Autor/enGeheeb, Paul
TitelBrief an Herman Kobbé. 6 Seiten
OrtVaud, Schweiz
Datum1933.08.20
ZusatzDK
Anmerkungen"Die Situation meiner Schule hat sich in übeler Weise weiterentwickelt, und ich bin zu der klaren Einsicht gekommen, dass wir alles tun müssen, um ihre baldigste Auflösung herbeizuführen. Würde ich der Regierung erklären, dass ich, weil mein Gewissen es verlangt, einfach meine Schule schliesse, so würde sie mich kurzerhand ins Gefängnis stecken, das ganze Anwesen konfiszieren und versuchen, die Schule unter irgend einem jungen hessischen Lehrer weiter existieren zu lassen. Also bleibt nur die einzige Möglichkeit, dass wir baldigst den Zeitpunkt herbeiführen, wo sie Zahl der Kinder dermassen gesunken ist, dass wir es der Regierung evident machen können, dass wir wirtschaftlich gezwungen sind, den Betrieb einzustellen, ohne dass die Regierung uns daraus einen Vorwurf machen kann. Unter allen Umständen müssen wir einen Konflikt und völligen Bruch mit der Regierung vermeiden, weil sie sonst in furchtbar brutaler Weise gegen Edith und mich, vielleicht auch gegen meinen Schwiegervater und meine Freunde vorgehen würde, und sicher alle Häuser mit Bibliotheken und sonstigem Inventar konfiszierte. Also ist grösste Vorsicht geboten. Nun bin ich mir klar darüber, dass ich den Eltern, die im Vertrauen auf meine Persönlichkeit ihre Kinder in meine Schule gebracht haben, schuldig bin, sie wissen zu lassen, dass die Regierung mich zum Strohmann gemacht hat, und ich nicht mehr imstande bin, die Verantwortung, die mir als dem Leiter der Schule selbstvertsändlich zukäme, tatsächlich zu tragen. Da es nun für mich persönlich zu gefährlich ist, derartige Briefe an die deutschen Eltern zu schreiben (ausländische Eltern benachrichtige ich direkt), bitte ich Dich um den Freundschaftsdienst, die Eltern zu benachrichtigen. Ich sende Dir beifolgend eine Liste der Adressen. "Du sagst Dir ja schlauerweise, dass mit Oeffnung der Briefe in Deutschland durch die Polizei zu rechnen ist, Du also alles vermeiden musst, was mich oder Mitglieder der Schule belasten könnte, ja auch nur den Verdacht erregen könnte, dass ich um Deine Briefe wüsste. Ich dachte mir, dass ein solcher Brief etwa Folgendes zu enthalten hat: Was die Freunde der Odenwaldschule schon seit langem befürchten, ist zur schmerzlichen Tatsache geworden: inferiore Individuen haben die politischen Kämpfe und Machtmittel dazu missbraucht, ihre persönliche Gehässigkeit zu befriedigen und die Odenwaldschule bei der Reichsregierung zu verleumden, so dass diese dem hessischen Kultusministerium befahl, aufs schärfste gegen die Schule vorzugehen. Die pädagogische Eigenart der Schule ist zerstört worden, Herr Geheeb ist kaltgestellt und hat auf die Leitung der Schule so gut wie keinen Einfluss mehr; sogar das Recht, notorisch angeeignete Mitarbeiter abzuschieben, ist ihm genommen worden. Die Schule wird durch einen verständnislosen Ministerialrat vermittelst seiner ihm blind ergebenen jungen Lehrer regiert. Meine Frau und ich haben soeben ein Jahr in der Odenwaldschule, der wir unsere Kinder anvertraut hatten, mitgelebt, an allem teilgenommen, auch an der Unterrichtsarbeit. Mit Erschütterung mussten wir beobachten, wie der angedeutete Zerstörungsprozess des Werkes, das Paul Geheeb in 23 Jahren aufgebaut hatte, vor sich ging. Herr Geheeb ist jede Freiheit des Entschliessens und Handelns genommen, sogar die Möglichkeit, von seinem pädagogischen Gewissen getrieben, die Schule zu schliessen. Wir als Eltern und warme Freunde der früheren Odenwaldschule halten es für unsere Pflicht, Sie hiermit von dem Tatbestaand in Kenntnis zu setzen. Wenn ich Ihnen einen Rat erteilen darf, so wäre es der, möglichst bald persönlich Herrn Geheeb in der Odenwaldschule aufzusuchen, wenn sie es nicht vorziehen, ohne weiteres Ihre Kinder zurückzuhalten. Dies etwa sollte meiner Meinung nach in dem Brief an die Eltern stehen. Jedoch würde ich sehr dagegen sein, ihnen schon etwas von meinem Schweizer Projekt zu verraten, da man auf absolute Diskretion doch nicht rechnen kann. Ich denke, diejenigen Eltern, denen daran liegt, ihr Kind in meiner Hand zu lassen, werden persönlich zu mir reisen, so dass ich ihnen dann evtl in strengstem Vertrauen von meinem Schweizer Projekt sprechen kann." "Mit letzterem ist es übrigens gut vorangegangen; ich habe im Laufe dieser Wochen in Genf und anderswo wichtige Menschen gesprochen und neue Freunde gewonnen. Ich hoffe, es wird Dich nicht enttäuschen, wenn ich Dir mitteile, dass ich von einer selbständigen Gründung einer neuen Anstalt abgesehen habe. Hierzu die Erlaubnis von der Regierung zu bekommen, ist sehr unwahrscheinlich, und auch würden dazu erhebliche Mittel nötig sein, über die ich nicht verfüge. Ich habe einen anderen Weg gefunden. Dr.W. Günnig, der, wie auch seine Frau aus Holland stammt, aber seit vielen Jahren Schweizer Staatsangehöriger ist, hat in Pont-Ceard, Versoix, près Genève, seit vielen Jahren ein Landerziehungsheim für Knaben und Mädchen, in dem er immer vergeblich versucht hat, die Ideen der Odenwaldschule zu verwirklichen. Die Wirtschaftskrise hat dazu beigetragen, dass die Zahl seiner Kinder auf 12 gesunken ist. Er hat mich immer für seinen pädagogischen Führer gehalten und würde es , wie er mir versichert, für das beglückendste Ereignis seines Lebens empfinden, wenn ich mit Mitarbeitern und Kindern zu ihm käme. Das Heim liegt wenige Minuten vom Strand des Genfer Sees, 10 km von Genf, 50 km von Lausanne; der Bahnhof ist wenige hundert Meter entfernt, in einer Viertelstunde fährt man nach Genf. Zu diesem Heim gehört noch eine wunderbare Dependance hoch oben in den Bergen in Les Plans sur Bex, wo die Schule die Sommermonate, sowie auch zum Skilaufen die Winterferien zu verleben pflegt. Die gute Erreichbarkeit von Genf scheint mir von ausserordentlich grossem Werte; seit Jahren habe ich eine grosse Sympatie für diese Stadt. In Pont-Ceard ist also alles bereit, wir könnten dort jeden Tag einziehen, und ich möchte nun dringend wünschen, dass der Auflösungsprozess meiner Schule sich nicht noch gar zu qualvolle lange Monate hinauszieht, sondern wir bald zu einem sauberen Schluss kommen, so dass wir unsere Arbeit am Genfer See wieder aufnehmen können. Mein Schwiegervater will in nächster Zeit versuchen, mit der hessischen Regierung in Verhandlung einzutreten, um das Grundstück mit den Häusern an den Staat zu verkaufen, der dann damit anfangen mag, was er will." "Mir fällt eben noch ein, dass Du in Deinem Brief an die Eltern ausdrücklich betonen solltest, Du schriebest hinter meinem Rücken, ohne mein Wissen; denn wenn die Regierung auch nur den Schein eines begründeten Verdachtes haben sollte, dass ich Dich zu dem Briefe veranlasst hätte, so würde ich ja sofort ins Gefängnis gesteckt. Ausserdem solltest Du vielleicht in Deinem Brief zum Schluß noch bemerken: wenn Eltern infolge Deiner Mitteilungen sich entschliessen, ihr Kind sofort bei mir abzumelden, sie ihren Abmeldebrief so formulieren müssen, vielleicht unter Vorschützung wirtschaftlicher Gründe, dass ich ihn dem Ministerium vorlegen kann; denn das Ministerium wird diese wahrscheinlich verlangen. Ich bitte Dich auch, einen höflichen, formellen Brief an die Leitung der Odenwaldschule nach Oberhambach zu richten, in dem Du Deine Kinder Louis, Olga und John abmeldest, so dass ich auch diesen Brief dem Ministerium schicken kann. "
ArchivEcole d'Humanité Goldern/II/M/E/1
SignaturE/R2/22
SchlagworteBrief
Kobbé, Herman
Nationalsozialismus
Abteilungen2