Autor/enBeltz, Julius/ (Hrsg.)
TitelKorrekturbogen (2 Formate) zu Berthold Ottos Artikel "Spracherziehung" für Handbuch der Pädagogik
Orto.O.
Datum1927.11.28
Anmerkungen[Spracherziehung] "Spracherziehung kann der Hauptsache nach in dreifacher Weise aufgefaßt werden, als Erziehung zur Sprache, durch Sprache und schließlich als Erziehung der Sprache selber." (S.1) ..................................................... "Man könnte sich versucht sehen zu sagen: die Sprache kann schon deswegen nicht erfunden, d.h. durch bewußtes Denken erschaffen sein, weil denken ohne Sprache unmöglich ist, also auch nicht als vor ihr überlegend vorhanden angenommen werden kann. Auch diese Meinung, daß es Denken ohne Sprache nicht gebe, ist sehr weit verbreitet; aber ebenso entschieden falsch. Weitaus unser meistes Denken wird überhaupt nicht in Sprache gefaßt, sondern durch Ablaufen von Bilderreihen vollzogen. Schwierige zusammengesetzte Bewegungen, etwa in einem Handwerk, werden durch die Sprache überhaupt nicht klar gemacht, sondern durch Vormachen, also auch nicht sprachlich dem Gedächtnis übermittelt, sondern als richtige Erinnerungsbilder; und dieser Bilder bedienen wir uns bei unserem unaufhörlichen Denken unendlich viel öfter als der sprachlichen Ausdrücke." (S.3) ..................................................... "Es ist die, daß jeder rein seelische Beobachtungen nur an sich selbst machen kann." (S.4) ..................................................... "Also jeder Beobachtet alles Seelenleben nur an sich selbst; an anderen kann er nur rein materialistisch Körperbewegungen beobachten bis zu den Schallwellen, die als Sprache erscheinen, aber zunächst nur rein physikalische Erscheinungen sind. Das Seelische deutet er in diese materialistischen Beobachtungen hinein und zwar für die meisten alltäglichen Lebenszwecke in vollkommen ausreichender Weise, darüber hinaus aber, wie denn doch jeder gelegentlich beobachtet hat, mit sehr unangenehmen Fehlgriffen." (S.4) ..................................................... "Zur Bildung, zur vollständigen Denkfähigkeit, ja auch zur Sprachdurchschauung wissenschaftlichster Art ist eine fremde Sprache überhaupt nicht erforderlich; dazu genügt nicht nur, sondern ist immer und allein erforderlich die sorgfältige wissenschaftliche Betrachtung der eigenen Muttersprache." (S.7) ..................................................... "... denn das tiefste Denken - und um das handelt es sich hier doch - leistet nur der Mensch, der am Denken Freude hat." (S.9) ..................................................... "Denn wenn formale Bildung in jeder Volks- und Dorfschule ermöglicht wird, dann verschwindet in absehbarer Zeit der Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten. Und das ist natürlich für die große Mehrzahl von denen, die auf ihre Bildung ganz stolz sind, gänzlich undenkbar." (S.9) ..................................................... "Die Hauptsache ist, daß da wieder nicht wie sonst der Leseunterricht eine Pauksache ist, sondern auf selbständiger Beobachtung des eignen Sprechens beruht, also zum Aufbau des lebendigen Weltbildes dient." (S.12) ..................................................... "Und da ging mir die Erkenntnis auf: Einen großen Bruchteil dessen, was wir aus Büchern glernt haben, was wir fest und sicher zu wissen meinen, haben wir selber nicht verstanden. Sicher, es verstanden zu haben, sind wir erst dann, wenn wir es jedem Kinde auseinandersetzen können. Sind wir uns wirklich klar über die Sache, dann gelingt es erstaunlich leicht, sie den Kindern klar zu machen." (S.12) ..................................................... "Denn mir scheint es als Ziel der Sprachwissenschaft und somit auch der Spracherziehung, jeder lebendigen Sprachgestaltung denselben Grund der Ehrung zu erweisen, die der Wissenschaft für die toten Sprachen selbstverständlich ist. Für mich steht keiner meiner Mitmenschen so niedrig, daß ich mir herausnähme, seine Sprache zu verachten." (S.14) ..................................................... "Sorgfältige Beobachtung unserer Mitmenschen, ganz besonders der heranwachsenden von der ersten Kindheit an, richtig ausgedeutet durch sorgfältige Selbstbeobachtung, zeigt, unzweifelhaft, daß jedes menschliche Wesen - ich selbst gehe noch weiter und sage: auch jedes tierische; aber das will ich hier beiseite lassen - von Urbeginn triebhaft an der Ausgestaltung eines möglichst vollständigen Weltbildes arbeitet und daß die meisten Tätigkeiten, die es vollführt, sei es um sein Weiterleben zu sichern, sei es um sich über das dazu Nötige hinaus allerlei Genüsse zu verschaffen, zum mindesten als Nebenzweck, wahrscheinlich aber als Hauptzweck das Bestreben hat, sein Weltbild sowohl ins Große wie in Kleine hinein unermüdlich weiter auszubauen. Man muß sich dabei gegenwärtig halten, daß das Weltbild des einzelnen für ihn identisch ist mit der Welt selbst, die ja für ihn durchaus nur daurch existiert, daß er sie in sein Weltbild aufgenommen hat, und in so weit existiert, wie ihm das gelungen ist." (S.15) ..................................................... "Sich mit dem Gesamtgeist des Volkes zu beschäftigen ist für den Erzieher schon gebieterische Notwendigkeit, zu der schon die Sprache zwingt; aber den Einzelgeist zu ehren, ist ebenso unbedingt erforderlich, und gerade die Sprache gibt dazu nicht nur Gelegenheit und Anreiz, sondern geradezu die Notwendigkeit." (S.16) ..................................................... "Die gemeinsame Untersuchung der wirklich von den Kindern gesprochenen Sprache hat ganz andere Ergebnisse; die Kinder merken durchaus und machen sich schnell bewußt, daß sie selber wollen, es soll so und nicht anders gesprochen werden; daß sie selber die Gesetzgeber der Sprache sind." (S.17) ..................................................... "Danach wäre das erste Erfordernis eines stilbildenden Aufsatzunterrichts, daß der Schüler nur über Dinge schriebe, über die er nicht nur etwas zu sagen weiß, sondern über die es ihn geradezu drängt, etwas zu sagen." (S.18) ..................................................... "Daß es sich aber um freien Weltenaufbau aller einzelnen handelt, zeigt sich dadurch, daß der leitende Lehrer nie darauf ausgeht, irgendeine bestimmte Erkenntnis in irgendeinem Schüler - oder gar in allen - zu befestigen (wofür die Schülersprache kurz und treffend 'pauken' sagt), sondern nur dafür sorgt, daß von den Schülern Material zum Weltenbau beigebracht wird, und nur im Notfall selbst etwas dazu beisteuert." (S.20) ..................................................... "Jeder Mensch, auch jedes Kind, liebt seine Sprache; man tut ihm wehe, wenn man daran herumschneidet und flickt. Aber es modelt unbewußt seine Sprache und bildet sie weiter, wenn es die nächsten Stufen der Entwicklung zwanglos an den Mitschülern beobachten kann. Die Beobachtung ist meistens unbewußt; gewiß, aber gerade deswegen um so wirksamer. Der Lehrer aber hat die sprachliche Entwicklung etlicher Altersklassen gleichzeitig vor Augen und kann beobachten, wie sich die Sprachform in festem Verhältnis zum Denkinhalt entwickelt." (S.20) ..................................................... "Selbständige Gedanken dürfe der Mensch erst mit 50 Jahren haben, wurde gelegentlich ausgesprochen. Scharfe seelische Beobachtungen lehrt auch in dieser Hinsicht das Gegenteil; wenn wir nach 50 Lebensjahren noch gelegentlich einen neuen Gedanken hervorzubringen meinen, dann kann sorgfältige Forschung den Ursprung dieses Gedankens immer in ferne Jugendzeit zurückführen. Wir müssen uns von dem materialistischen Denken befreien; Buchstaben sind kein Geist und enthalten keinen Geist; den Geist bringt immer nur der Lesende heran und hinein." (S.20) ..................................................... "Geist und Kultur läßt sich nicht zauberhaft in Tinte und Druckerschwärze festlegen und dann beliebig wieder flüssig machen. Kultur ist in derselben Weise vererblich wie körperliche Eigenschaften; wie der Körper so braucht auch der Geist Betätigung, um die ererbten Triebe zur Entwicklung zu bringen; und eine der wichtigsten Betätigungen ist die Sprache, deren eigentliches Wesen noch keineswegs vollkommen durchforscht ist, wenn auch seit etwas mehr als einem Jahrhundert hoffnungsvolle Forschungen im Gange sind." (S.21) ..................................................... "Gewiß ist die Meinung paradox, die meisten halten den neugeborenen Geist für ein 'unbeschriebenes Blatt', auf dem dann die ganze Kultur einzutragen ist. Dem stellen wir die Überzeugung gegenüber, daß in der neugeborenen Generation die nächste Kulturstufe mitgeboren ist und daß alles, was von Zeugnissen früherer Kultur vorhanden ist, nur als Hilfsmittel dient, dessen sich die neugeborene Generation zur Erfüllung ihrer Aufgabe bedient." (S.21) ..................................................... "Die Erziehung zur Sprache ist erreicht, wenn der Sprechende gewöhnt ist, nur wirklich Durchdachtes und dies durchaus verständlich zu sagen. Damit ist aber zugleich die Erziehung durch die Sprache vollendet, die ihm dieses Durchdenken bis zur Verständlichkeit ermöglicht. Und weil dabei für neue Gedanken auch notwendig neue Sprachformen geschaffen und entwickelt werden, so liegt darin ebenfalls die Erziehung oder Fortentwicklung der Sprache selbst. Sicherlich handelt es sich dabei um ein sehr wichtiges, vielleicht das wichtigste Stück der Schulreform." (S.21)
ArchivB.-O.-S./II/B/H/IV/1
SignaturB.-O.-S./II/B/H/IV/19 [68]
SchlagworteAlter
Altersmundart
Aufsatz
Bildung
Sprache
Unterricht
Abteilungen2