Gruflwort durch den Vorsitzenden der SPD,
Bundeskanzler Gerhard Schröder


 

Liebe Genossinnen, liebe Genossen,
liebe Freundinnen, liebe Freunde,
verehrte Gäste,
meine Damen und Herren!

Willkommen in Berlin.
Willkommen in der Stadt der deutschen und der europäischen Vereinigung.

Ich freue mich, Euch alle, und Sie, verehrte Gäste, im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hier zum 5. Kongress der Sozialdemokratischen Partei Europas begrüßen zu können.

Wir kommen nicht das erste Mal hier zusammen. Schon im Februar 1990 hat Berlin einen Kongress der europäischen Sozialdemokratie ausgerichtet.

Das war in einem Moment der Hoffnung, der Spannung und der neuen Herausforderungen. Plötzlich hatten sich neue Dimensionen für Deutschland, für Europa aufgetan - und völlig neue Gestaltungs-Anforderungen an sozialdemokratische Politik in diesem Europa.

Inzwischen haben wir ein erstes Etappenziel erreicht: Die Perspektiven, die vor zehn Jahren erkennbar wurden, haben wir in konkrete Politik gefasst. In Nizza hat der Europäische Rat die Voraussetzungen für die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten geschaffen.

Die Teilung Europas wird damit endgültig überwunden, und ich bin stolz darauf zu sagen: Dies wäre nicht möglich geworden ohne den wesentlichen Beitrag der europäischen Sozialdemokratie.

Was vor zehn Jahren noch alternativ debattiert wurde - Vertiefung oder Erweiterung der Europäischen Union - wird heute gleichrangig von uns vorangetrieben. Was damals noch als die politische Quadratur des Kreises galt, ist heute möglich und machbar.

Für uns alle bedeutet dies allerdings auch eine größere Verpflichtung.

Liebe Freunde,

Europa hat bei manchen den Ruf, in erster Linie mit sich selbst beschäftigt zu sein. Zu sehr beschäftigt mit internen Fragen, zu komplex und zu kompliziert für die Bürgerinnen und Bürger.

Ich denke, dieses Urteil ist richtig und falsch zugleich.

Falsch, weil unsere Komplexität - und das ist ja eine Folge unserer Vielfalt - auch eine wesentliche Stärke ist, nach innen wie nach außen.

Richtig ist an diesem Vorurteil, dass Entscheidungen, Entscheidungswege und Zuständigkeiten für viele Bürgerinnen und Bürger in Europa oft nicht klar genug nachvollziehbar und verständlich sind.

Unser heutiges Europa ist nicht das Ergebnis oder das Abbild von Hegemonie oder Dominanz. Sondern es ruht fest auf der freiwilligen Zusammenarbeit unterschiedlicher Staaten und Gesellschaften.

Gerade weil wir in Europa, bei fortschreitender Integration, unsere nationalen und regionalen Eigenheiten und Unterschiede bewahrt haben, hat der Prozess der europäischen Einigung diese einzigartige historische Dimension bekommen.

Und gerade das macht Europa auch so attraktiv für unsere Partner in aller Welt.

Europa ist zu einem Modell geworden dafür, wie nach Jahrzehnten blutiger Feindschaften und mörderischer Kriege politische wie wirtschaftliche Fragen weder hegemonial noch national, sondern nur in gleichberechtigter Zusammenarbeit und zum besten aller gelöst werden können.

Weltweit wird "Europa" heute als Symbol für Frieden und Freiheit anerkannt. Für die erfolgreiche Verwirklichung von Demokratie, Menschenrechten, Pluralismus und Vielfalt. Als Beispiel für hohe Lebensqualität und solidarische Gesellschaft. Und für eine leistungsstarke Wirtschaft mit Produkten hoher Qualität.

Wir können stolz sein auf das, was wir bisher gemeinsam erreicht haben.

Das gilt übrigens auch für die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Diese Charta symbolisiert für mich vieles von dem, was die spezifische Qualität unserer europäischen Gesellschaften ausmacht: Eine große Vielfalt historisch gewachsener Kulturen und Traditionen, ein Höchstmaß an Freiheit für jede und jeden Einzelnen, und die Vorzüge von Teilhabe, solidarischem Zusammenhalt und sozialer Integration.

In Nizza ist es uns gelungen, die Voraussetzung für die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union zu schaffen.

Damit eröffnet sich für unsere und die kommenden Generationen die historische Chance, dieses vereinte Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens und wachsender Prosperität zu machen.

Allerdings werden wir dies nicht ohne klare Orientierung erreichen. Wir müssen Europa gezielt weiterentwickeln.

Europa hat weltweit an Gewicht gewonnen. Und nur gemeinsam, als europäische Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind wir in der Lage, das neue Jahrhundert nach unseren Vorstellungen zu gestalten.

Binnen zehn Jahren, so haben wir es uns auf dem Europäischen Rat in Lissabon vorgenommen, soll die Europäische Union der wettbewerbsfähigste und dynamischste Wirtschaftsraum der Welt sein. Das ist ein ehrgeiziges Ziel für Wachstum und Beschäftigung.

Die entscheidenden Faktoren, mit denen wir dieses Ziel erreichen werden, sind: die Kreativität und Qualifikationen der Menschen, die technologische Revolution, die Dynamik der Wirtschaft und der internationalen Finanzmärkte sowie der soziale Zusammenhalt, der gerade unsere europäischen Zivilgesellschaften kennzeichnet.

Um dies zu erreichen, bedarf es gewiss jeweils nationaler Anstrengungen. Aber das allein wird nicht reichen. Wir brauchen auch eine Stärkung unserer europäischen Institutionen und eine konsequente Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses.

Ich bin überzeugt: Europa wird seinen eigenen Weg finden.

Aber ich bin ebenso überzeugt: Europa wird dazu die europäische Sozialdemokratie brauchen. Denn wer, wenn nicht wir, könnte den Menschen in diesen Zeiten tiefgreifenden Wandels Sicherheit geben?

Nicht die Sicherheit, dass alles so bleibt, wie es ist. Aber die Sicherheit, dass wir ein soziales, demokratisches, gerechtes Europa weiterentwickeln. Ein Europa der Menschen und der Teilhabe.

Meine Damen und Herren,

ich habe in der vergangenen Woche dem Präsidium der SPD einen Vorschlag unterbreitet, der als Leitantrag auf dem SPD-Parteitag im November 2001 verabschiedet werden soll.

Das SPD-Präsidium hat diesen Vorschlag heute Vormittag einstimmig angenommen und damit die Debatte über Europa innerhalb der deutschen Sozialdemokratie neu eröffnet.

Worauf kommt es mir bei dieser notwendigen Debatte besonders an?

Wie in der Präambel des Leitantrages beschrieben, geht es um vier große Aufgaben, für die wir deutsche Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten noch stärker als bisher arbeiten müssen und arbeiten werden.

Erstens: Wir wollen und werden unseren Beitrag leisten, um im Zeitalter der Globalisierung die Kräfte in Europa zu bündeln, Aufgaben besser zu verteilen und international die europäischen Interessen besser zur Geltung zu bringen.

Zweitens: Wir wollen und werden unseren Beitrag leisten, um die unbestreitbaren Erfolge der Europäische Union zu sichern und weiterzuentwickeln.

Drittens: Wir wollen und werden unseren Beitrag leisten, um die Europäische Union, und das bedeutet nicht zuletzt die europäischen Institutionen, nachhaltig zu stärken.

Viertens: Wir wollen und werden unseren Beitrag leisten, um in Deutschland die Bürger, also die Köpfe und Herzen der Menschen für Europa zu gewinnen. Für diese Ziele wollen wir zusammen mit unseren europäischen Schwesterparteien eintreten.

Ich hoffe, dass diese Zukunftsdebatte in den kommenden Wochen und Monaten durch substantielle Beiträge aus möglichst vielen sozialdemokratischen Parteien Europas bereichert wird.

Nicht zufällig heißt es im letzten Satz dieses SPD-Leitantrages: "Nur eine starke europäische Sozialdemokratie hat wirklich die Kraft, ein Europa des Friedens, der Freiheit, des Wohlstands und der sozialen Gerechtigkeit zu schaffen und zu erhalten."

Ich bin da sehr zuversichtlich. Denn die bisherigen Ergebnisse sozialdemokratischer Regierungspolitik in vielen Ländern Europas zeigen, dass wir wirtschaftlich, finanziell und sozial auf gutem Kurs sind.

Die Erweiterung der Europäischen Union wird neue Wachstums- und Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen - und zwar in den Mitglieds- wie auch in den Beitrittsstaaten.

Wir wissen, dass eine Reihe der künftigen Mitglieder hier eine haushaltspolitische Gratwanderung vor sich haben. Das wird nicht einfach werden.

Aber lasst mich an dieser Stelle auch meine Hochachtung aussprechen für das, was in den Beitrittsländern von allen Beteiligten - den politisch Verantwortlichen wie den dort arbeitenden und lebenden Menschen - erreicht worden ist.

Für mich ist der historische Transformationsprozess in Mittel- und Osteuropa ein großartiges Beispiel dafür, wie Menschen entschlossen, mutig und kreativ neue Chancen ergreifen, wenn sie den Freiraum dafür sehen und Unterstützung spüren.

Meine Damen und Herren,

Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung hängen immer stärker ab von hoher fachlicher Kompetenz und Qualifikation.

Bildung und Ausbildung sind der Schlüssel für Wohlstand und für die Lebenschancen jedes einzelnen Menschen. Die Bildungspolitik wird gerade für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zum zentralen Politikfeld im 21. Jahrhundert.

Unsere gemeinsame Zukunft wird davon abhängen, was wir in unseren Ländern und in Europa in der Bildungspolitik wirklich zustande bringen.

Liebe Genossen, liebe Freunde,

Sozialdemokraten tragen heute in der Europäischen Union die politische Verantwortung für die zentralen Zukunftsprojekte, die ich beschrieben habe. Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam dieser Verantwortung gerecht werden.

Natürlich wünsche ich mir ganz besonders, dass nach den Wahlen der kommenden Wochen unsere Freunde in Italien und Großbritannien das Vertrauen der Wähler erhalten, um so weiter in Europa für Europa arbeiten zu können.

Dem 5. Kongress der Sozialdemokratischen Partei Europas in Berlin wünsche ich einen guten Verlauf.

Möge von diesem Kongress im Sinne Willy Brandts das Signal ausgehen, dass nun auch in Europa "zusammenwächst, was zusammengehört."

Herzlichen Dank.




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