Autor/enOtto, Berthold
TitelDenkschrift über Entstehung, Zweck und Entwicklungsmöglichkeit der Berthold-Otto-Schule
OrtBerlin-Lichterfelde
Datum1922.01
Anmerkungen[I.3.2.] "Das paradoxe Ergebnis ist, ... daß die formale Bildung einfach darin besteht, daß man die Kategorien, in denen das Denken sich bei jedem Menschen unbewußt bewegt, bewußt macht." (S.1) ..................................................... "Sind meine Beobachtungen und Schlüsse richtig ... , so läßt sich, sobald die Lehrer soweit vorbereitet sind, formale Bildung, also die höchst bisher erstrebte Art der Geistesbildung, auf jeder Dorfschule herstellen, der Unterschied zwischen Ungebildeten und Gebildeten verschwindet; das deutsche Volk wird wirklich das Volk der Denker." (S.2) ..................................................... [I.2.2.] "..., daraus ergab sich der seitdem von mir vertretene Grundsatz, daß man die Kindergeister am sichersten, schnellsten und besten bildet, wenn man sie frei wachsen läßt." (S.3) ..................................................... [Altersmundart] "Ich bemerkte, daß das am schnellsten ging, wenn [ich] nur Wörter und Satzformen brauchte, die ich von den Kindern selbst gehört hatte; d.h. ich tat das zunächst unbewußt und wurde erst hinterher darauf aufmerksam. Dabei fiel mir der Unterschied nicht nur des Wortschatzes, sondern auch der Satzformen in den verschiedenen Lebensaltern auf, d.h. ich bemerkte, daß ich dieselbe Frage dem jüngeren Kinde anders beantworte, als ich sie vielleicht kurz vorher dem älteren beantwortet hatte. Und dadurch entdeckte ich, daß man, wenn man über die Sache Bescheid weiß, jedem Kinde jede Frage darüber beantworten kann; oder umgekehrt daß man, wenn man dem Kinde nicht antworten kann, über die Sache noch nicht genug Bescheid weiß." (S.4/5) ..................................................... [II.8.] "So entstand der 'Hauslehrer', durch den ich möglichst viele Menschen zu Lehrern und Erziehern in meinem Sinne machen wollte, d.h. solchen, die die Kindergeister möglichst frei wachsen lassen und ihnen nur die Hilfe geben, die sie selber verlangen, diese aber dann auch in brauchbarer Weise." (S.5) ..................................................... [II.7.] "Getrieben wurde alles, was die Schüler wünschten und die Lehrer irgend leisten konnten, von fremden Sprachen regelmäßig englisch, französisch, lateinisch, griechisch; eine zeitlang mußte ich sogar meine hebräischen Kenntnisse wieder auffrischen." (S.6) ..................................................... [I.2.2. Erkenntnisfreude] "Nun ist doch aber die Erkenntnisfreude das, worauf es mir vor allem ankommt. Daß sie bei jedem Kinde vor dem schulpflichtigen Alter im Übermaß vorhanden ist, darf als allgemein zugestanden gelten. Jedes 'frag nicht so viel' ist ein solches Zugeständnis. Meine Beobachtungen haben mich nun zu der Überzeugung gebracht, daß die Erkenntnisfreude bis zur Geschlechtsreife die hervorragendste Eigenschaft jedes Kindes ist und daß sie auch nach diesem Abschnitt lange Zeit eine erhebliche Stärke beibehält. Ich bin ferner zu der Überzeugung gekommen, daß diese Erkenntnisfreude in ähnlicher Weise wirkt, wie jeder angeborene Trieb, d.h. [daß] jedes Wesen, dem er angeboren ist, in einer Weise leitet, die der überlegenden Leitung überlegen ist." (S.10) ..................................................... [I.2.2.; I.2.3.; Erkenntnistrieb] Sollte es nicht auch so sein, daß das in ein Kulturleben hineingeborene Kind vermöge seines Erkenntnistriebes sich das heraus sucht, was gerade ihm zur geistigen Nahrung am meisten geeignet ist? Das ist natürlich für verschiedene Kinder verschieden, aber die Menschheit bedarf doch gerade verschiedener Begabungen zu verschiedenen Verrichtungen! Würde also nicht das Unterrichtswesen am besten eingerichtet sein, wenn wir jedem Kinde grade die geistige Nahrung bieten, die grade dieses Kind verlangt?" (S.10/11) ..................................................... [I.2.2.; Altersstufen] "Die bisherigen Ergebnisse haben gezeigt, daß die Kinder im großen Ganzen dasselbe berlangen, was in den öffentlichen Schulen gelehrt wird, aber nicht alles und vor allen Dingen nicht nur in den Zusammenstellungen, in denen die Wissenschaften in den verschiedenen Schularten dargeboten werden. Besonders aber hat sich auch gezeigt, daß die geistige Entwicklung den verschiedenen Fächern gegenüber individuell sehr stark verschieden ist, daß z.B. der Wunsch nach Mathematik und damit die Fähigkeit, wirklich selbsttätig mathematische Vorstellungen auszubilden, bei einigen Kindern sehr früh, bei anderen erheblich später erscheint. Ja, es hat sich auch gezeigt, daß das Interesse, also auch die Begabung für verschiedene Sprachen mitunter bei demselben Kinde in verschiedenen Altersstufen recht verschieden auftritt; manches sehnt sich früh nach einer modernen, später erst nach einer antiken Sprache; bei anderen ist das wieder umgekehrt. Recht häufig ist auch die Erscheinung, daß ein anfangs sehr starkes Interesse vollständig zu erlahmen scheint, um sich nach einer Pause, die manchmal Jahre dauert, wieder in unverminderter Stärke zu zeigen. Ganz besonders aber zeigt sich, daß der kindliche Erkenntnistrieb 'über das Schulpensum nach allen Seiten hinausgeht." (S.11/12) ..................................................... [Toleranz; nicht-affirmative Erziehung] "Zusammenfassend kann gesagt werden, daß der Erkenntnistrieb des Kindes sich auf alles richtet, was ihm überhaupt im Kulturleben als dafür irgendwie bestimmend vor die Augen kommt, und daß er darauf aus ist, es in seinen Zusammenhängen, und zwar so tief wie möglich, zu ergassen, so daß wir von vielen Seiten her immer wieder auf die letzten Probleme der Erkenntnis zu sprechen kommen. Aber bei diesem allen habe ich immer Wert darauf gelegt, den Schülern nirgends fertige Erkenntnisse als unerschütterlich feststehend zu übermitteln oder gar aufzuzwingen; und wo ein Schüler zu einer von der meinen stark abweichenden Überzeugung gelangt war, da habe ich mit ihm immer nur wie mit einem gleich berechtigten Geist geredet; und wo starke Verschiedenheiten der Überzeugung unter den Schülern waren, da habe ich nur auf die Formen der Besprechung eingewirkt und es immer dahin gebracht, daß jeder eine auch gänzlich von seinen verschiedene Überzeugung achten lernte. So haben sich unter meinen Schülern Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten gründlich und schließlich - wenn es auch oft heiß herging - friedlich ausgesprochen, ebenso im Religionsunterricht strenggläubige und ungläubige Christen und Juden wie auch Freidenker und Atheisten." (S.12/13) ..................................................... [Lehrer] "Man muß als Lehrer nur selbst vor jedem Menschentum, besonders aber auch vor der Kindheit, nicht nur Achtung, sondern auch Ehrfurcht haben und zeigen, und man zeigt sie dadurch, daß man von jeder Überzeugung, mag sie der eigenen auch noch so sehr widersprechen, mit Anerkennung spricht und dem, der sie selbst im Augenblick nicht geschickt genug verteidigt, dabei zu Hilfe kommt. Bei den Anwesenden nicht vertretene überzeugungen muß man als Lehrer, wenn sie scharf angegriffen werden, selbst verteidigen." (S.13)
ArchivB.-O.-S./II/B/H/IV/1
SignaturB.-O.-S./II/B/H/IV/14 [1]
SchlagworteAlter
Altersmundart
Berlin
Berthold-Otto-Schule
Bildung
Eltern
Elternschaft
Erkenntnisfreude
Erkenntnistrieb
Erziehung
Erziehung, nicht-affirmative
Gesamtunterricht
Lehre
Lehrer
Pädagogik
Schule
Schule, öffentliche
Schüler
Schülergericht
Schulreform
Toleranz
Wissenschaft
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