Ungarn Empfang im Jagdsaal des Parlaments

Bundespräsident Roman Herzog hielt bei einem Abendessen, gegeben vom Präsidenten der Republik Ungarn, Arpad Göncz, im Jagdsaal des Parlaments in Budapest am 25. Februar 1997 folgende Ansprache :

Herr Präsident, meine Damen und Herren,
haben Sie vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre liebenswürdigen Worte der Begrüßung. Gern sind meine Frau und ich Ihrer Einladung zu diesem Staatsbesuch gefolgt. Ich freue mich, dabei an die außerordentlich herzlichen und anregenden Gespräche anknüpfen zu können, die wir in der Vergangenheit geführt haben.

Wer als Deutscher nach Ungarn kommt, kann gar nicht anders, als sich der dramatischen Bilder von 1989 zu erinnern. Hier entstand der erste wirkliche Riß im Eisernen Vorhang, und hier nahm eine Entwicklung ihren Anfang, die Deutschland die Einheit und ganz Europa die Freiheit brachte. Ministerpräsident Horn hat bei den letztjährigen Feierlichkeiten zum 3. Oktober in München zu den Ereignissen von 1989 gesagt: "Wir mußten uns entscheiden, und wir Ungarn haben uns für Europa entschieden." Die Schlüsselrolle, die Ungarn in dieser wahrhaft europäischen Freiheitsrevolution spielte, bleibt unvergessen. Wir Deutsche empfinden gegenüber Ihrem Land und seinen Menschen dafür aufrichtige Dankbarkeit .

Unser Dank und Respekt gilt in besonderem Maße Ihnen, Herr Staatspräsident. Es läßt sich immer wieder belegen: Geschichte lebt vor allem in der Biographie der Menschen. Sie, Herr Staatspräsident, sind hierfür ein herausragendes Beispiel : Ihr kompromißloses Eintreten für Freiheit und Demokratie hat die Geschichte Ungarns und Europas auf beeindruckende Weise mitgeprägt. Und die Kraft Ihrer Persönlichkeit hat das Gewicht Ihres Landes im Kreis der europäischen Demokratien wesentlich mitbestimmt.

Wer vom Freiheitsjahr 1989 spricht, muß unwillkürlich auch an die Ereignisse von 1956 zurückdenken. Die gewaltsame Unterdrückung der Freiheit in Ungarn löste damals in Deutschland eine Welle der Anteilnahme aus. 200 000 Ungarn mußten nach der brutalen Niederschlagung der Revolution ihr Land verlassen, viele von ihnen fanden Zuflucht in Deutschland.

Unsere beiden Völker verbindet aber weit mehr als die Erinnerung an die Jahre 1956 und 1989. Über die Jahrhunderte hinweg sind Ungarn und Deutschland in eine historische und kulturelle Gemeinsamkeit von ganz spezifischer, unverwechselbarer Qualität hineingewachsen. Schon vor fast 1000 Jahren, als sich König Stephan für das römische Christentum entschied, entstand der Ausdruck "Ungarn ist Teil und Beschützer des Westens".

Ich persönlich freue mich natürlich besonders darüber, daß die Hinwendung Ungarns zum Christentum und damit zum Westen auch untrennbar mit zwei Namen aus meiner niederbayerischen Heimat verbunden ist, mit den Namen Wolfgangs und Pilgrims von Passau, die am Ende des zehnten Jahrhunderts ihre Mis sionstätigkeit in Ungarn aufnahmen. Seit der Zeit Stephans des Heiligen ist die Geschichte Ungarns immer auch ein Teil der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte gewesen.

Herr Präsident, Deutschland hat den ungarischen Wunsch, der Europäischen Union und der NATO beizutreten, von Anfang an und aus guten Gründen unterstützt. Ich bin optimistisch: Deutschland und Ungarn werden ihre Zukunft in einem vereinten Europa tatsächlich gemeinsam gestalten können. 1997 ist dafür ein wichtiges, vielleicht sogar das entscheidende Jahr. Mein Besuch bei Ihnen unterstreicht, daß Deutschland in diesem historischen Augenblick ohne Einschränkung an Ihrer Seite steht.

Im zivilisatorischen Sinn was viel gewichtiger ist, als Institutionen und politische Strukturen es je sein können geht der Begriff der "Osterweiterung" ja an der historischen Realität vorbei. Umgekehrt ist es richtig : Ungarn kehrt zum Westen zurück wirtschaftlich, politisch, kulturell und sicherheitspolitisch.

Die Aufnahme Ihres Landes in die Europäische Union und die NATO ist weder gegen Dritte gerichtet noch bedarf sie einer Rechtfertigung. Sie ist selbstverständlich, weil die Europäische Union kein theoretisches Konstrukt ist, sondern die kulturelle, wirtschaftliche und politische Identität Europas verkörpert, die ohne Ungarn einfach nicht vollständig wäre. Das gleiche gilt sinngemäß für die amerikanisch-europäische Sicherheitsidentität, die in der NATO ihren Ausdruck findet.

Die Sehnsucht nach Freiheit, Frieden und Marktwirtschaft ist zu einem einigenden Band zwischen unseren Völkern geworden. Unsere Länder bekennen sich zur Achtung der Menschenrechte, zur europäischen Einigung, zu guten Nachbarschaftsbeziehungen. Der Abschluß der Grundlagen-verträge Ihres Landes mit der Slowakei und Rumänien ist bedeutsam für die Stabilität im mittel- und osteuropäischen Raum insgesamt. Europa kann nur auf einer Politik des Ausgleichs und auf der friedlichen Regelung von Konflikten erbaut werden. Ungarn und seine Nachbarn haben durch die Verankerung dieser Prinzipien in ihren Beziehungen ein Fundament geschaffen, auf dem das einige, friedliche und demokratische Europa wachsen kann.

Unser Kontinent durchlebt heute eine Zeit tiefgreifender Veränderungen, die uns alle vor große intellektuelle, politische und ökonomische Herausforderungen stellen. Wir haben es in unseren Ländern mit den Spätfolgen eines Systems zu tun, das an sich selbst erstickt ist. In Deutschland kennen wir die Anstrengungen, die nötig sind, um die Trennung zwischen Ost und West zu überwinden, aus eigener Erfahrung. Wir wissen, welches Maß an Veränderungsbereitschaft gefordert ist, und wir verfolgen Ihre Anstrengungen mit Bewunderung und Sympathie. Wir dürfen aber nicht vergessen: Die neuen Entwicklungen nach der langen Trennung in Europa bieten auch einmalige Chancen für Frieden, Stabilität und Wohlstand. Vor nunmehr fünf Jahren haben Bundeskanzler Kohl und der verstorbene Ministerpräsident Antall den deutsch-ungarischen Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft unterzeichnet. Auf der Grundlage dieses Vertrages sind seither die Beziehungen zwischen unseren Ländern in allen Bereichen aufgeblüht. Die gemeinsamen Aktivitäten in Handel und Industrie, Kultur und Wissenschaft sind schon zu vielfältig, als daß ich sie hier aufzählen könnte. Wichtiger ist mir aber noch die Selbstverständlichkeit, die die tägliche Zusammenarbeit zwischen den Menschen unserer beiden Länder auszeichnet. Hier ist eine Realität entstanden, die mir manchmal dem politischen Vorstellungs-vermögen vorauszueilen scheint.


Ich erhebe mein Glas auf Ihr Wohl, Herr Staatspräsident, auf das Wohl von Ihnen, verehrte Frau Göncz, auf eine glückliche Zukunft des ungarischen Volkes und auf den Frieden in Europa und in der Welt.


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