Autor/en | Otto, Berthold |
Titel | Denkschrift zur Schulreform. Manuskript |
Ort | Berlin-Lichterfelde |
Datum | 1927.10 |
Anmerkungen | [IV.4.] "Ich habe vom ersten Augenblick an, wo ich öffentlich für Schulreform eintrat, was durch den Vortrag 1897 geschah, betont, daß das Wichtigste in der Schulreform gar nicht von obenher befohlen werden könne, sondern aus der innersten Überzeugung der Lehrerbereitschaft heraus kommen müsse." (S.1) ..................................................... "Deshalb war mein ganzes Bestreben darauf gerichtet, die Lehrerschaft und die Erzieherschaft, zu der in erster Linie die Eltern gehören, aber auch Lehrmeister und Vorgesetzte mancherlei Art, zu solchen Erkenntnissen und Überzeugungen in Erziehungsangelegenheiten zu bringen, die wirklich auf ernster wissenschaftlicher Erkundung des Seelenlebens sowohl der Kinder wie der Erwachsenen beruht." (S.1) ..................................................... "Entscheidend und grundlegend ist die Erkenntnis, daß Kultur, Gesittung und Geistesentwicklung nicht auf Schrifttum irgendwelcher Art beruhen kann, sondern ausschließlich auf dem lebendiger Seelenleben der Menschen, so daß, solange ein Volk im Aufstieg ist, jede folgende Generation schon mit der Befähigung zu einer um etwas höheren Stufe geboren wird als die vorhergehende. Das Schrifttum der Elterngeneration stellt dann für sie nicht die Kulturstufe dar, zu der sie erzogen werden mußte, sondern die, über die sie um ein Weniges hinauszugehn schon durch die Geburt berufen ist." (S.1/2) ..................................................... "Es ist gelegentlich von einem hervorragenden Schulmann gesagt worden, eigene Gedanken dürfe der Mensch sich erst erlauben, wenn er fünfzig Jahre alt sei. Dem gegenüber ergibt sorgfältige seelische Erkundung, daß eigenes Denken des Menschen schon im ersten Lebensjahre beginnt und daß das Kind die ihm äußerlich zugebrachten Gedanken als gesundheitsschädliche Fremdkörper aufnimmt, wenn es nicht schon vorher durch seine eigene Gedankenentwicklung dahin gelangt war, diese selben Gedanken selbsttätig schaffen zu können." (S.2) ..................................................... "Und damit war denn der richtige Begriff der formalen Bildung gegeben: es handelt sich einfach darum, die Richtigkeit des Denkens dadurch zu sichern, daß man seine Grundformen nicht nur, wie wir es tiebhaft tun, unbewußt anwendet, sondern sich zum Bewußtsein bringt!" (S.4) ..................................................... "Mir wurde zu meiner Überraschung klar, daß diese Erkenntnis von grundlegender Bedeutung für jede Schulreform sein mußte. Wenn die formale Bildung nur an der Muttersprache erworben werden konnte, eine Fremdsprache dabei eher störend war, so ließ sich eben die formale Bildung in jeder Dorfschule herstellen. Der Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten mußte verschwinden, wenn alle in gleicher Weise die Grundbegriffe des Denkens sich bewußt machen konnten. Es handelt sich doch wohl um die größte Umwandlung des Schulwesens, die die Welt je gesehen hat." (S.5) ..................................................... "Das gemeinsame Aufsuchen der Grundbegriffe des Denkens muß schon sehr ungeschickt angefangen werden, wenn es dem Schüler keine Freude machen soll. Daran aber zeigt sich, daß dieser Unterricht dem natürlichen Wachstumstrieb des menschlichen Geistes ebenso gemäß ist, wie die Paradigmenpaukerei ihm zuwider ist. Was wir also hier erreichen, das erreichen wir dadurch, daß wir hier unversehens ein Stück des natürlichen Wachstumstriebes des menschlichen Geistes aufgefunden haben. Dadurch kam mir zuerst die Erkenntnis, daß man die natürlichen Wachstumstriebe des Geistes im Unterricht aufsuchen muß, und dann die beste Art, wie man sie fördern und alles, was grade dieses Wachstum hemmen könnte, vermeiden oder beseitigen kann." (S.5) ..................................................... "Daraus ergab sich für mich als Grundprinzip der Schulreform: Der Unterricht hat sich ganz und gar dem Erkenntnistrieb der Kinder anzupassen. Je mehr er das tut, desto mehr Begabungen werden zu vollen Entwicklung gebracht, desto weniger Begabungen werden zerstört." (S.6) ..................................................... "Die wichtigste erzieherische Wirkung des bisher fast allein üblichen Zwangsunterrichts ist die Erziehung zur Faulheit, zum Betrug und zur Urkundenfälschung." (S.6) ..................................................... "Ganz besonders müßte die Schule der Ort sein, wo dem Kinde jede Frage so gut wie irgendmöglich beantwortet wird. Denn die Gesamtheit der Kinderfragen stellt den ererbten Bildungstrieb der aufwachsenden Generation dar. Denn Frage ist Problemstellung, und Problemstellung ist überall - also auch im Kinde - die erste Stufe der Erkenntnis. Ich habe bei meinen eigenen Kindern und jetzt über 20 Jahre lang in meiner Schule die Erfahrung gemacht, daß diese Fragelust, dieser Erkenntnistrieb überall so weit führt, da die Summe der gegebenen oder gemeinsam gefundenen Antworten eine zur vollkommenen Bildung ausreichende Erkenntnis ergibt." (S.7) ..................................................... "Und besonders schlimm ist, daß die Reihenfolge, in der die Bücher das Erkenntnismaterial bringen, und nicht das Erkenntnisbedürfnis der Kinder den Gang des Unterrichts bestimmt. Ein Kindergeist, überhaupt ein Menschengeist, ist aber ein ganz anderes Wesen als ein Buch; und was sich für das eine schickt, das schickt sich durchaus nicht immer für das andere." (S.7) ..................................................... "Auf diese Weise bringt es die Schule dazu, daß das von Natur erkenntnishungrige Kind in kurzer Zeit als Feind der Erkenntnis erscheint und schließlich sogar selbst die Aufnahme neuer Erkenntnis als Mühsal, als unangenehme Arbeit betrachtet und ihr allmählich einen mindestens passiven Widerstand leistet. So hat man denn faule Schüler als natürliche Produkte der Schule. Aber weit enfernt sich dessen zu schämen, macht man sich sogar ein moralisches Verdienst daraus. 'Das Leben bringt doch soviel Unangenehmes, der Erwachsene muß auch seine Arbeit leisten, wenn sie ihm unangenehm ist. Das muß das Kind schon in der Schule lernen.' In der Tat, das Kind lernt so etwas. Es lernt nämlich, daß das, was man Arbeit nennt, durchweg etwas Unangenehmes ist, was durch strenge Strafen erzwungen werden muß. Und das hat die Schule so gut gelehrt, daß es jetzt allgemeines Dogma ist. Daß gelingende Arbeit immer Freude ist, ja eine der stärksten Freuden, die das Leben bietet, das ist jetzt eine Paradoxon. Und daran ist die herkömmliche Schule schuld; sie erzieht zur Faulheit." (S.7/8) ..................................................... "Grundlegende Forderung für die Reformation der Schule muß sein, daß die Erziehung zu Faulheit, Betrug und Urkundenfälschung gänzlich verschwindet." (S.8) ..................................................... "Wer sich wirklich im Leben mit offenen Augen umsieht, der weiß, daß Frohsinn seelische Gesundheit bedeutet und daß deshalb ein erschreckend großer Bruchteil unserer Schülerschaft mit seelischen Gebrechen ins Leben tritt, die von der Schule verschuldet sind." (S.9) ..................................................... "Der Lehrer neuen Stiles muß sehr viel höhere Anforderungen an sich selber stellen. Die allerhöchste und schwierigste will ich gleich vorausschicken. Der Lehrer neuern Stiles muß gelegentlich auf die Frage eines Schülers antworten können:'Das weiß ich selber nicht', ohne daß es dadurch in der Achtung des Schülers sinkt." (S.9) ..................................................... "Es ist klar, daß alle diese Anforderungen, die so an Unterricht und Lehrer gestellt werden, auch die äußere Form des Unterrichts stark verändern müssen." (S.9) ..................................................... "Hängt doch in der lebendigen Welt alles so eng zusammen, daß es gänzlich unmöglich ist, irgend eine draußen beobachtete Erscheinung in ein einziges der von der Wissenschaft sorgsam präparierten Fächer einzusperren. In dieser Weise lernen Schüler, Augen und Ohren aufzumachen, das, was sie sehen und hören, so sprachlich wiederzugeben, daß die anderen es verstehen - ... und so sammelt sich durch beständige Beobachtungg der Außenwelt ein Schatz von lebendigen Anschauungen an, den dann ein Unterrichtsgespräch mit Leichtigkeit zu wissenschaftlichen Systemen, soweit sie dem Alter des Schülers gemäß sind ausbauen kann. Wenn es nämlich so weit ist, so verlangen die Schüler selbst Unterricht in dem 'Fach' Botanik, Zoologie, Erdkunde, Mathematik sind oft in dieser Weise angefordert worden, ebenso Physik und Chemie. Zu all diesen Wissenschaften steht der Schüler ganz anders, wenn er sich selbst seines dahin gerichteten Wissenstriebes bewußt geworden ist, als wenn sie ihm von außen her aufgenötigt werden, wo er überhaupt noch nicht weiß, wozu diese Wissenschaften da sind." (S.10) ..................................................... "Wenn es den wirtschaftlichen Einrichtungen gelingt, Not und Elend zu beseitigen, so werden wir ein durch und durch gebildetes Volk haben, das dann auch über den Wert der Arbeit aller Grade und Schichten ganz anders denken wird als jetzt, wo Unbildung, Halbbildung und Verbildung um die Wette an der Verblödung des Volksgeistes arbeiten, wenn auch die literarischen Verkrüppelungen dabei einen für die anderen schwer einzuholenden Vorsprung haben. Aus diesem Zustand des Volksgeistes ist Parteiwesen und Parlamentarismus hervorgegangen, in denen jeder zwar auch die anderen zu belügen beflissen ist, am meisten aber sich selbst." (S.12) ..................................................... "Für den Unterricht, der ganz und gar nur gemeinsames Gespräch ist, hat sich bei und der Name Gesamtunterricht gebildet, der es vor allen Dingen ablehnt, die Absonderung der Welt in 'Fächer' als Anfang der Bildung zu betrachten. Im Gegenteil, diese Absonderung findet erst statt, wenn sich besondere Interessen stärker geltend machen. Dann wird auf Wunsch der Schüler besonderer Fachunterricht gegeben. Auf meiner Schule ist es immer so gewesen, daß mehr Fachstunden verlangt wurden, als die Lehrer bei stärksten Anstrengungen leisten konnten, wir hatten niemals die Schüler zu Fächern zu zwingen, sondern mußten sie öfter zurückhalten." (S.13) ..................................................... "An meiner Schule gibt es sechs Stunden wöchentlich Gesamtunterricht, davon sind vier gemeinsam für die ganze Schule, während in zwei nur die Älteren mitmachen dürfen. Denn die wollen mitunter unter sich sein." (S.14) ..................................................... "Bei Vorschlägen über Neueinrichtung des Schulwesens müßte bei der Volksschule, ja bei der Dorfschule angefangen werden, wie im Hausbau beim Fundament." (S.14) ..................................................... "Leichter, aber auch nur verhältnismäßig und an sich schwer genug, ist die Reform der höheren Schulen, über die ich schon 1912 in der 'Reformation der Schule' meine Vorschläge gemacht habe. Ich halte es für einen Grundfehler, daß man eine bestimmte Anzahl von Fächern aussucht und in diesen Fächern wieder Bildungsstufen unterscheidet und alle Schüler zwingen will, in allen Fächern gleichmäßig von Stufe zu Stufe emporzuklettern, um von der obersten als 'reif' ins Leben hinausgeworfen zu werden. Ich halte es ferner für einen Grundfehler, die jungen Leute in verschiedene Bildungsarten hinein vollständig zu trennen, Gymnasien, Realgymnasien, Oberrealschulen, Deutsche Oberschulen und neuerdings wohl noch ein paar dutzend Typen mehr." (S.14/15) ..................................................... "Fast noch schlimmer erscheint mir, daß wir durch diese Zerspaltung der Bildung auch das Denken und damit schließlich auch das Gemeingefühl unseres Volkes zerklüften." (S.15) ..................................................... "Das Nötige wäre, aus jeder höheren Schule eine Art Universitas, eine Gesamt-Oberschule zu machen, in der alle in Betracht kommenden Fächer gelehrt würden, aber eben mehr universitätsmäßig, so daß sich die Schüler die Fächer aussuchen könnten. Es würde gemeinsam getriebenen Gesamtunterricht als Hauptsache, der zugleich naturgemäß einen Überblick über die Einteilung der Welt in Fächer geibt, daneben Geschichte, Erdkunde und das, was man jetzt mit der Marke 'Deutsch' zu bezeichnen liebt; alle anderen Fächer wären wahlfrei, und die Prüfungsordnungen hätten nur zu bestimmen, wie viel solcher Fächter nötig seien, um den Amtlichen Bildungsstempel zu bekommen. Jedes einzelne solche Fach wäre dann aber Sache für sich, so daß derselbe Schüler gleichzeitig in der Mathematik das Obersekunda- und im Latein das Quartapensum durchmachen könnte, wenn er sich zum Latein erst später entschließt." (S.15) ..................................................... "Meine Vorschläge, denen nach meiner Überzeugung die Zukunft unweigerlich gehört, verwerfen die bisherige Art der schriftlichen Klausur-Arbeit und des inquisitorischen Fachgesprächs, das man mündliches Examen nennt, durchaus und zwar nicht nur wegen der Betrugsmöglichkeiten und der in diesen liegenden Verführung zum Betrug. Vielmehr erscheint mir schon die Art, wie der Mensch für ein ganz ehrliches Examen arbeiten muß, geradezu mustergültig zu sein, wenn man feststellen will, wie in Geisteswissenschaft nicht gearbeitet werden soll." (S.16) ..................................................... "Die Gesamt-Oberschule wird also durch den Gesamtunterricht bei sonst größter Mannigfaltigkeit - die nur durch die Zahl der verfügbaren Lehrer begrenzt wird - die größte seelische volksorganische Einheitlichkeit zeigen." (S.18) ..................................................... [Adolf Matthias] "'Was mich bsonders gefreut hat, ist die große Aufmerksamkeit bei scheinbarer Unaufmerksamkeit und die große Selbstdisziplin bei scheinbarer Disziplinlosigkeit.' Der sah nicht nur das Scheinbare, sondern das Wirkliche." (S.19) ..................................................... [Militärische Ausbildung der Schüler] "Die Kinder müssen das Gesamtgefühl bekommen, das man als Glied eines höheren Organismus hat. Schon früher hatte ich im Zukunftsstaat gesagt, daß eine militärische Ausbildung aus diesen seelischen Gründen selbst dann nicht entbehrt werden könnte, wenn der Weltfrieden dauernd gesichert wäre." (S.20) ..................................................... "Gelingt die Durchführung der Einrichtungen, so haben wir in Zukunft etwas, was die Welt noch nicht gesehen hat, ein durch und durch gebildetes Volk, in dem jeder Einzelne seinen und jedes anderen Wert für das Ganze genau abschätzen gelernt hat, und deswegen jedem andern die gebührende Achtung entgegenbringt. Durch diese Kenntnis des besonderen Wertes jedes Berufs verschwindet der Wahnbegriff der allgemeinen Gleichheit, der uns unter das Tier hinabwürdigt. Jeder erkennt sich und seinen Beruf als Organ des Volkes; und erst dann wird jeder auch durch Erkenntnis wissen, was er bisher nur im Gefühl hatte: Was ein König ist. Erst dann aber sind wir wieder gesund." (S.20) |
Archiv | B.-O.-S./II/B/H/IV/1 |
Signatur | B.-O.-S./II/B/H/IV/19 [65] |
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