Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Eröffnung des neuen Werkes der OPEL AG
am 5. Februar 2002 in Rüsselsheim:
Sehr geehrter Herr Forster,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
liebe Opel-Mitarbeiterinnen und Opel-Mitarbeiter,
meine Damen und Herren,
es ist jetzt zwei Jahre her, dass ich hier mithelfen durfte, den Grundstein zu legen.
Ich komme noch darauf zurück. Zunächst möchte ich aber sagen: Ich glaube, dass sich
Opel mit diesem Werk, aber auch mit dem neuen Vectra in der Spitze der weltweiten
Automobilbauer unübersehbar zurückgemeldet hat. Wenn ich ein geflügeltes Berliner Wort
benutzen darf: Das ist auch gut so.
Ich denke, wer das Produkt einmal gefahren hat - ich habe das vom Flughafen hierher
tun können -, wird sehr schnell feststellen, dass es ein Produkt ist, dem man nicht
nur Erfolg wünschen kann, sondern das ihn gewiss auch haben wird. Jeder weiß, dass
ich mich gelegentlich mit unterschiedlichen Typen und Marken von Autos beschäftige. Ich
glaube, es ist ganz in Ordnung, dass durch dieses deutsche Produkt der weltweite
Wettbewerb, aber auch der Wettbewerb auf dem deutschen Markt gewiss härter, aber
auch besser. wird
Der Vectra wird eine Rolle spielen. Das kann man spüren - natürlich erst richtig,
wenn man drin sitzt. Aber das kann man auch spüren, wenn man sich ein wenig mit den
Daten vertraut macht. Der Werksleiter hat mir das auf der kurzen Strecke erklärt.
2,2 Liter, 147 PS, das lässt sich hören. Man spürt das übrigens selbst bei einer Automatik,
auch wenn man sie nicht durchschaltet. Das geht fast wie in einem Rennwagen. Damit
will ich keine überzogenen Vergleiche ziehen, aber immerhin.
Ich finde, dass der Innenkomfort toll ist. Deswegen glaube ich, dass Sie mit diesem
Produkt Erfolg haben werden, auch weil es eine Art des Automobilbauens deutlich werden
lässt, bei der man durch weniger Gewicht auch auf weniger Verbrauch geachtet hat
- mit einer Konzeption, die nicht auf eine Form und ein Produkt setzt, sondern eine Mischung
versucht zwischen verbesserten, herkömmlichen Stählen und, wenn ich an die Haube
denke, Aluminium, das zwar schwieriger zu verarbeiten, aber dort gekonnt gemacht
ist.
Ich wünsche also nicht nur, sondern ich rechne damit, dass der Vectra manch einem
auch Dampf unter dem Kessel macht. Das kann dem gesamten Geschäft ja nur gut tun.
Es ist zu Recht - von Herrn Forster und anderen - viel über die Dimension des Werkes
geredet worden, und zwar die neue Dimension des Werkes. Ein wenig spiegelt sie in
wirklich guter Weise den neu entworfenen Slogan wider: Frisches Denken für bessere
Autos. Ich glaube, dass dieses neue Werk bereits ein Produkt frischen Denkens war, lange
bevor der Slogan von der neuen Agentur erfunden wurde. Aber immerhin: Er drückt aus,
dass hier Formen von Produktion praktiziert werden, die auf zwei Dinge setzen. Das
ist zunächst einmal höchste Technik, das ist klar und selbstverständlich. Aber Spitzentechnologie
in der Produktion allein garantiert noch nicht jenes Maß an
Produktivität, das man braucht, wenn man unter den Bedingungen Deutschlands weltweit
konkurrenzfähig sein will. Hinzu kommen muss eine Arbeitsorganisation, die beispielhaft
ist.
Übrigens ganz schön ist, dass hier von Anfang an Erfahrungen aus Eisenach in die Dimensionierung
des Werkes ebenso wie in die konkreten Produktionsabläufe eingeflossen sind. Warum
erwähne ich das? Ich erwähne das, damit deutlich wird, dass Technologietransfer längst nicht nur eine einseitige Angelegenheit von West nach Ost innerhalb Deutschlands
ist, sondern dieser Technologietransfer in diesem Fall einer ist - und auch mehr
und mehr sein kann - von Ost nach West, so dass auf diese Weise auch in diesen Fragen deutlich wird, dass zusammenwächst, was ja nun wirklich zusammengehört.
Ich denke, dass hiermit in der Tat das wohl weltweit modernste Produktionswerk entstanden
ist. Das ist ein Anlass zu Stolz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für die
Ingenieure, die das entworfen und geplant, und für die Konstrukteure, die es ins
Werk
gesetzt haben. Das ist die Basis für erfolgreichen Automobilbau - für einen Automobilbau,
der in Deutschland und aus Deutschland heraus zum Besten gehört, was es in der Welt
gibt. Man kann ruhig sagen: das Beste ist, was es gegenwärtig weltweit auf diesem
industriellen Sektor gibt.
Ich denke, wir alle miteinander haben eine Menge zu tun, damit das auch so bleibt.
Zu tun heißt für unsereinen: mithelfen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das auch
möglich machen. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende hat auf einen ganz wesentlichen
Punkt, der das Entstehen des Werkes, die Investition hier - 750 Millionen Euro -, überhaupt
erst ermöglicht hat, hingewiesen. Die Kostensituation war vor dem Standortsicherungsvertrag
nicht so, dass es ohne weiteres möglich gewesen wäre, diese Investition hier in Rüsselsheim und nicht irgendwo in der Welt auf der grünen Wiese zu tätigen. Der Standortsicherungsvertrag,
mit dem auch Beschäftigungssicherung - das ist der große Erfolg des Gesamtbetriebsrates
- verbunden ist, ist gleichsam ein Teil der Basis - ich komme auf den anderen Teil noch zu sprechen - der Investitionsentscheidung von Tochter
und im Hintergrund der Mutter für
dieses Werk hier in Rüsselsheim. Insofern kann man mit Fug und Recht sagen, dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie ihre Betriebsräte ganz entscheidende Voraussetzungen
dafür geschaffen haben, dass diese Investition möglich geworden ist. Hätten sie das nicht getan, wäre es möglicherweise anders gelaufen.
Dass dieses mit Debatten, mit Schwierigkeiten verbunden gewesen ist, kann ich sehr
wohl nachvollziehen. Dass es viele Kämpfe gekostet hat, haben nicht nur die Betroffenen
verfolgen können, sondern auch wir, soweit wir - das haben ja viele von uns - Interesse am Automobilbau haben. Es ist also eine großartige Leistung der Beschäftigten und
ihrer betrieblichen Vertreter.
An die zweite Basis will ich erinnern, weil es um Rahmenbedingungen geht. Anfang 1999
war der CEO und Präsident, Herr Wagner, gerade neu bei mir in Bonn ins Amt gekommen.
Wir haben über die steuerlichen Rahmenbedingungen geredet, die man in Deutschland
braucht, um Investitionen dieser Art zu ermöglichen. Ich habe ihn damals gefragt - wie
übrigens andere internationale Investoren in der damaligen Zeit
auch: Was ist denn nach Ihrer Meinung ein sinnvoller Körperschaftsteuersatz, um solche
Investitionen zu ermöglichen? Da hat er gesagt: 35. Ich habe gefragt: Mit oder ohne
Gewerbesteuer? Sie können sich vorstellen, dass er gesagt hat: einschließlich Gewerbesteuer. Wenn Sie genau hinsehen - ich kenne nicht die exakte Größenordnung in Rüsselsheim
-, ist exakt dieses Ziel erreicht worden. Ich sage das, weil wir über Rahmenbedingungen
reden.
Ein Unternehmensteuerrecht, das in dieser Größenordnung Unternehmen wettbewerbsfähige
Steuersätze ermöglicht, ist eine Bedingung für solche Investitionen, und - dafür
sind wir ja auch hier, sehr verehrter Herr Ministerpräsident - aus diesem Grunde
sollte man es sich sehr genau überlegen, bevor man dieses Unternehmen-steuerrecht kritisiert
und wieder zurückdrehen will. Das ist immer ein Problem, wenn man gerade so eine
großartige Investition miteinander zu feiern hat, und das tun wir aus guten Gründen
miteinander.
Ich glaube außerdem, dass es, was Rahmenbedingungen angeht, nicht ganz unwichtig war,
zu sagen, wir müssen aufpassen, dass durch europäische Einflüsse Automobilbau in
Deutschland nicht schwerer gemacht wird, als das sonst der Fall wäre. Mit europäischen
Einflüssen meine ich die Europäische Kommission, zum Beispiel mit der seinerzeit verfolgten
Idee, eine Altautoverordnung zu erlassen, die die deutschen Massenhersteller - Opel
gehört ja dazu - im Vergleich zur europäischen Konkurrenz - von der internationalen will ich erst gar nicht reden - in einem Maße benachteiligt hätte, das solche Investitionen
in Deutschland wirklich erschwert worden wären.
Wir haben damals, wie wir es gelegentlich tun müssen - Beispiele gibt es immer mal
wieder -, die Auseinandersetzung über diese Frage mit der Kommission aufgenommen.
Wir haben uns nicht in vollem Umfang durchsetzen können. Das ist gelegentlich so,
wenn auch keine einheitliche Position der europäischen Automobilindustrie zu Stande
kommt, weil hin und wieder die zwar verschlechterte, aber im Vergleich zur deutschen
Produktion immer noch bessere Wettbewerbsfähigkeit durch solche politischen Maßnahmen
als eine Art negativer Konkurrenzvorteil aufgefasst wird. Wir haben aber immerhin
nicht zuletzt für ausländische Töchter in Deutschland Belastungen abwenden können, die
es Konzernzentralen irgendwo anders schwer gemacht hätten, positive Entscheidungen
für die deutsche Tochter, die ein deutsches Unternehmen ist, zu treffen.
Wir haben erneut eine Sache vor uns, die bewältigt werden muss und die wir miteinander
bewältigen müssen. Das ist die Gruppenfreistellungsverordnung. Das klingt so dahergesagt.
Wer außer den Fachleuten kann sich unter Gruppenfreistellungsverordnung schon etwas vorstellen? Die meisten Fachleute sitzen hier, aber denen, die uns zuhören, die
es aufschreiben, die uns sehen und es senden, sei gesagt: Die Zerstörung der Gruppenfreistellungsverordnung
hat schon enorme Wettbewerbsnachteile für die deutsche Automobilindustrie, nicht zuletzt deswegen, weil es bei uns einerseits ein gewachsenes Verhältnis
zwischen guten Händlerorganisationen - die nach Auffassung der Automobilbauer immer
noch besser werden können; das gilt aber auch umgekehrt - und hochqualifizierten
Händlern, die auch hochqualifizierten Service bieten, und den Automobilbauern andererseits
gibt. Wer in dieses gewachsene System unter Wettbewerbsgesichtspunkten eingreift,
muss sich nicht nur klar machen, was er fördert, sondern auch, was er zerstört.
Deswegen denke ich, dass es zumal dem deutschen Automobilbau - da meine ich jetzt
alle Unternehmen und keineswegs nur Opel - und der deutschen Politik ein Anliegen
sein muss, dass hier Einseitigkeiten, die angedacht sind, soweit wir es wissen, vermieden
werden. Nicht zuletzt die Automobilbauer, zusammengeschlossen im VDA, und die deutsche
Politik werden sich zusammensetzen müssen, um eine Entscheidung zu treffen, die industriellen
Interessen folgt.
Gelegentlich haben wir den Tatbestand - das haben wir beim Chemie-Weißbuch oder in
anderen Bereichen gesehen -, dass in Brüssel zu wenig an industrielle Produktion
gedacht und geglaubt wird, man könne nur von Dienstleistungen leben. Das mag für
das eine oder andere nicht ganz so große und nicht mit einer ganz so breit gefächerten
Produktionsstruktur ausgerichtete Land auch möglich sein. Für Deutschland mit seiner
breit gefächerten und traditionellen Industriestruktur ist es das nicht. Angesichts
von
Massenarbeitslosigkeit, die wir bedauerlicherweise haben, können wir es uns nicht
leisten, durch Entscheidungen, die sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirken
und die wir selbst gar nicht beeinflussen können, noch in weitere Schwierigkeiten
zu geraten. Ich glaube, dass wir deswegen auf diesem Sektor miteinander eine ganze Menge
zu tun haben werden, was die Frage der Rahmenbedingungen angeht.
Was ist die Perspektive? Die ist in den hier gehaltenen Reden deutlich geworden: Rüsselsheim
ist einer der ganz wichtigen Standorte im deutschen Automobilbau. Durch die Entscheidung
über das neue Werk, die Veränderungen in der Produktionsstruktur und - auch das sei hier einmal gesagt - durch eine mit dem Standortsicherungsvertrag
zusammenhängende außerordentlich flexible Arbeitsorganisation - das zum Thema mangelnde
Flexibilität in Deutschland - ist es gelungen, diesen Standort im Interesse der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter auf Dauer zu sichern.
Ich kann nur sagen, dass mich das auch deshalb von ganzem Herzen freut, weil durch
die ausgehandelte Arbeitszeitsituation und die Kostenreduzierungen, die zwischen
Unternehmensleitung und Betriebsräten vereinbart werden konnten, die gelegentlich
auch aus Konkurrenzgründen gern gepflegte Legende, Deutschland sei unflexibel, an diesem Punkt
und an diesem Ort nun wirklich widerlegt worden ist. Das kann Schule machen und macht
ja, wie wir wissen, auch in anderen Bereichen Schule.
Hier wurde also eine Sicherung des Standortes geleistet. Das dient den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern ebenso wie dem Unternehmen. Es ist aber auch in einer boomenden
Dienstleistungsregion, wie sie das Rhein-Main-Gebiet nun einmal ist, ein Stück industrieller Tradition. Der Herr Ministerpräsident hat zu Recht und mit Stolz darauf hingewiesen:
Damit ist ein Maß an Wertschöpfung in diese Stadt und diese Region gekommen, die
ihresgleichen sucht. Ich würde sagen: Wenn man sich anschaut, was hier geleistet
worden ist, welche Perspektiven sich daraus entwickeln lassen, kann man sich nur wünschen,
dass es in Deutschland viele Orte wie diesen hier in Rüsselsheim gibt. Dies wünscht
man sich prosperierender Betriebe wegen. Dies wünsche ich mir und Ihnen aber vor
allen Dingen wegen der Sicherheit und der Arbeitsperspektiven der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter.
Besonders freue ich mich darüber, dass dieses Unternehmen in einer Situation, in der
man auch die eine oder andere Schwierigkeit zu überwinden hat - und das mit durchaus
ruhiger Hand tut, wie man sehen kann -, zwei Dinge nicht unterlässt. Das eine - Herr
Forster hat es gesagt - ist die Qualifizierung der hier Beschäftigten. Es hat keinen
Sinn, sich darüber zu verbreiten, dass wir im Rahmen der Internationalität unserer
Wirtschaft auch internationalen Austausch von arbeitenden Menschen brauchen. Das
brauchen wir, zumal in einem weltweit tätigen Konzern. Aber mehr noch brauchen wir die
Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Vermittlung neuer Fähigkeiten
und Kenntnisse, wenn alte Fähigkeiten und Kenntnisse durch Produktionsfortschritt
entwertet worden sind. Dass das Unternehmen in einer gewiss schwierigen Phase sagt,
wir bauen auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und tun etwas für deren Qualifizierung,
das zeichnet Sie aus. Ich will das ausdrücklich unterstreichen.
Noch eines kommt hinzu. Ich habe in den Unterlagen, die man mir zur Vorbereitung geschickt
hat, gelesen, dass Sie auch in der Lehrlingsausbildung nicht zurückstecken, dass
auch dort auf hohem Niveau ausgebildet wird und das nicht nur auf qualitativ, sondern auch auf quantitativ hohem Niveau. Das ist hilfreich. Dafür ist man Betriebsrat,
der sicher seinen Teil dazu beigetragen hat, wie das immer so ist - das weiß man
ja -, und Geschäftsleitung dankbar. Man ist dankbar, weil junge Leute eine Chance
bekommen, in dieser großartigen Branche zu arbeiten. Man ist aber auch deshalb dankbar, weil
damit ebenso klar und deutlich wird, dass Ausbildung und Qualifizierung Schlüsselfunktion
haben, wenn man Wirtschaft auf einem hohen Stand und einem wachsenden hohen Stand
halten will.
Das und einige Bemerkungen, die ich gemacht habe, verbinde ich mit meinen besten Wünschen
für das neue Werk und mit meinen besten Wünschen für den Erfolg des neuen Produktes,
denn beides hängt untrennbar miteinander zusammen. Ich weiß, dass das nicht so ganz passt in einem Automobilwerk, aber trotzdem: Glück auf für alle
Beschäftigten!
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