ausstellung gebracht, was die Teilhabe an kulturellen Programmen im Haus der Kulturen der Welt fördert.
Helen: In Bezug auf das Sprachniveau der Texte würde ich Pia teils zustimmen. Bevor ich die Ausstellung besucht habe, las ich mich ein wenig durch die Einführungstexte der Website und empfand die Sprache ebenfalls als recht anspruchsvoll und für manche vielleicht ein wenig „abschreckend“. Trotzdem – oder gerade deswegen – macht es große Lust, sich vor Ort von der Ausstellung begeistern zu lassen.
Musafiri: Von Reisenden und Gästen
1. März 2025 bis 16. Juni 2025
Haus der Kulturen der Welt
John-Foster-Dulles-Allee 10
10557 Berlin
Öffnungszeiten: Mittwoch bis Montag 12-19 Uhr, Dienstag geschlossen
Eintritt: Erwachsene 8€, ermäßigt 5€, montags und jeden ersten Sonntag im Monat frei