Grundlagen für ein europäisches Krisenmanagement: europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der französischen Nationalversammlung am 30. November 1999 in Paris:

Eine Rede vor der traditionsreichen und ehrwürdigen französischen Nationalversammlung zu halten, ist für mich eine ehrenvolle Herausforderung. lch danke lhnen, Herr Präsident Fabius, für die Gelegenheit, das Wort vor diesem hohen Haus ergreifen zu können.

Das französische Parlament hat die Entwicklung der französischen Demokratie in den letzten Jahrhunderten maßgeblich geprägt. lhr Haus hat darüber hinaus entscheidend zur Definition, zur Weiterentwicklung und zur Umsetzung von demokratischen ldeen in Europa beigetragen Manche Debatte, die hier im Laufe der Zeit geführt wurde, hat Aufsehen weit über die Grenzen Frankreichs hinaus erregt. Der Funke der Revolution von 1848, der die deutschen Länder und weite Teile Europas erfasste, ging von Paris und von der französischen Nationalversammlung aus.

Die hier von Aristide Briand vorgetragene Vision eines friedlichen Europas fand im Deutschen Reichstag bei Gustav Stresemann Gehör; die europapolitischen Debatten der Nachkriegszeit hatten ihren Widerhall im Bonner Bundestag. Überhaupt stehen die Assemblée Nationale und der Deutsche Bundestag in einer Tradition des engen Austauschs Dadurch sind sie repräsentativ für viele lnstitutionen in unseren beiden Ländern, Ausdruck des breiten Fundaments der deutsch-französischen Beziehungen. Gibt es überhaupt einen Bereich, in dem Deutschland und Frankreich nicht eng verflochten sind, sich nicht aufs Engste durchdrungen und beeinflusst haben?

Natürlich ist Frankreich für meine Landsleute zunächst Synonym für Kunst, für kreative Mode und klassisch schöne Städte, die ihr Erbe in Ehren halten, ohne sich der Moderne zu verweigern Französische Museen und Landschaften werden Jahr für Jahr zum Ziel von Millionen deutscherTouristen Französische Kultur und Zivilisation haben einen hohen und festen Rang in Deutschland Dieses Frankreich-Bild sichert lhrem Land im Herzen der Deutschen einen herausragenden Platz. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Rainer Maria Rilke einige seiner schönsten Gedichte in Paris geschrieben hat. "Der Fluss, die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide", so empfindet er Paris.

Unsere Länder durchdringen sich im kulturellen Bereich. Sie geben einander seit jeher gegenseitige Impulse. Voltaire, einer der geistigen Wegbereiter der französischen Revolution, fand Sicherheit im Schloss Sanssouci in Potsdam. Heinrich Heine wiederum fand ein Jahrhundert später in Paris Zuflucht. Sein Werk "Deutschland, ein Wintermärchen" zeugt von einem in Frankreich geschärften kritischen Blick auf sein Vaterland.

Frankreich steht aber auch für Spitzentechnologie, für wissenschaftlichen Einfallsreichtum und für eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur. Frankreich und Deutschland sind füreinander die bei weitem größten Handelspartner wesentlich bedeutsamer als die USA oder Japan. 1997 kamen 17 Prozent der französischen Importe im Wert von ca. 316 Milliarden Französischen Francs aus Deutschland, 16 Prozent der französi'schen Exporte im Wert von zirka 271 Milliarden Französischen Francs gingen nach Deutschland. Frankreich ist auch ein bevorzugtes Ziel für deutsche Investitionen. Französische Investitionen leisten ihrerseits einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der neuen Bundesländer.

Sie haben zum neuen Start nach der Wiedervereinigung beigetragen, wobei diese wiederum auch dem französischen Export nach Deutschland einen durchaus bemerkenswerten Zuwachs bescherte.

Angesichts dieser engsten Verflechtung ist es nicht verwunderlich, dass es gerade zwischen unseren beiden Ländern zu Fusionen großer Unternehmen kommt. Rhone-Poulenc und Hoechst haben ihre Kräfte vereinigt. Das neue Unternehmen Aventis hat seinen Sitz in der auf beiden Seiten des Rheins symbolträchtigen, europäischen Stadt Straßburg. Die enge 30-jährige Zusammenarbeit in der Luft- und Raumfahrt hat zur Fusion von DASA mit Aerospatiale sowie Matra geführt. Hier haben Spitzenunternehmen auf unserem Kontinent aus freien Stücken ihre Kräfte vereint, um gemeinsam weltweit aus einer Position der Stärke heraus agieren zu können. Man könnte diese Auflistung fortsetzen. Sie zeugt von den unzählbaren Verbindungen, die in allen Bereichen des Lebens bestehen. Es sind im Lauf der Zeit Bande entstanden, die in ihrer Dichte das unvergleichlich engmaschige Geflecht der deutsch-französischen Beziehungen darstellen.

Uns verbindet Freundschaft und Vertrauen. Im europäischen Sprachgebrauch spricht man von dem "Acquis", das heißt von der injahrzehntelanger, enger Zusammenarbeit gemeinsam erarbeiteten Grundlage, auf der unsere Beziehungen sich dynamisch fortentwickeln werden. Unser "Acquis" ist solide. Die Zuschauer des deutsch-französischen Fernsehkanals Arte können sich jeden Abend ein Bild davon machen. Diese Realität des Austauschs zwischen unseren beiden Ländern widerspricht den immer wieder vorgebrachten Vermutungen eines vermeintlichen gegenseitigen Desinteresses. Eine solche Kritik vernachlässigt die breite Grundlage unserer Beziehungen und misst ihren Zustand einzig und allein an einigen symbolträchtigen Gesten. Die deutsch-französische Zusammenarbeit besteht aber vor allem aus zahllosen, häufig von der Öffentlichkeit wenig beobachteten Realitäten. So gibt es mit keinem anderen Land der Welt einen so engen Jugend- und Studentenaustausch. Unsere Aufgabe ist es, das gegenseitige Interesse wach zu halten und weiter zu stärken. Es gibt viele gute Gründe, aufeinander neugierig zu sein, die Sprache des Nachbarn zu erlernen und ihn, sein Land und seine Traditionen kennenzulernen.

Die Selbstverständlichkeit, mit der ich über die engen deutsch-französischen Beziehungen spreche, zeugt bereits von dem großen, nach der Ära der Konfrontationen, geleisteten Werk der Verständigung, der Freundschaft und der erfolgreichen Suche nach gemeinsamen Wegen. Auch die engste Partnerschaft bleibt allerdings nicht von gelegentlichen Interessenkonflikten verschont. Dies ist in einer sich schnell wandelnden Welt des Wettbewerbs, der permanenten Herausforderung und immer rascher aufeinander folgenden Umbrüche nur natürlich. Wir haben gemeinsam gelernt, diese Unterschiede in fairer Weise und im gegenseitigen Vertrauen auszutragen. Vor diesem Hintergrund sollten wir immer wieder auftretende Unterschiede nicht überbewerten, sondern vielmehr als Ansporn zur Suche nach gemeinsamen Lösungen verstehen. Unsere Beziehungen haben sich, trotz mancher Unkenrufe, als äußerst stabil und widerstandsfähig erwiesen. Dabei haben sie sich im letzten Jahrzehnt in rasantem Tempo an sich ändernde Umstände anpassen müssen. In diesem Jahr haben wir am 9. November den 10. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer gefeiert. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie dieses Ereignis, das in Deutschland zunächst mit ungläubigem Staunen wahrgenommen wurde, bevor es Jubelstürme auslöste, in Frankreich in einem Atemzug mit der französischen Revolution von 1789 genannt wurde. In der Tat stand der Fall der Mauer für die Befreiung der Hälfte unseres Kontinentes und die Rückkehr weiter Teile Europas in die Familie der demokratischen Staaten.


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