Das Kurznachrichtennetzwerk Twitter ist derzeit eine außerordentlich präsente und einflussreiche Quelle für Echtzeitinformationen. Da diese in einer aus datenanalytischer Sicht sehr handlichen Form bestehend aus kleinen Inhaltsobjekten (Tweets) mit standardisierten und standardisiert auswertbaren Metadaten (AutorIn, Zeitstempel, oft auch Geoinformationen, oft auch Hashtags als inhaltsbeschreibendes Vokabular) vorliegen, bieten sie sich außerordentlich für Big-Data-Analysen und Informationsvisualisierungen an.
Massenmedial erlangte das Twitter-Echo längst eine Ergänzungsfunktion zu allen Arten von Großereignissen und wird entsprechend in den Online-Redaktionen diverser großer Massenmedien zur Informationsgewinnung und zum Erheben von Stimmungsbildern ausgewertet. Zugleich werden das Medium selbst und die unmittelbaren Folgen seines Gebrauchs teilweise außerordentlich elaboriert betrachtet. (vgl. beispielsweise die Analyse des Guardian zur Entwicklung von Gerüchten während der London Riots)
Mittels bestimmter Hashtags kann Twitter selbst zum Schauplatz von Diskursen und Auslöser von Ereignissen werden. (vgl. die Aufschrei-Debatte)
Inwieweit bzw. mit welcher Reichweite die aus diesen Daten gewinnbaren Einsichten repräsentativ für Stimmungsbilder sind, ist freilich offen. Andererseits ist die Wirkung von Twitter und Twitter-Diskursen als gesellschaftliches Phänomen unbestritten, was vorbehaltlich möglicher Inklusions- und Exklusionseffekte eine eingehendere auch wissenschaftliche Auseinandersetzung aus einer Vielzahl von Perspektiven rechtfertig.
Auch wenn die Bedeutung von Twitter-Daten naturgemäß stärker für Disziplinen wie die Sozialwissenschaften oder die Kommunikations- bzw. Informationswissenschaft auf der Hand liegt, kann sie durchaus auch für Geisteswissenschaften auf der Ebene der Forschungsdaten ebenfalls angenommen werden.
Für künftige Kulturanalysen und vor allem die Zeitgeschichtsschreibung enthalten sie in einer von vornherein für die Verarbeitung durch Maschinen optimierten Erscheinungsweise explizite Aussagen, Informationen zu Akteursnetzwerken und dem Verhältnis bestimmter Themen zu anderen in der Kohorte der Twitternutzer, die unschwer für eine Vielzahl geisteswissenschaftlicher Fragestellungen eine Rolle spielen können. Wo heute Gelehrtenbriefwechsel beforscht werden, spielen möglicherweise in Zukunft Twitter-Interaktionen eine ähnliche Rolle.
Die große Herausforderung liegt aktuell noch in der Entwicklung funktionaler und wissenschaftlichen Standards genügenden Verfahren der Twitter-Analytics, die, ähnlich den Digital Humanities, derzeit möglicherweise hauptsächlich als methodisches Querschnittsprogramm mit Anschlusspunkten an diverse Disziplinen gedacht und entwickelt werden sollten.
Weiterführend empfohlen: Katrin Weller, Axel Bruns, Jean Burgess, Merja Mahrt, Cornelius Puschmann (Hg.) (2014): Twitter and society. New York: Peter Lang (Digital Formations, Vol. 89).
Anmerkungen, Ideen, Korrekturen gern über @fupush.
(Ben Kaden, 11. August 2015)