Autor/enOtto, Berthold
TitelMein Werdegang
OrtBerlin-Lichterfelde
Datum1926.11.15
Anmerkungen"Damals habe ich also zuerst die Beobachtung gemacht, die grundlegend für meine Auffassung der Seelenkunde ist, nämlich daß es verschiedene Grade der Bewußtheit gibt und daß neben der stärkst erregten Vorstellungsreihe, ... eine zweite Vorstellungsreihe selbst so verwickelte Geistes- und Körpertätigkeiten ... vollkommen sicher leiten kann. Dem gegenüber hält die gebräuchliche Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein nicht Stand." (S.8) ..................................................... "Mit den Mitschülern gab es kaum Verkehr, wir Offizierssöhne wurden als 'Preußen' scheel angesehn und waren im Verkehr aufeinander angewiesen." (S.11) ..................................................... "Wie stark Schopenhauer auf mein Denken gewirkt hat, weiß jeder, der meine Schriften kennt, mancher wird mein volksorganisches Denken als Kombination von Schopenhauer und Steinthal bezeichnen." (S.27) ..................................................... "Ich schätzte besonders Schopenhauers scharfe psychologische Beobachtung; und dann erinnere ich mich mehrfach geäußert zu haben, es sei im höchsten Maße bewundernswert, daß dieser trotz aller Verkennung jahrzehntelang als Einsamer doch nie an sich selber gezweifelt, nie sein Denken gewandelt habe. Als mir später Ähnliches geschah, sah ich auf einmal, daß dabei gar kein Heroismus ist; man kann einfach nicht anders." (S.27) ..................................................... "Ich kann in der Pädagogik bei mir keinen bestimmten Augenblick eines plötzlichen Auftauchens neuer Erkenntnis nachweisen; das kam ganz unmerkbar; ..." (S.27/28) ..................................................... "Die platonischen Dialoge habe ich ebenfalls in dieser Zeit fast sämtlich gelesen, die Politeia aber auf das Gründlichste durchgearbeitet, ..." (S. 29) ..................................................... "1887- 'Beiträge zur Wissenschaftlichen Herstellung des natürlichen Unterrichts'; Aufsätze über naive und wissenschaftliche Psychologie; 'Wohngemeinde als endgültige Lösung der großstädtischen Wohnungsfrage'; 1893 - 'Die sozialdemokratische Gesellschaft, was sie kann und was sie nicht kann'; 1894 - 'Umsturz'; 1897 - 'Schulreform im zwanzigsten Jahrhundert' Wochenschrift 'Die deutsche Schulreform'; 'Lateinbriefe'; 'Lehrgang der Zukunftsschule'; Lesestück vom Fürsten Bismarck'; 'Agrarier, Arbeiter, Armee'; 'Recht auf Arbeit'; 'Fürst Bismarcks Lebenswerk'; 'Hauslehrer'; 1910 - 'Buch von der Helga'; 1910 - 'Buch: Der Zukunftsstaat als sozialistische Monarchie'" (S.33-49) ..................................................... "Jeder meiner Leser hat gelernt, Brüche zu multiplizieren und zu dividieren und weiß genau zu sagen, wie er es macht. Aber auch warum er es so macht? Und so, daß er's einem, der's nicht weiß, wirklich klarmachen kann? Nun gut, jeder der das nicht kann, hat auf diesem Gebiet keine Bildung, sondern eine Scheinbildung, sein 'Begriff' von der Bruchrechnung ist ein Scheinbegriff, er selber auf diesem Gebiet kein denkendes Wesen, sondern eine Rechenmaschine. Solcher Scheinbegriffe fand ich nun auf allen Wissensgebieten, um die ich mich kümmerte, unzählige; deswegen formulierte ich gelegentlich: Gebildet ist, wer alles versteht was er spricht!" (S.42) ..................................................... "Meiner Überzeugung nach wird jedes Kind mit ganz bestimmten Kulturtrieben geboren; ich bin überzeugt, daß selbst ein hochbegabtes Kind des zwölften Jahrhunderts, wo das Schreiben noch nicht allgemein war, bei seiner Erlernung größere Schwierigkeiten hatte als jetzt das schlichteste Tagelöhnerkind vom Dorfe, wie ich denn auch täglich beobachte, daß jetzt jedes einfache Kind technische Dinge mit einer Schnelligkeit und Sicherheit erfaßt, die ich in meiner Jugend nicht hätte leisten können." (S.43) ..................................................... "Nicht im Auswendiglernen ..., sondern in der Fähigkeit selber geschickt und sicher zu beobachten und das Beobachtete so deutlich sprachlich wiederzugeben, daß jeder es versteht, besteht die Bildung; Kultur aber kann man überhaupt nur ererben und erleben, aber weder unterrichten noch erlernen." (S.43) ..................................................... "Der 'Hauslehrer' entschied endgültig über mein Schicksal; er begann mit dem neuen Jahrhundert zu erscheinen, ..." (S.43) ..................................................... "Der Unterricht, den ich meinen Kindern erteilte, wurde der Anfang meiner Schule, die eigentlich ohne mein Zutun entstand." (S.44) ..................................................... "..., daß ich am 23. April 1906 in Lichterfelde Holbeinstr. 25 mit 17 Schülern die erste Gesamtunterrichtsstunde geben konnte." (S.44) ..................................................... "Dieser Gesamtunterricht, der gar nicht darauf ausgeht, Kenntnisse herzustellen, sondern nur durch Austausch von Beobachtungen die Freude am Beobachten und Denken stärken und so die dem Kinde eingeborenen Wissens- und Kulturtriebe sich betätigen lassen will, ist, wie meine Lebensgeschichte zeigt, eigentlich nichts weiter als der natürliche geistige Verkehr der Erwachsenen mit den Kindern. Ich hoffe, daß durch ihn später, wenn er allgemein geworden ist, jeder Erwachsene, der ihn in seiner Jugend genossen hat, sich ohne weiteres verpflichtet fühlen wird, auf jede erkenntnishungrige Frage jedes Kindes, das sich zufällig an ihn wendet, bereitwillig und nach besten Kräften Auskunft zu geben. Erst dann, wenn das erreicht ist, leistet der Gesamtunterricht das, was ich mit ihm erstrebe." (S.45) ..................................................... "... große Aufmerksamkeit bei scheinbarer Unaufmerksamkeit und die große Selbstdisziplin bei scheinbarer Disziplinlosigkeit!" (S.46) ..................................................... "..., Erziehung durch gesunde Selbsterziehung zu fördern." (S.46) ..................................................... "Ich selbst beobachte an den Hospitanten immer von Neuem die Ergebnisse des bisherigen Unterrichts, in dem ja die Schüler recht vielerlei lernen, aber dabei, ... oft dreierlei verlernen, nämlich sehen, hören und denken, weil diese drei natürlichen Eigenschaften in der Schule praktischer durch geschickte Anwendung auswendig gelernter Sätze ersetzt werden. Denn durch diese ist man sicher nie etwas 'Falsches' zu sagen, was man beim eigenen Sehen, Hören und Denken doch öfter riskiert,..." (S.49) ..................................................... "Aber ihre volksorganische Aufgabe, Erkenntnisorgan des Volkes zu sein, wird jede Schule erst dann erfüllen, wenn sie als ihre Hauptaufgabe ansieht, darauf zu achten, daß sehen, hören und denken nicht verlernt wird. Dann sorgt der ererbte Erkenntnistrieb der Kinder ganz von selbst für die Weiterentwicklung des Volksdenkens, und das gesamte ererbte Triebleben, soweit es die wirtschaftlichen Verhältnisse zulassen, für Erhaltung und Erhöhung der Kultur, die aber dann ganz und gar Eigentum des Volkes und nicht mehr Fremdtum sein wird." (S.49) ..................................................... "Der meiner Überzeugung nach wichtigst Grundsatz wissenschaftlicher Seelenkunde, daß nämlich jeder seelische Vorgang erst dann als richtig beobachtet gilt, wenn man ihn als äußeren Vorgang sowohl bei den anderen wie bei sich selbst beobachtet und dann bei sich selbst der sorgfältigsten Selbstbeobachtung unterzogen hat, bringt die Seelenkunde aus dem vorwissenschaftlichen Zustand, in dem man sich - wie anfangs auch in den Naturwissenschaften - nur mit den auffälligsten Erscheinungen befaßt, zu dem wissenschaftlichen, dem gerade das Alltäglichste auch das Wichtigste ist, weil nur in ihm die Gesetze sich vollkommen sicher erkennen lassen." (S.50) ..................................................... "Die Haupterkenntnis, daß das Volk ein ebenso wirkliches Lebewesen ist, wie der Einzelne, daß jeder Berufsstand, jedes Dorf, jede Familie auch ein solches Lebewesen ist, wie auch Herz, Lunge, Leber, Magen, Nieren und - dem Einzelnen im Volke entsprechend - jede Zelle; diese Haupterkenntnis bleibt dem Humanismus, wie ich ihn oben schilderte, gänzlich unzugänglich; er sieht, wie Lazarus sagt, den Wald vor lauter Bäumen nicht. ... Hauptwerk ... 'Volkorganisches Denken'. Dieses Buch gibt von endgültiger Erkenntnis - wie alle wahre Wissenschaft - herzlich wenig, zeigt aber genau den Weg, wie jeder sich selbst wirkliche seelenkundliche Erkenntnis schaffen kann." (S.50) ..................................................... "Meine Unterrichtsart hat den bewußten Nebenzweck, alle Suggestion, soweit das überhaupt menschenmöglich ist, auszuschalten." (S.50) ..................................................... "Aber erst wenn man allgemein wissen wird, was Volksorgane sind, erst dann wird man über Familien, Berufsstände, Dorf und Stadtgemeinden, erbliche Monarchie, gewähltes Parlament und - Parteien wissenschaftliche Erkenntnis haben. Und erst dann wird man wissen was es heißt: Die Schule ist das Erkenntnisorgan des Volkes." (S.51)
ArchivB.-O.-S./II/B/H/IV/1
SignaturB.-O.-S./II/B/H/IV/19 [53]
SchlagworteAlter
Altersmundart
Dorfschule
Fachunterricht
Gesamtunterricht
Hauslehrer
Kind
Lehrgang
Otto, Berthold
Schopenhauer, Arthur
Sprache
Volk
Volksorganisch
Volksorganisches Denken
Werdegang
Zukunftsschule
Abteilungen2