Zum 100. Geburtstag von Gustav Heinemann
Beitrag von Bundespräsident Johannes Rau am 23. Juli 1999.
Heute vor hundert Jahren ist Gustav Heinemann geboren. Er war einer der großen deutschen
Politiker dieses Jahrhunderts, vielen Menschen ein Vorbild -- in vielem auch für mich,
der ich ihn gern meinen politischen Lehrmeister nenne.
Bundespräsident wurde Heinemann in einer bewegten Zeit. Es war die Zeit, in der nahezu
alle Autoritäten in Frage gestellt wurden, in der die Kritik an Staat und Institutionen
zu einer alltäglichen Übung wurde. In dieser Zeit wurde ausgerechnet er, der in vieler Hinsicht altmodisch wirkte, der sich dem Zeitgeist nie auslieferte, zu einer
Autorität. Gustav Heinemann war glaubwürdig und prinzipientreu, er verbarg weder
seinen christlichen Glauben noch seine politischen Überzeugungen. Er wurde zu einer
moralischen und politischen Autorität, weil er höchste Ansprüche zuerst an sich selber stellte.
Die Wahl Gustav Heinemanns am 5. März 1969 war ein symbolischer Einschnitt in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zum erstenmal wurde ein Sozialdemokrat
in das höchste Staatsamt gewählt.
Obwohl Gustav Heinemann auch selber seine Wahl als "ein Stück Machtwechsel" bezeichnete,
führte er das Amt von Anfang an so überparteilich und überkonfessionell, wie das
seinem Amtsverständnis und seinem Pflichtgefühl entsprach. Das Zusammenführen gesellschaftlicher Gruppen, die Integration der am Ende der sechziger Jahre auseinanderdriftenden
Generationen war ein Kennzeichen seiner
Präsidentschaft.
Für Gustav Heinemann war der Friede und seine Erhaltung die erste Aufgabe, ja der
eigentliche "Ernstfall" der Politik. Der entschiedene Gegner der Wiederbewaffnung,
der nie Pazifist gewesen war, war häufiger bei der Bundeswehr zu Gast als alle anderen
Bundespräsidenten vor ihm. Er achtete den Dienst in der Bundeswehr genauso als Gewissensentscheidung
wie den Zivildienst.
An die "unruhige" Jugend, wie er sie nannte, richtet er den Appell, diejenigen zu
unterstützen, die "den langen Marsch" der Reformen bereits vor ihr angetreten hatten
und fortsetzen wollten. Gerade die oppositionellen Gruppen sollten die "elementaren
Formen der Freiheiten unserer Ordnung" beachten, denn gerade sie genössen ja auch den Schutz
dieser Freiheiten.
Immer wieder setzte Gustav Heinemann Zeichen der Verständigung und Versöhnung. Schon
bei seinem ersten Besuch in Berlin lud er durch Vermittlung seines Freundes
Helmut Gollwitzer Vertreter der "Außerparlamentarischen Opposition" ins Schloß Bellevue
ein.
Bei aller Überparteilichkeit scheute Heinemann die Konflikte nicht. Vor allem seine
starke Betonung der deutschen Freiheitsgeschichte, derBauernkriege, der badischen
Revolution, der verschiedenen Aufstände und demokratischen Bewegungen trugen ihm
nicht nur Zustimmung und Unterstützung ein. Ihm war wichtig, daß sich nicht nur Kriegsdaten
wie "70/7 1", "14/18", "39/45" im geschichtlichen Bewußtsein festsetzen, sondern
mehr noch die Freiheitsdaten der demokratischen Geschichte in Deutschland wie 1517,
1848 oder 1949. Leicht kann man sich ausmalen, welche Freude er erst über das Jahr 1989 empfunden
hätte.
Zeichen der Versöhnung setzten auch seine Besuche bei den im Krieg von Deutschen besetzten
Nachbarländern. Die Niederlande besuchte er als erster Bundespräsident.
Die betonte Schlichtheit seiner Amtsführung, die von protestantischer Pflichtethos
und preußischem Sinn für das Angemessene geprägt war, die Abschaffung protokollarischer
Schnörkel und seine klare und unmißverständliche Sprache trugen ihm die Bezeichnung
"Bürgerpräsident" ein.
Gustav Heinemann wollte den Menschen und ihren konkreten Sorgen nahe sein. Oft lud
er kleine Gesprächsrunden in die Villa Hammerschmidt ein. Vertreter von Berufsgruppen,
Verbänden und Initiativen, Künstler, Wis senschaftler und Abgeordnete konnten ungezwungen über das reden, was ihnen wichtig war. Er nannte das seinen "dauernden Fortbildungskurs"
und blieb so dem konkreten Leben der Bürger nahe.
Ganz besonders kümmerte er sich immer wieder um alle, die im Schatten einer Wohlstandsgesellschaft
lebten, deren Reichtum auch damals zu ungleich verteilt war. "Es sind die, die den
einseitig auf Leistung bedachten Forderungen der Wirtschaftsgesellschaft am wenigsten entsprechen: die alten Menschen, die Kinder, die Behinderten und die Nichtanpassungsgeeigneten".
Gustav Heinemann ließ sich 1974 aus gesundheitlichen Gründen nicht zu einer Wiederwahl
bewegen. Als er sein Amt verließ, genoß er großes Ansehen und Respekt bei der großen
Mehrheit der Deutschen, und er hatte unserem Land neue Freunde bei unseren Nachbarn
und Partnern in der Welt gewonnen.
Als Gustav Heinemann am 7. Juli 1976 im Alter von fast siebenundsiebzig Jahren starb,
verlor unser Land ein große Gestalt seiner demokratischen Geschichte, Wenn wir uns
heute an ihn erinnern, steht vor uns das Bild eines Mannes, der Politik als Dienst
an den Menschen verstanden hat mit dem Ziel, soviel Freiheit und soviel Gerechtigkeit
wie irgend möglich zu verwirklichen.
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