BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG


Nr. 67-2 vom 14. Oktober 2000

Rede von Bundespräsident Johannes Rau


auf dem Jahresforum des Vereins Gegen Vergessen Für Demokratie e. V." am 14. Oktober 2000 in Berlin:

Die Zukunft unserer Demokratie"


I.

Niemand mit Verstand, mit Erfahrung und Geschichtsbewusstsein wird bestreiten: Die< Demokratie ist bei allen Mängeln die beste Staatsform, jedenfalls dann, wenn man nach der Praxis urteilt. Das wussten viele schon vor Winston Churchill.

Bei Gedenktagen ganz unterschiedlicher Art erinnern wir uns daran und sind dankbar dafür, dass wir in einem Land mit einem stabilen politischen System leben. Wir haben uns in unserer Demokratie behaglich eingerichtet. Wir verlassen uns darauf, dass sie funktioniert und in der Tat: Wir können uns darauf verlassen. Aber zu viele verlassen sich leider auch darauf, dass die Demokratie ohne ihr Zutun funktioniert. Über fünfzig Jahre stabile Demokratie in Deutschland: Wie kommt es da, dass immer wieder die Frage gestellt wird, ob unsere Demokratie nicht in Gefahr sei? Gerade in jüngster Zeit hat es mehr als eine öffentliche Debatte mit vielen unterschiedlichen Beiträgen gegeben über die Zukunft unserer Demokratie, über ihre tatsächlichen oder ihre angeblichen Gefährdungen.

Lassen Sie mich drei Gründe nennen, die vielen Menschen Anlass zu Zweifeln geben, ob unsere Demokratie so funktioniert, wie wir uns das wünschen. Das Aufdecken illegaler Formen der Parteienfinanzierung hat die Skepsis vieler Menschen bestärkt, dass die Parteien in erster Linie an sich selber denken. Ist die Parteiendemokratie wirklich zukunftsfähig, so wird gefragt, ist sie nicht dringend reformbedürftig? Die er-schreckenden Gewalttaten gegen Menschen, die anders aussehen als die Mehrheit schwächer sind, lässt viele von uns fragen: Warum ist die Demokratie nicht stark genug, solche Schandtaten zu verhindern? Viele haben wachsende Zweifel daran, ob demokratisch legitimierte Politik bereit und in der Lage ist, die wirtschaftliche Globalisierung angemessen, im Interesse der Menschen zu gestalten. Auch überzeugte Marktwirtschaftler fragen, ob Regierungen nicht immer stärker zu Vollzugsgehilfen wirtschaftlicher Interessen werden. Eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben ist es, die Politik auch auf internationaler Ebene in die Lage zu versetzen, der Wirtschaft einen Ordnungsrahmen zu geben so wie dies der Idee der sozialen Marktwirtschaft entspricht.

II.

Gewalt gegen Schwächere, gegen Fremde und Anschläge auf jüdische Einrichtungen und Stätten der Erinnerung sind Anschläge auf die Würde von uns allen. Es ist ein Alarmsignal, wenn heute wieder dumpfe rassistische Parolen verbreitet werden, die vor allem junge Menschen als Anlass oder Vorwand für brutale Gewalt und hasserfüllte Taten nehmen. Die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland verabscheut und verachtet diese Taten. Darum können wir guten Gewissens sagen: Die Demokratie in Deutschland wird durch den Rechtsextremismus nicht wirklich in Gefahr gebracht. Aber wir haben allen Anlass, wachsam zu sein und entschlossen zu handeln. Jede Gewalttat ist eine Gewalttat zu viel. Unsere Demokratie ist dem Schutz der Menschenrechte und damit auch von Minderheiten besonders verpflichtet. Darum ist sie und muss sie wehrhaft sein. Sie muss alle Mittel des Rechtsstaats einsetzen, ohne ihre liberale Substanz zu gefährden.

Der Erfolg einer solchen Politik wird dann am größten sein, wenn wir entschlossen und schnell handeln, zugleich aber auch gezielt vorbeugen.Ich rate uns, dass wir ganz genau hinschauen: Es gibt rechtsextreme Ideologen und zynische Stichwortgeber, die wohl nur in den seltensten Fällen durch Dialog und Aufklärung zu erreichen sind. Es gibt aber auch viele gewaltbereite und sensationslüsterne Mitläufer und auch junge Menschen, die den Tabubruch nutzen, um auf ihre tatsächlich oder vermeintlich hoffnungslose Situation aufmerksam zu machen. Die dürfen wir nicht als hoffnungslose Fälle abschreiben. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Jugendlichen in unserer Gesellschaft einen Platz haben und dass sie sich aufgehoben fühlen können. Darum wir nicht nachlassen in dem Bemühen um Ausbildungs- und Arbeitsplätze für alle jungen Menschen. Darum dürfen wir nicht nachlassen, wenn es um sinnvolle Freizeitangebote für junge Menschen geht. Das ist eine Aufgabe von Vereinen und Jugendorganisationen, von Elterninitiativen, aber auch von Gemeinden. Da geht es um weit mehr als um ausreichende finanzielle Mittel. Junge Menschen brauchen Orientierung und sie brauchen Vorbilder. Sie brauchen die Chance, Erfahrungen zu machen mit sich und mit anderen und sich in der Verantwortung für andere zu erproben. Sie brauchen Eltern und Freunde, die Zeit für sie haben, die für sie da sind.

Damit junge Menschen ihren Platz in unserer Gesellschaft finden können, brauchen wir auch viele Männer und Frauen, die sich ehrenamtlich engagieren: Männer und Frauen, die die Freiwillige Feuerwehr oder das regelmäßige Fußballtraining organisieren, die sich im Tierschutz einsetzen oder Begegnungen mit jungen Menschen aus Partnerstädten planen. Ein solches Netz trägt junge Menschen auch in schwierigen Situationen und macht sie stark gegen Vergiftung und Verführung. Wenn jeder von uns an seinem Platz mitknüpft an diesem Netz, dann ist das auch ein ganz wichtiger Beitrag gegen Fremdenhass und Gewalt in Deutschland. Die meisten von uns wissen das. Wir müssen aber auch etwas dafür tun.

III.

Ich frage mich immer wieder, ob wir genügend dafür tun, dass junge Menschen die demokratische Lebensform lernen können, damit sie Gelegenheit haben, eigene Erfahrungen zu machen. In der Tat: Demokratische Gesinnung und demokratisches
Handeln sind nicht angeboren. Sie müssen gelernt werden. Darum muss Demokratie gelehrt werden. Sie muss erfahrbar sein. Am besten ist, wenn sie vorgelebt wird. Die politische Bildung an unseren Schulen vermittelt jungen Menschen die Kenntnis von den Bausteinen unserer Gesellschaft und unseres Staatsgebäudes. Das ist unverzichtbar. Aber politische Bildung hat ihr Ziel erst dann erreicht, wenn ihr mehr gelingt: Sie muss junge Menschen dazu anstiften, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen, weil es ihre eigenen Angelegenheiten sind.

Junge Menschen sollen erfahren, dass die Demokratie keine bequeme Hängematte ist, in der man über allen Widrigkeiten der Welt schaukelt. Sie sollen erfahren, dass sich einsetzen muss, wenn man etwas erreichen will. Sie sollen erfahren, dass unsere Demokratie nur dann lebendig ist, wenn wir unsere Rechte auch nutzen. Jungen Menschen soll deutlich werden, dass demokratisches Handeln nicht beliebig delegiert werden kann, während man sich nur um sich allein kümmert. Wir müssen wieder stärker deutlich machen, dass wir in der Demokratie zuerst Staatsbürger mit gleichen Rechten und Pflichten sind. Die Demokratie stirbt, wenn wir uns nur noch wie Marktteilnehmer und Konsumenten verhalten.

Natürlich kenne ich das Argument: Man kann ja eh nichts machen". Und es stimmt: Jeder und jede von uns kennt Situationen, in denen man sich wie Don Quichotte im Kampf mit den Windmühlenrädern vorkommt. Das kann einem mit Verwaltungen und Versorgungsunternehmen, mit der Sozialversicherung oder einem Privatunternehmen passieren. Ein demokratischer Staatsbürger zeichnet sich für mich dadurch aus, dass er auch Entscheidungen akzeptiert, die er nicht für der Weisheit letzter Schluss hält, wenn das aus der Natur der Sache heraus nicht zu vermeiden ist. Der demokratische Staatsbürger zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass er seine Rechte kennt und dass er weiß, welche Wege ihm zur Verfügung stehen, seine berechtigten Interessen wahrzunehmen. Denn man muss sich wahrlich nicht alles gefallen lassen.

In unserer Demokratie gibt es viele Möglichkeiten, staatliches Handeln zu kontrollieren, zu kritisieren und zu beeinflussen. Junge Menschen müssen spüren, dass Ratsmitglieder, Abgeordnete nicht für sich selber oder für ihre Partei da sind, sondern für die Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen wissen, was sie tun können, wenn sie sich von einer Verwaltung falsch oder schlecht behandelt fühlen. Sie müssen lernen und einüben, dass man gemeinsam mit anderen etwas bewegen kann, in Vereinen, in den Gewerkschaften, in Bürgerinitiativen mit Infoständen in der Fußgängerzone oder durch Leserbriefe in den Lokalzeitungen. Demokratie gibt schließlich jedem einzelnen die Möglichkeit, die Bedingungen seines eigenen Lebens mit zu gestalten und Einfluss auf die Formen unseres Zusammenlebens zu nehmen.

Wer seine Rechte kennt und wer sie zu nutzen gelernt hat, der wird auch leichter einsehen und akzeptieren, dass in der Demokratie den Rechten auch Pflichten gegenüber stehen. Neben den wenigen Pflichten, die gesetzlich festgelegt sind, braucht sollte jeder und jede versuchen, sich über wichtige öffentliche Angelegenheiten zu informieren, und jeder und jede sollte sich verpflichtet fühlen, auf allen demokratischen Ebenen von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Wer nicht wählt, wählt ja auch. Er unterstützt die jeweilige Mehrheit. Wenn aber Mehrheiten mit immer geringerer Wahlbeteiligung zu Stande kommen, dann darf die passive Mehrheit sich über Entscheidungen, die ihr nicht gefallen, weder wundern noch beklagen. Politisches Denken beginnt im Elternhaus und in der Schule. Eine besondere Verantwortung tragen aber die Parteien. Einer der Autoren der jüngsten Shell-Studie zur Situation der Jugend in Deutschland hat kürzlich gesagt, nicht die Jugendlichen seien politikverdrossen, sie hätten vielmehr das Gefühl, dass die Politik jugendverdrossen sei. Das muss auch denen in allen Parteien zu denken geben, die sich nach besten Kräften bemühen, junge Menschen für die Mitarbeit in ihrer Partei zu gewinnen.

IV.

Nicht nur junge Menschen suchen heute ganz offensichtlich nach neuen Wegen und neuen Mitteln, um ihre Interessen wahrzunehmen und ihren Beitrag in Politik und Gesellschaft zu leisten. Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hat einmal gesagt, Jede Generation ist aufgerufen, ihre Verfassung zu überdenken und sie notfalls entsprechend den gewandelten Erfordernissen zu erneuern." So Thomas Jefferson.

Lassen Sie mich das an einem Thema deutlich machen, über das in den vergangenen Monaten schon viel diskutiert worden ist. Unser Grundgesetz kennt von einer Ausnahme abgesehen weder Volksbegehren noch Volksentscheid. Dafür hatten die Mütter und Väter unserer Verfassung 1948 und 1949 gute Gründe. Die historischen Erfahrungen der Deutschen in der Weimarer Republik schienen gegen plebiszitäre Elemente und für ein starkes parlamentarisches System zu sprechen. Auch heute sollten wir Bedenken nicht einfach zur Seite schieben. Wer wollte leugnen, dass Volksbegehren und Volksentscheide auch Demagogen auf den Plan rufen und dass manche versucht sein können, mit viel Geld Stimmung und Stimmen zu machen? Ich bin mir aber sicher, dass wir nach über fünfzig Jahren Demokratie selbstbewusst und erfahren genug sind, um einen guten Weg zwischen populistischer Aufwiegelung und übervorsichtiger Ablehnung zu gehen.


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