Ausgestaltung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anläßlich der XXXV. Münchner Konferenz für
Sicherheitspolitik am 6. Februar 1999 in München:
Lieber Herr Teltschik,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich bin gern zu dieser Tagung gekommen. Denn die "Münchner Tagung für Sicherheitspolitik",
die ich heute eröffnen darf, führt alljährlich bedeutende Akteure der Sicherheits-
und Verteidigungspolitik von diesseits und jenseits des Atlantik zu einem intensiven Meinungsaustausch zusammen.
Im Laufe der letzten Jahre sind unsere Freunde und neuen Partner aus Mittel- und Osteuropa
zum Kreis der Teilnehmer gestoßen. In diesem Jahr freue ich mich besonders, daß nun
auch hochrangige Vertreter aus Indien und der Volksrepublik China nach München gekommen sind.
Meine Damen und Herren, der Kalender der Weltpolitik hat es so gewollt, daß meine
Regierung, die neue Regierung in Deutschland, schon nach 66 Tagen im Amt eine Fülle
internationaler Aufgaben übernehmen mußte. Ich nenne im Zusammenhang der heutigen
Tagung nur die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union und den Vorsitz in der Westeuropäischen
Union.
Natürlich habe gerade ich deshalb großes Verständnis dafür, daß sich bei unseren Nachbarn
und Partnern die Frage stellt, wie sich dieses "neue Deutschland" - so haben es manche
Zeitungen beschrieben auf dem Sektor, der uns heute zusammengeführt hat, wohl "herausbilden" wird. Manche Skepsis war herauszuhören, ob die neue politische Generation,
die dieses Land heute regiert, womöglich für einen internationalen Kurswechsel steht
und ihn einzuleiten bereit sei. Ich betone deshalb auch vor Ihnen gern und besonders deutlich: Deutschland bleibt ein verläßlicher Partner in Europa und in der Atlantischen
Allianz ein Partner, der sich seiner nationalen und globalen Verantwortung in der
Friedens- und Sicherheitspolitik voll bewußt ist.
Schon vor Amtsantritt der neuen Regierung haben wir im Deutschen Bundestag bezüglich
der gefährlichen Entwicklung im Kosovo Deutschlands Handlungsfähigkeit und Solidarität
sichergestellt. Unsere Partner können sich darauf verlassen, daß das auch heute,
angesichts einer erneuten bedrohlichen Zuspitzung der Lage im B alkan, so bleibt. Ich
werde mir erlauben, später noch auf die Krise im Kosovo zurückzukommen.
Verläßlichkeit, das gilt auch für die große vor uns liegende Aufgabe in der Europäischen
Union und auch im Bündnis : die Definition und Ausgestaltung einer Europäischen Sicherheits-
und Verteidigungsidentität. Diese Aufgabe ergibt sich nicht nur aus den Erfordernissen einer nach der Überwindung des Kalten Krieges multipolar gewordenen Welt.
Für das Haus Europa ist eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsidentität ein
unverzichtbarer Baustein. Für das Bündnis wird sie ein zusätzlicher Garant der Handlungsfähigkeit, der effizienten Krisenprävention und Krisenbewältigung sein. Europa
und das Bündnis stehen vor neuen gemeinsamen Herausforderungen, auf die wir gemeinsame
Antworten finden müssen und ich bin dessen sicher finden werden. Das wollen wir
in und für Europa tun, ohne die NATO in irgendeiner Form zu schwächen.
Das wollen wir, gerade mit Blick auf die Neuausrichtung der Allianz, die wir auf dem
NATO-Gipfel im April in Washington besprechen werden, im Bündnis tun, indem wir eine
stärkere europäische Verantwortungsbereitschaft einbringen. Mit anderen Worten :
Wir wollen ein neues Europa für eine neue NATO, und wir wollen die neue NATO für das neue
Europa.
Wir in Europa wissen, was wir dem atlantischen Bündnis und dem europäischen Einigungswerk
zu verdanken haben: fünfzig Jahre friedlicher Entwicklung auf unserem Kontinent in
diesem, wie das die amerikanische Außenministerin Albright genannt hat, "blutigsten Jahrhundert überhaupt". Gerade wir Deutschen, die wir in diesem Jahr die Gründung
der Bundesrepublik vor fünfzig Jahren und den Fall der Berliner Mauer vor zehn Jahren
feiern, wissen sehr genau, daß Freiheit und Demokratie in Deutschland unauflöslich
mit dem historischen Erfolg der Allianz verbunden sind.
Das gemeinsame Europa hat in den vergangenen Jahren große Schritte hin zu einer unumkehrbaren
wirtschaftlichen und damit auch politischen Einheit getan. Zuletzt hat ein großer
Teil der Europäischen Union durch die Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro also, einen genuinen Akt gemeinsamer Souveränität vollzogen. Dieser Einigungs-
und Souveränitätsprozeß ist keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil : Er bedarf der
politischen Vertiefung und der geographischen Erweiterung. Beides - mir kommt es
darauf an, das klarzumachen ist untrennbar miteinander verbunden. Ohne Vertiefung werden
wir eine Erweiterung nicht bekommen können.
Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient, sowie die
Herausbildung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität sind unabdingbare
Stützpfeiler in diesem Vertiefungsprozeß. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist an den Werten des Friedens, der Menschenrechte und einer nachhaltigen, demokratischen
Entwicklung ausgerichtet. Das sind originär europäische, aber ebenso universelle
Werte, auf die im übrigen die nordatlantische Allianz immer aufgebaut war und sicher aufgebaut bleiben wird.
Dabei sind Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung, gerade angesichts der Globalisierung,
weit mehr als ein politisch-philosophisches Ideal. Die Wahrung der Menschenrechte
das hat uns nicht zuletzt die Asienkrise gezeigt ist auch für die Wirtschaft
ein bedeutsames Prinzip: Ohne umfassende Freiheiten gibt es keine wirklich freien
Märkte jedenfalls keine, die dies auf Dauer sein können. Ohne ökologische Nachhaltigkeit
und ohne freie Entwicklung der Individuen gibt es keine Investitionssicherheit. Auch das lehren die vielfältigen Krisen in der Welt. Und was für die Wirtschaft gilt,
gilt für die Sicherheitsarchitektur der Welt erst recht. In diesem Sinne muß unsere
Außen- und Sicherheitspolitik ein Beitrag zur globalen Zukunftssicherung sein. Wir
können es ruhig so nennen: Es wird ein Export politischer Stabilität sein müssen.
Die Achtung des Völkerrechts, das Eintreten für Menschenrechte, Dialogbereitschaft,
Gewaltverzicht und Vertrauensbildung sind die Grundsätze der Friedenspolitik, der
wir verpflichtet sind. Dabei kann moderne Sicherheitspolitik heute nur noch umfassend
verstanden werden. Die politische, wirtschaftliche, soziale, ökologische und auch militärische
Dimension müssen zusammengedacht, aber auch zusammengebracht werden.
Nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts gilt mehr denn je: Sicherheit kann heute
immer weniger rein militärisch gewährleistet werden. Die Risiken, die uns betreffen,
machen längst nicht mehr an den Grenzen der Nationalstaaten halt:
Ich nenne die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und die Entwicklung weitreichender
Trägerwaffen, gewaltbereiten Fundamentalismus, internationalen auch staatlichen
Terrorismus, weltweit organisierte Kriminalität, eine Rückkehr ethnischer Konflikte; aber auch soziale und ökonomische Krisen, die zu enormen Migrationswellen
führen können und wie wir alle wissen schon geführt haben.
Die grundsätzliche Antwort auf solche Herausforderungen ist einfach formuliert, aber
hochkompliziert in der Durchführung. Es geht um effizientes Krisenmanagement. Das
heißt in aller Regel: Es geht um wirksame Krisenprävention. Vorbeugendes Handeln,
das Krisen vermeiden oder schon im Ansatz zu bekämpfen hilft, ist eben nicht nur humaner,
sondern auch ökonomisch günstiger und im übrigen effizienter als nachträgliche Krisenbewältigung.
Unsere deutlich erklärte Bereitschaft, zusammen mit unseren Partnern Menschen- und
Völkerrecht notfalls auch militärisch durchzusetzen und humanitäre Katastrophen mit
Waffengewalt zu verhindern, würde verpuffen, wenn wir nicht alle Anstrengungen zur
Früherkennung und frühzeitigen Unterbindung von Krisen unternehmen.
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