Die Zukunft Europas und die deutsch-französische Partnerschaft, Rede von Bundesaußenminister
Joschka Fischer am 30. Januar 2001 vor dem Frankreich-Zentrum
der Universität Freiburg
Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
morgen werden sich Präsident Chirac, Premierminister Jospin, Bundeskanzler Schröder
und ihre Außenminister unweit von hier in Straßburg treffen. Sie haben sicher Verständnis
dafür, dass ich heute nicht vorwegnehmen kann und darf, was wir morgen besprechen
wollen. Ich will deshalb diesen vom Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg politisch
nicht absichtlich so terminierten Vortrag nicht damit verbringen, über morgen zu
spekulieren, sondern im Gegenteil mit Ihnen einige grundsätzliche Überlegungen zur
deutsch-französischen Partnerschaft und ihrer Bedeutung für die Zukunft Europas diskutieren.
Im Blätterwald diesseits und auch jenseits des Rheins ist in den Wochen seit dem Europäischen
Rat von Nizza viel interpretiert und auch geraunt worden von vermeintlichen Siegern
und verschobenen Gewichten.
Ich halte von diesen Interpretationen gar nichts. Eine solche Sichtweise ist rückwärtsgewandt
und wird Europa nicht voranbringen. Zudem ist diese Interpretation von Nizza schlicht
falsch. Da wird allzu vieles durcheinander geworfen und vor allem der Charakter der deutsch-französischen Partnerschaft und des europäischen Einigungsprozesses
gründlich verkannt. Auch die Frage, ob nun Deutschland mehr auf Frankreich oder Frankreich
mehr auf Deutschland angewiesen ist und ob das früher anders war, ist eine völlig in die Irre führende Frage.
Europa gründet auf der deutsch-französischen Verständigung, auf unserer engen Partnerschaft.
Diese Beziehung ist nicht austauschbar und das wird auch für die Zukunft der europäischen
Integration gelten. Um zu verstehen, warum das so ist, ist es notwendig, sehr sorgfältig zu untersuchen, was sich seit 1989 für Europa, Deutschland und Frankreich
geändert hat und was noch heute Gültigkeit besitzt. Denn das Jahr 1989, als mit dem
Ende des Kalten Krieges die festgefrorene politische Landschaft in der Mitte Europas in Bewegung geriet, markiert eine "tektonische Verschiebung" der politischen Lage
auf
unserem Kontinent.
I.
Was war vor 1989? Zwei große französische Europäer erkannten in dem durch Hitlerdeutschland
in Trümmer gelegten Europa nach 1945 die Chance eines grundlegenden Neuanfangs: Jean
Monnet und Robert Schuman. Ihr Prinzip der Integration überwand das System des Gleichgewichts der Mächte und seine großen Kriegsgefahren auf dem europäischen Kontinent,
in dem Deutschland seit seiner ersten Nationalstaatsbildung für das prekäre Gleichgewicht
der Mächte stets zu groß, für eine Hegemonie aber zu klein gewesen war. Die Zusammenführung von Teilen der Souveränität der sechs Gründerstaaten in der europäischen
Integration, anfangs in der "Hohen Behörde" der Montanunion, dem Vorläufer der Europäischen
Kommission, war eine politisch "revolutionäre" Leistung. Den
Staaten und Völkern, die sich diesem Integrationsprozess anschlossen, hat er über
50 Jahre Freiheit, Frieden und beispiellosen Wohlstand beschert.
Die strategische Weitsicht und der politische Mut Frankreichs, mit dem "Erbfeind"
Deutschland, der ihr Land dreimal in 70 Jahren mit Krieg überzogen hatte, im besten
Sinne des Wortes "gemeinsame Sache" in der europäischen Integration zu machen, sind
in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzen. Sie waren - zusammen mit dem Entschluss der
USA, nach 1945 in Europa präsent zu bleiben - die Antwort auf die historisch hochgefährliche
Frage, die Europa seit dem 19. Jahrhundert unendliches Leid zugefügt und zwei Weltkriege ausgelöst hat, nämlich die Frage "Wo liegt Deutschland?" Das Bild von de
Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims symbolisiert diesen Triumph der Idee
der Integration über die Verheerungen des Zeitalters des Nationalismus.
Was hat sich seit 1989 geändert? Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner
Mauer war die erzwungene Begrenzung der europäischen Integration auf Westeuropa und
die alte Bundesrepublik hinfällig geworden. Deutschland hat sich seither mit großem
Engagement für die Aufnahme der Mittel- und Osteuropäer eingesetzt. Denn mit der Erweiterung
wird die alte Frage "Wo liegt Deutschland?" für das geeinte Deutschland auch im Osten
dauerhaft und unumkehrbar beantwortet: Deutschland hat seinen Platz in unverrückbaren Grenzen in einem ungeteilten und integrierten Europa gefunden. Der Beitritt
Polens zur NATO und EU wird aus deutscher Sicht die Vollendung einer Politik
sein, die mit Willy Brandts Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos vor dreißig
Jahren ihren symbolischen Anfang nahm.
Es wäre aber ein großes Missverständnis, aus dieser Bedeutung der EU-Erweiterung für
Deutschland nun zu schließen, die Osterweiterung sei vor allem ein deutsches Projekt.
Es war der Franzose Robert Schuman, der 1963 mit großer Klarheit formulierte: "Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker errichten,
sondern auch, um die Völker Osteuropas in diese Gemeinschaft aufnehmen zu können,
wenn sie, von den Zwängen, unter denen sie leiden, befreit, um ihren Beitritt und
unsere moralische Unterstützung nachsuchen werden."
Diese Unterstützung des freien, ungeteilten Europa und der Erweiterung bestimmt auch
heute die französische Politik.
Die Erweiterung der EU ist zugleich historische Chance und politische Notwendigkeit.
Eine Verweigerung der EU gegenüber den Demokratien Mittel- und Osteuropa würde die
Idee der Integration selbst unweigerlich aushöhlen und schließlich zu zerstören drohen.
Diese Länder dem alten Gleichgewichtssystem mit seinen nationalen Orientierungen,
seinen Koalitionszwängen und der klassischen Interessenpolitik zu überlassen, würde
Europa dauerhaft zu einem Kontinent der Unsicherheit machen. Die Kriege auf dem Balkan
sollten uns Mahnung genug sein. Die Erweiterung der EU bedeutet deshalb mehr Sicherheit,
mehr Wohlstand für alle Mitgliedstaaten, heutige und künftige.
Das sich vereinigende Europa wurde in Paris zuerst gedacht und war von Anbeginn an
französisch geprägt. Das wird auch für das künftige, größere Europa fortgelten. Es
sind die Werte der französischen Revolution und der Zeit der Aufklärung, die die
europäische Integration für die Staaten Mittel- und Osteuropas so attraktiv machen: Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Es ist die Anziehungskraft der Herrschaft des Rechts,
der Gleichberechtigung gerade zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten, der Solidarität zwischen Reichen und weniger Reichen, die die Beitrittsländer in die EU streben
lässt. Werte und Institutionen, die in der Geschichte der EU zutiefst französisch
geprägt sind.
Die europäische Wertegemeinschaft, die Menschenrechte, wie sie uns heute selbstverständlich
sind, wurden entscheidend durch die französische Geistesgeschichte und Kultur bestimmt.
Gewiss, auch Großbritannien hat dazu in seiner Geschichte großartige Beiträge geleistet die parlamentarische Demokratie -, ebenso die amerikanische Revolution.
Die Grundrechtscharta, die die Staats- und Regierungschefs in Nizza feierlich proklamiert
haben, und die wir zum Wertefundament der EU machen wollen, reflektiert die Kraft dieser universalen Werte. Aus dieser Tradition heraus hat Frankreich auch in den
Zeiten der Globalisierung einen besonders wachen Sinn für die Bewahrung des kulturellen
europäischen Erbes, der diversité culturelle
. Und das ist für uns alle sehr wichtig.
Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch der Ansicht entgegentreten, dass allein
Deutschland wirtschaftlich von der Erweiterung profitiere. Ich finde es an der Zeit,
alte Klischees abzulegen und die ökonomischen Realitäten zu sehen. Die mit Deutschland
so eng verflochtene französische Volkswirtschaft war in den letzten Jahren deutlich
dynamischer als die deutsche wir müssen und wollen die Einheit bewältigen - und
auch der französische Franc war in den Jahren vor der Euro-Einführung deutlich stabiler
als die D-Mark. Als Neu-Berliner kann ich noch hinzufügen, dass mein Leitungswasser aus
einer französischen Quelle kommt vom größten Wasserversorgungsunternehmen der Welt.
II.
Was aber ändert sich für die Europäische Union mit der größten Erweiterung ihrer Geschichte?
Und was bedeutet das für Frankreich und Deutschland?
Die EU der 27 wird vor anderen Herausforderungen stehen als die Gemeinschaft der Römischen
Verträge, als die EG der 12, die EU der 15. Die europäische Integration hat sich
stets in einem balancierten Prozess von Erweiterung und Vertiefung entwickelt. Mit
der größten Erweiterung seit ihrer Gründung muss die Union ihre Institutionen, ihre
Entscheidungsmechanismen entsprechend anpassen, um handlungsfähig zu bleiben und
ihr Handeln demokratisch überzeugend legitimieren zu können. Neben der Erweiterung
verlangen zudem auch die Herausforderungen der Globalisierung mehr und nicht weniger Handlungsfähigkeit
von Europa.
Ich finde es bemerkenswert, wie sehr sich diese Debatte in den letzten Monaten weiterentwickelt
hat. Kaum jemand bestreitet heute die Notwendigkeit einer weiteren Vertiefung als
Konsequenz der Erweiterung. Die historische Bedeutung des Gipfels von Nizza liegt darin, dass es den praktischen Einstieg in die Erweiterung der EU und zugleich
in die Vertiefung der Union ermöglicht, also gerade die notwendige Parallelität von
Erweiterung und Vertiefung gewährleistet. Deshalb war Nizza ein großer Erfolg, für
den wir der französischen Präsidentschaft zu danken haben.
Die zweifellos vorhandenen Meinungsunterschiede aller Partner, die die französische
Präsidentschaft in schwierigen Verhandlungen zu einem Ergebnis zu bündeln hatte,
waren Ausdruck der Schwelle, vor der die europäische Integration steht: Wenn die
Erweiterung ein Mehr an Integration notwendig macht, um Europas Handlungsfähigkeit zu sichern,
dann dürfen wir nicht nur an Effizienz denken, sondern auch an die demokratische
Legitimation.
Dabei wird das Verhältnis von Union und Nationalstaaten eine der wichtigen Fragen
sein,
die in den kommenden Jahren zu regeln sind. Denn auch in Zukunft wird der Nationalstaat
mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen für die Menschen in Europa der
primäre
Träger ihrer Identität sein. Er ist der wichtigste Rahmen für Sprache, Kultur und
Tradition und wird auch in einer großen Union unersetzbar bleiben, um europäische
Entscheidungen überzeugend demokratisch zu legitimieren. Andererseits werden die
Mitgliedstaaten im 21. Jahrhundert auf eine handlungsfähige, demokratisch legitimierte Europäische
Union essentiell angewiesen sein.
Wie also soll das Europa von morgen aussehen?
Es geht um eine schlanke und handlungsfähige Union mit transparenten Kompetenzzuweisungen,
um die Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Europa, seinen Nationalstaaten
und den Regionen. Aber das ist nicht alles: Wie gelingt es uns, die europäische Demokratie so zu gestalten, dass sie das Europa der Bürger und das Europa der Nationalstaaten
gleichermaßen repräsentiert? Wie kann und soll eine handlungsfähige europäische Exekutive
aussehen? Wie wollen wir die Vertiefung erreichen - reicht der vereinbarte Ausbau der verstärkten Zusammenarbeit? Wie soll sich künftig das Verhältnis von intergouvernementaler
Zusammenarbeit und integrierten Strukturen gestalten? Und wie gestaltet dieses zusammenwachsende
Europa seine enge Partnerschaft mit den
Vereinigten Staaten, die für Europas Sicherheit auch künftig unverzichtbar sein wird?
Die Debatte über diese Fragen hat erst begonnen. Und sie bewegt sich auf keinem einfachen
Feld. Denn das klassische Staats- und Völkerrecht bietet für das, was in Europa entsteht,
kein Modell.
III.
Eine zweite Frage schließt sich an: kann dieses europäische Projekt gelingen? Kein
Mensch kann heute vorhersagen, wie Europa in 10 oder 15 Jahren aussehen wird. Und
doch lässt sich eines mit Gewissheit feststellen: Die Vollendung der europäischen
Integration, die ich mir als Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft wünsche und für
die sich die Bundesregierung einsetzt, kann und wird nur gelingen, wenn Frankreich
und Deutschland sie zu ihrer gemeinsamen Sache machen. Hierin liegt die alternativlose
Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses im 21. Jahrhundert, neben der Notwendigkeit
unserer guten und engen Nachbarschaft.
Für das geeinte Deutschland gilt eher noch mehr als vor 1989: je europäischer es seine
Interessen definiert, desto eher lassen sie sich verwirklichen. Je deutlicher sie
national formuliert werden, desto sicherer werden sie Misstrauen und Ablehnung hervorrufen. Je verlässlicher Deutschland in den gemeinsamen europäischen Institutionen agiert,
umso größer wird sein Handlungsspielraum gemeinsam mit seinen Partnern, vor allem
mit Frankreich. Die Deutschen können es sich nicht aussuchen, ob sie Europäer sein
wollen, sie müssen es sein, wenn sie ihrer Vernunft folgen, ihre Interessen abwägen und
die Lehren ihrer Geschichte ziehen. Das Gebot der Selbstbeschränkung ist mit dem
Mauerfall sowenig aufgehoben wie Deutschland mit der Einheit aus seiner Geschichte
herausgewachsen ist -es gilt auch für das geeinte Deutschland.
Das bedeutet aber auch: Ohne enge europäische und transatlantische Partnerschaft ruft
Deutschland allzu schnell Reserviertheit und Skepsis hervor. Dieser Partner kann
bei der Vollendung der europäischen Integration für uns nur Frankreich sein. Diese
Partnerschaft schloss die anderen Europäer immer ein und niemals aus. Aber unsere Geschichte
verbindet uns wie keine zwei anderen Länder in Europa in gemeinsamer Verantwortung
für die Zukunft. Wir haben sehr unterschiedliche Traditionen und kulturelle Prägungen, und diese Unterschiedlichkeit ist zweifellos ebenfalls eine der Konstanten, die die
Zeitenwende von 1989 überdauert haben. Aber die Stärken Frankreichs und Deutschlands
ergänzen sich auf eine besondere, immer wieder sehr produktive Weise. Nur gemeinsam
sind wir in der Lage, Europas Schwungrad auch in einer größeren Union zu sein und mit
unseren anderen Freunden und Nachbarn die Integration voranzubringen.
Dass das Band zwischen Frankreich und Deutschland auch im Internetzeitalter keineswegs
eine virtuelle oder durch andere Partner austauschbare, sondern eine im Wortsinne
historische Verbindung ist, weiß man kaum irgendwo in Deutschland besser als in Freiburg und entlang des Rheins. Über 50 Jahre Integration ist hier ein deutsch-französisches
Netzwerk entstanden, in das wohl die allermeisten von Ihnen verwoben sind. Zu diesem
Netzwerk gehört neben der Vernunft und den gemeinsamen Interessen auch eine emotionale Verbundenheit, dazu gehören viele persönliche Freundschaften und über Jahre gewachsenes
Vertrauen.
Auf diesem Vertrauen sollten wir auch jetzt aufbauen. In Frankreich findet gegenwärtig
eine intensive öffentliche Debatte statt über die Zukunft Europas. Ich halte es für
überaus wichtig, diese öffentliche Debatte so breit wie möglich auch miteinander
zu führen auf der Ebene der Regierungen, der Parlamente, der Parteien, der Intellektuellen,
der Bürger, der Medien. Dabei geht es nicht um schnelle oder vorgefertigte Ergebnisse.
Die werden sich aus der Diskussion ergeben. Es geht vielmehr darum, dass wir und dieses "wir" meint tatsächlich zuerst uns Deutsche selbst - zuhören und begreifen,
was für den anderen der Sprung in das neue, größere Europa konzeptionell und vor
allem emotional bedeutet. Dann werden wir gemeinsam zu Entscheidungen kommen, die
in unseren Parlamenten und unseren beiden Völkern Zustimmung finden.
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