Grundrechte in Europa


Rede von Bundesjustizministerin Prof Dr. Herta Däubler-Gmelin auf dem Kongreß "Eine europäische Charta der Grundrechte Beitrag zur gemeinsamen Identität" am 27. April in Köln zu dem Thema: Warum brauchen die Europäer eine Charta der Grundrechte?

I.

Frau Kommissarin Gradin,
meine Damen und Herren, verehrte Anwesende,
auch ich begrüße Sie herzlich hier im Kölner Gürzenich.

Das Bundesministerium der Justiz veranstaltet diesen Kongreß zur Förderung einer europäischen Charta der Grundrechte zusammen mit der Europäischen Kommission.

Die Bundesrepublik Deutschland, die ja bekanntlich in den ersten sechs Monaten dieses Jahres die EU- Präsidentschaft innehat, weist diesem Projekt eine besondere Bedeutung zu.

Wir verfolgen zunächst das unmittelbare Ziel, unter unserem Vorsitz eine Erklärung des Europäischen Rats von Köln zu verabschieden, auf deren Grundlage dann der Prozeß der Ausarbeitung einer Grundrechte-Charta in Gang gesetzt werden kann.

In dieser Erklärung geht es zunächst darum, ein geeignetes Verfahren festzulegen, damit dann ein Gremium, dessen Zusammensetzung noch bestimmt werden muß, in absehbarer, hoffentlich nicht zu lange dauernder Zeit, den Entwurf einer Grundrechte-Charta erarbeiten und zur Verabschiedung vorlegen kann.

Ich halte es für besonders wichtig, daß nicht allein Kommission, Rat und Europäisches Parlament, sowie die Regierungen und die Parlamente der Mitgliedsstaaten an diesem Prozeß der Erarbeitung einer Grundrechte-Charta mitwirken können, in dem natürlich auf die vielfältigen hervorragenden Vorarbeiten gerade auch aus dem Bereich der Wissenschaft zurückgegriffen wird.

Ich plädiere vielmehr dafür, daß zusätzlich von Anfang an auch die Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden.

Gerade auch in den Parteien und in den vielfältigen interessierten gesellschaftlichen Gruppen muß es über die Grenzen der Mitgliedstaaten in Europa hinweg zu einem Nachdenken und zum Gespräch über die Grundlagen der Europäischen Union, über die Werte, die uns gemeinsam verbinden und besonders über eine Grundrechte-Charta kommen, weil auf diesem Weg mehr gesamteuropäisches Bewußtsein, mehr europäische Öffentlichkeit geschaffen werden kann, als wir sie heute haben.

Ich danke Ihnen, daß Sie heute nach Köln gekommen sind, um sich an diesem Prozeß des Nachdenkens, der Diskussion und auch der Arbeit am Fundament unserer Europäischen Union zu beteiligen.
II.

Im Zuge der Diskussion um die Erarbeitung einer Grundrechte-Charta werden viele Fragen auftauchen und geklärt werden müssen.

Die erste Frage, die wir heute stellen und die auch die Bundesregierung bei der Einbringung ihrer Initiative beantworten muß, lautet:

Warum brauchen die Europäer eine Charta der Grundrechte?

Darauf will ich heute eingehen, das ist auch mein heutiges Thema.

Zuerst allerdings soll klargestellt werden, was wir mit der Forderung nach einer EU-Charta der Grundrechte meinen.

Die Bezeichnung Charta ist ja im Laufe der Geschichte vielfach verwendet worden gerade auch im Zusammenhang mit Menschen- oder auch Bürgerrechten, zuweilen auch für wichtige, aber rechtlich nicht verbindliche Dokumente.

Wir streben mit unserer Initiative einen rechtlich verbindlichen Grundrechte-Katalog an, der dem Gründungsvertrag der Europäischen Union zugefügt werden und der die Grundrechte der Bürger gegenüber den Instanzen der Union auf der obersten juristischen Ebene garantieren soll.

Das Ziel ist also die Ergänzung der Verträge um die Grundrechte-Charta; es geht um die Garantie der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger Europas gegenüber den Instanzen der Union.

Das ist ein anspruchsvolles Ziel.

Wir wissen, daß dies nicht morgen erreicht werden kann, sondern viel Zeit, Überlegung und Einigungswillen erfordert.

Ich denke, wir sind uns auch alle einig in der Erkenntnis, daß wir dieses Ziel voraussichtlich nur über Zwischenstationen erreichen können.

III.

Das ist nichts Neues und kann uns nicht entmutigen.

Keiner der Schritte zu der heutigen Europäischen Union konnte beim ersten Anlauf oder ohne Zwischenstationen erreicht werden.

Wir alle wissen, wie lange Veränderungen und Fortschritte brauchen können und wie schwierig es in den Mühen der Ebenen des europäischen Alltags bisweilen ist, immer wieder Schritte zur Erreichung unserer Vision von Europa durchzusetzen. Und doch gelingen sie immer wieder.

Die Einführung des Euro ist ein Beispiel und das Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages in wenigen Tagen ein zweites aller berechtigten Kritik zum Trotz, weil jeder weiß, daß weitere Schritte folgen müssen.

Und auch die Entscheidungen des Berliner Gipfels zur Agenda 2000 vom vergangenen Monat machen uns Mut ebenfalls trotz aller Erkenntnis, daß diesen Entscheidungen weitere folgen müssen. Ich denke, um auf unsere konkrete Initiative zurückzukommen, die wir heute diskutieren, daß Carlo Schmid, jener große deutsche Politiker und Sozialdemokrat, der mit ganzem Herzen und voller Überzeugung Europäer war, mit seiner Feststellung recht hat, die ich jetzt zitieren will und die geradezu Leitmotiv für dieses Europäische Forum sein könnte.

Er hat in einer seiner zahlreichen und heute immer noch lesenswerten Vorträge zu Europa gesagt:

"Wir alle irren, wenn wir glauben, wir könnten Europa schaffen, indem wir es halb schaffen. Wenn Europa werden soll, dann muß man aufs Ganze gehen, dann muß man Europa zu einer ökonomischen, politischen und konstitutionellen Einheit machen."

So ist es. Und die Diskussion über eine Charta der Grundrechte in Europa ist ein Teil dieser Forderung auch nach dieser konstitutionellen Einheit.

IV.

Wenn wir in die Geschichte der Europäischen Union in den vergangenen Jahrzehnten zurückblicken, dann sehen wir, daß das Bedürfnis nach einer ausdrücklichen und verbindlichen Auflistung der Grundrechte in den europäischen Verträgen schon sehr früh empfunden und dann immer wieder artikuliert worden ist.

Ich will hier nur an einige Äußerungen und Dokumente erinnern.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem ersten Solange-Beschluß aus dem Jahr 1974, den es insoweit bekanntlich inzwischen aufgegeben hat, seine Kompetenz zur Wahrung der Grundrechte im Einzelfall bejaht, solange das Gemeinschaftsrecht nicht einen in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält.

Das Europäische Parlament hat schon 1984 einen umfassenden Verfassungsentwurf vorgelegt, der einen entsprechenden Grundrechtsteil enthielt. Dieser Entwurf wurde gerade auch in der Literatur umfassend diskutiert aber in der politischen Wirklichkeit
nicht weiter verfolgt.

1989 hat es dann mit der Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten einen weiteren Schritt unternommen. Diese Erklärung enthielt 24 Artikel mit Grundrechten, formulierte sehr weitgehend allgemeine Menschenrechte, sowie soziale und politische Grundrechte der Unionsbürger, kümmerte sich allerdings nicht um den Bereich, in dem die Gemeinschaft nach ihrer Kompetenzordnung überhaupt tätig werden kann. Vielleicht liegt hier ein Grund dafür, daß auch diese Erklärung nicht weiter politisch wirksam werden konnte.

Im Vorfeld des Vertrags von Amsterdam hat dann der institutionelle Ausschuß des Europäischen Parlaments im Jahre 1994 einen Verfassungsentwurf erarbeitet, der in seinem letzten Titel einen Katalog der von der Union verbürgten Menschenrechte enthielt.

Im gleichen Zusammenhang haben Mitglieder des Deutschen Bundestages für die SPD eine Charta der Grundrechte vorgeschlagen und einen Diskussionsentwurf vorgelegt, Professor Meyer, den ich hier herzlich begrüße, zeichnet mit anderen dafür verantwortlich, und im Dezember 1995 hat sich der Deutsche Bundestag dann in einer Entschließung die Forderung nach einem Grundrechte-Katalog zu eigen gemacht.

Im Mai 1997 haben Europaabgeordnete der Grünen, Frau Müller und Professor Ullmann, die ich ganz herzlich willkommen heiße, waren auch dabei, den Entwurf einer Erklärung der Grundrechte in der Europäischen Union für die Regierungskonferenz vorgelegt. Und auch die damalige Bundesregierung hat in die Verhandlung der Regierungskonferenz den Gedanken eines Grundrechte-Katalogs eingebracht. Frau Leutheuser-Schnarrenberger, die wir heute ebenfalls als Gast und zugleich als Vortragende begrüßen dürfen, hat sich damals ebenfalls engagiert. Auch diese Initiative ist allerdings, sicherlich auch wegen des Umfangs und der Komplexität der Aufgabe, nicht mehr im Vertrag von Amsterdam berücksichtigt worden. Die Forderung nach der Ausarbeitung eines spezifischen Grundrechte-Katalogs für Europa allerdings blieb :

Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam hat das Europäische Parlament sie in seiner Entschließung vom 19. November 1997 wieder aufgegriffen.

Auch die Wissenschaft hat sich an dieser Diskussion mit vielen wichtigen Beiträgen bis in die jüngste Zeit hinein außerordentlich aktiv beteiligt. Ich freue mich, daß ich sozusagen von allen Seiten prominente Wissenschaftler unter uns begrüßen kann:

Wir haben für die Workshops sowohl Befürworter, wie Professor Hilf, als auch Skeptiker, wie Professor Frowein, und Vertreter anderer Lösungen auf das Podium eingeladen. Besonders begrüße ich jedoch Sie, lieber Professor Simitis, die Sie eine von der Kommission eingesetzte Gruppe vonExperten genau zu dieser Frage geleitet haben. Ihre Expertengruppe hat in diesen Tagen ihre Ergebnisse vorgelegt ich freue mich sehr, daß im Rahmen dieser Konferenz auch darüber berichtet werden kann.

Alle diese Forderungen, die gescheiterten Vorstöße und die hervorragenden Ausarbeitungen helfen uns heute weiter.

Wir bauen darauf auf und wollen sie bei unserer aktuellen Initiative berücksichtigen.

Gerade weil wir wollen, daß unsere neue Initiative zum Erfolg führt, können wir bisherigen Überlegungen Nutzen ziehen. Und aus der Kritik an ihnen und aus den Gründen, die diese Initiativen zum Scheitern verurteilt haben.

Auch wenn wir das alles berücksichtigen werden Sie mir zustimmen:

Leicht wird es trotzdem nicht. Trotz allem, das sollten wir nicht übersehen, bleibt die Ausformulierung eines konsensfähigen, differenzierten und umfassenden Grundrechte-Katalogs eine schwierige Aufgabe.

V.

Bevor ich mich nun der Antwort auf die Frage nach den Vorteilen zuwende, die eine Charta der Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger Europas mit sich bringt, lassen sie mich eine These wagen:

Der Grundrechtsschutz in der Union wurde in der rechtlichen Entwicklung bis zum heutigen Tag so verstärkt, daß ein ausformulierter und den Verträgen hinzugefügter Grundrechte-Katalog den nächsten logischen Schritt darstellt.

Wir wissen: In den ursprünglichen Gründungsverträgen der Gemeinschaft war der Grundrechtsschutz nicht ausdrücklich enthalten.

Der Europäische Gerichtshof hat den Schutz der Grundrechte aus seiner allgemeinen Aufgabe zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages abgeleitet.

Grundrechtsschutz wird im Bereich der EU also durch Richterrecht gewährleistet und das hat bis heute einen hohen Stand erreicht, ein Niveau, das wir alle dankbar anerkennen.

Ich bin sicher, daß Sie, verehrter Herr Dr. Hirsch, uns das in Ihrem Vortrag sehr klar vor Augen führen werden.

Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, dazu jedoch an dieser Stelle einen Hinweis:

Weil der Europäische Gerichtshof die Grundrechte immer nur in einem Bereich schützen kann, der dem Kompetenzbereich der Europäischen Gemeinschaft entspricht, war der Grundrechtsschutz durch Richterrecht zu Beginn höchst unvollkommen.

Denn begonnen hat die Europäische Gemeinschaft eben als Wirtschaftsgemeinschaft. Und da ging es um den Grundrechtsschutz der Betroffenen, der Marktteilnehmer, der Marktbürger unter den Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten.

Das änderte sich auch nicht, als der Grundrechtsschutz zum ersten Mal in den europäischen Verträgen erwähnt wurde, das war in der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986.

Erst mit dem Maastricht-Vertrag von 1992 und dann besonders mit dem Amsterdamer Vertrag, der in wenigen Tagen in Kraft treten wird, ist hier ein Wechsel eingetreten.

Und heute können wir sagen, daß wir auf dem Weg vom Marktbürger zum Unionsbürger einen guten Schritt weitergekommen sind.

Das freilich verpflichtet nun auch zu einem umfassenden Grundrechtsschutz.

Der Amsterdamer Vertrag baut diesen denn auch aus. Er führt die in der Generalklausel des Artikels F Absatz 2 des Maastrichter Vertrags enthaltene Grundrechtsabsicherung durch Artikel 6 fort und ergänzt sie in Artikel 46 durch die ausdrückliche Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Prüfung der Grundrechte im Rahmen seiner jetzt umfassenderen Zuständigkeit.

Und besonders wichtig er unterstreicht zusätzlich die zentrale Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, indem er sie zur Voraussetzung für den Beitritt macht und für den Fall der schwerwiegenden und andauernden Verletzung eine Aussetzung der Rechte des betreffenden Mitgliedstaats ermöglicht.

Damit aber haben wir einen neuen Stand erreicht, den Stand, der mich zu meiner obigen These veranlaßt hat:

Mit der materiellen Gewährleistung des Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung einerseits und durch die vertragliche Gewährleistung in der Generalklausel andererseits ist die Integration bis zu der Schwelle gelangt, an der Richterrecht seine Grenzen hat und die ausdrückliche rechtliche Garantie der Einzelgrundrechte geboten erscheint. Es ist nur folgerichtig, die skizzierte Entwicklung in einen europäischen Grundrechte-Katalog einmünden zu lassen.



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