Autor/enN. N.
TitelDiskussionsprotokoll des 10. Allgemeinen Tages für deutsche Erziehung mit einem Vortrag von Berthold Otto
OrtWeimar
Datum1913.05.11
Anmerkungen[I.2.2.; Erkenntnistrieb] "Aber was bleibt uns da für eine Richtschnur übrig? Wie kann man überhaupt unterrichten, wie kann man lehren, wenn man nicht weiß, was man lehren soll? Ja, theoretisch wären diese Fragen schwer zu beantworten. Die Praxis gibt die Antwort ohne weiteres. In allen Kindern -...- herrscht ein ganz außerordentlich starker, mitunter sogar recht unbequemer Erkenntnistrieb." (S.10) .............................................................. "Wenn man nun den Erkenntnistrieb der Kinder frei walten läßt, dann kommt das Kind zu einem Grade von Erkenntnis, dem wir lehrplanmäßig ihm schwer, vielleicht überhaupt nicht verschaffen können." (S.10/11) .............................................................. "Der Erkenntnistrieb der Kinder ist also wirklich stark genug, um all das dem Kinde zu gewinnen, was ihm sonst lehrplanmäßig aufgenötigt wird." (S.11) .............................................................. "Das sollte uns dazu bringen, wenigstens einmal den ehrlichen Versuch zur Beobachtung zu machen, in wieweit ein Kind in seinem Erkenntnistrieb richtig geleitet wird." (S.11) .............................................................. "Es ist in der Tat so, daß man von den Kindern selbst lernen muß, was man zu lernen hat. Wenn die Kinder uns fragen, dann öffnet sich uns auch ein Blick in das Seelenleben der Kinder hinein, und aus dem, was die Kinder eine Woche, ein Jahr hindurch gefragt haben, gewinnen wir eine psychologische Erkenntnis von dem natürlichen Entwicklungsgange des Seelenlebens zunächst in diesem Kinde und dann, je mehr wir die Beobachtung ausdehnen, auch in anderen Kindern." (S.11/12) .............................................................. [I.2.3.] "... ich bin der Auffassung, daß das Seelenleben des ganzen Volkes eine organische Einheit ist und daß aus dieser organischen Einheit auch die größten Schriftsteller nicht allzu viel hervorragen, daß sie im Erkenntnistriebleben des ganzen Volkes wurzeln, an dem Erkenntnistriebleben, an dem jeder einzelne bis zum letzten im Volke hinab Anteil hat." (S.12) .............................................................. "Das Kind hat ein inneres Muß, durch seinen eignen Trieb wird es gezwungen, gerade das zu lernen, was innerhalb der Kultur seines Volkes notwendig oder von besonderer Wichtigkeit ist." (S.13) .............................................................. "Diese Notwendigkeit regelt das Erkenntnistriebleben des Kindes und damit in der Zukunftsschule den ganzen Schulbetrieb." (S.14) .............................................................. [Klasseneinteilung] "Als Urzelle der Zukunftsschule erscheint mir nach wie vor die Einklassige Dorfschule. Im kleinsten Kreise sind Schüler aller Lebensalter von 6 bis 14 Jahren vereinigt. Ich halte nach meinen Erfahrungen diese Unterrichtsweise für die geistige Entwicklung und grade für die Entwicklung zum Gesamtgeiste für günstiger als irgend eine Klasseneinteilung." (S.15) .............................................................. "Wir wollen die Menschen dazu erziehen, daß sie im Stande sind, ihre Pflicht unter allen Umständen zu tun, und daß sie auch willens dazu sind." (S. 16) .............................................................. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie physikalische Kenntnisse, mathematische Kenntnisse, sprachliche Kenntnisse bloß auf Wünsche einzelner Schüler hin übermittelt werden sollen, bloß nach dem, was die einzelne Stunde an Gelegenheit gibt." (S.26) .............................................................. "Ich habe gesagt: jedes Wesen, auch der Mensch, wird von seinem Erkenntnistrieb geleitet, und zwar richtig geleitet, sodaß sich aus der natürlichen Weiterentwicklung des Geistes auf Grund des Erkenntnistriebes schließlich die Kulturhöhe ergibt, die der Mensch innerhalb seines Volkes haben muß, und daß sich daraus auch die ganze Kulturhöhe des Volkes ergibt." (S.27) .............................................................. "Aber auch wenn man ein Protokoll einer Gesamtunterrichtsstunde verliest, ergibt das doch kein deutliches Bild. Es wird so gemacht, daß die Schüler sich der Reihe nach bei mir melden, entweder vor oder nach der Stunde. Ich gebe jedem die Nummer. Es geht streng nach der Reihenfolge der Meldungen, und jeder hat das Recht, vorzubringen, was er will. Mag es sich um ein häusliches Erlebnis handeln oder mag es sich um die tiefsten Fragen der Philosphie oder sonst etwas handeln, es wird alles behandelt, und zwar solange, wie es das Interesse der Korona findet." (S.30) .............................................................. "Welches Ziel hat die Zukunftsschule? Denn wenn Sie auch sagen, daß es kein Lehrziel gibt, irgendetwas muß die Schule schließlich wollen und auch erreichen. Was soll diese Zukunftsschule schließlich ihren Schülern und Schülerinnen mitgeben und wofür macht sie ihre Schüler und Schülerinnen fähig, wenn auch keine Berechtigung im alten Sinne an die Schule geknüpft ist? ... Sie soll die Schüler zu Mitarbeitern oder Mitträgern der ganzen geistigen Kultur erziehen." (S.32) .............................................................. "Ich glaube, ... gerade daß sie mit ihrer Erkenntnis das leisten, wofür sie besonders befähigt sind, daß also die gesamte Kultur des Volkes sich automatisch durch das Zusammenwirken der Erkenntnistriebe aller einzelnen Schüler herstellen wird, daß der Lehrer nur die Aufgabe hat, das zu beobachten und wissenschaftlich festzustellen." (S.32) .............................................................. "... die Kenntnisse werden vielleicht im Vergleich zu denen, die die Schule jetzt gibt, in vieler Hinsicht größer sein, weil das Lernen auf Grund des eigenen starken Erkenntnistriebes fruchtbarer ist, als das aufgezwungene Lernen." (S.32) .............................................................. "Es wird prinzipiell gar nichts ausgeschaltet. Jedes Thema wird im Gesamtunterricht behandelt, falls nicht die Schülerschaft selbst entschieden dagegen ist." (S.33) .............................................................. "Dagegen haben wir schon die schwierigsten philosphischen Themata auch schon mit den Kleinsten zusammen behandelt; denn man muß nicht denken, daß 5 oder 6jährige Kinder unphilosophisch wären. Im Gegenteil, die kleinen Kinder in den ersten Lebensjahren sind viel philosophischer als die Mehrzahl der Jungen und Mädchen im Alter von 14 und 16 Jahren und unendlich viel mehr als Erwachsene." (S.34) .............................................................. "... zu dieser pädagogischen Psychologie wird dann ganz hervorragend das gehören, was ich auf eine andere Frage antwortete: man wird dann auch zum Gegenstand dieses Studiums machen, was der Erkenntnistrieb der Kinder in verschiedenen Lebensaltern und in verschiedenen Langschaften unseres Reichs tatsächlich aufzeigt. Man wird die Sache ebenso wissenschaftlich behandeln, wie man irgendwelche naturwissenschaftliche Erscheinungen wissenschaftlich behandelt. Das ist Füllung für ein vollständiges Studium, und das, meine ich, wird das Studium des eigentlichen Lehrers in Zukunft sein." (S.42) .............................................................. "Die Tatsache ist, daß meine Schüler überhaupt kein Aufgaben aufbekommen sondern sie machen freiwillig Arbeiten. Sie wollen selber einen Aufsatz schreiben, und dann werden die Aufsätze eingeliefert." (S.45) .............................................................. "Unsere Erfahrungen sprechen also dafür, daß die freiwilligen Arbeiten, die die Schüler machen, zur geistigen Ausbildung durchaus ausreichen." (S.46) .............................................................. "Auf unserer Schule wird überhaupt nicht gemogelt. Nicht deswegen, weil wir lauter ideale Menschen als Schüler haben, sondern weil gar keine Gelegenheit dazu da ist. Das halte ich auch für einen ganz wesentlichen Vorteil." (S.46) .............................................................. "Die Grundlage der Auseinandersetzung des psychologischen Lehrverfahrens war doch die, daß er sagte: das Kind wird von seinen Instinkten richtig geleitet. Ich weiß nicht, ob man diesen Satz in dieser Allgemeinheit wird gelten lassen können. Instinkte leiten vielleicht das Tier richtig, im allgemeinen richtig, aber ob die Instinkte ausreichen, in unserem komplizierten Kulturleben, welches sich zu Teil gerade in einem gewissen Gegensatz zur Natur entwickelt hat, den Menschen richtig zu leiten, das weiß ich nicht, das will mir sehr zweifelhaft erscheinen." (S.47) .............................................................. [II.1.] "Wenn jetzt gesagt wird: die Schule soll nicht nur unterrichten, sondern auch erziehen, so ist das ganz hübsch, aber zum Teil will doch auch das Haus auf die Schule eine Arbeit abwälzen, die es selbst nicht mehr leisten kann oder nicht mehr zu leisten Lust hat." (S.53) .............................................................. "Das sind also alles Sachen, die sich für mich ohne weiteres von selbst verstehen, daß die Eltern in der Erziehung und auch in der geitigen Ausbildung der Kinder eigentlich die Hauptsache zu tun haben; denn wir mögen uns in der Schule anstrengen wie wir wollen: Was in den ersten 6 Jahren des Lebens geleistet oder versäumt wird, das können wir niemals ersetzen oder wieder gut machen." (S.54/55) .............................................................. "Wenn die Kinder, wie in der Berthold-Otto-Schule nur das treiben, was sie interessiert, so bildet sich bei ihnen ein festes Zentrum des Interesses, und wo ein starkes Zentrum des Interesses vorhanden ist, da kristallisiert alles andere herum, und da wächst es organisch herum. Dadurch wird am allerbesten die Zersplitterung verhütet." (S.55) .............................................................. "Herr Otto hat in seinem Schulorganismus ein einheitliches Ganzes. Sein Geist ist auf seine Mitarbeiter ausgestrahlt, und ich behaupte auch, sein Geist strahlt aus auf seine Schüler. Die Suggestion, die er ausübt als tüchtiger und außerordentlicher Lehrer und Erzieher, ist ein Zwang, der zum Beispiel gar nicht zum Ausdruck zu bringen ist, der aber vorhanden ist." (S.58)
ArchivB.-O.-S./II/B/H/II/5
SignaturB.-O.-S./II/B/H/II/5 [16]
SchlagworteDisziplin
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Erkenntnistrieb
Gesamtunterricht
Lehrplan
Menschheit
Otto, Berthold
Pflichtgefühl
Psychologie
Selbstverwaltung
Sprache
Unterricht
Vortrag
Weltgeschichte
Zukunftsschule
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