Schwarze Hüllen und Kokons aus Glas
Alexandra Bircken, Fair Game im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst
Cheyenne Enneper
Die Haut als Hülle und Schnittstelle zwischen Innen und Außen ist eines der zentralen Themen, welche die Künstlerin Alexandra Bircken (*1967) in ihrer aktuellen Einzelausstellung Fair Game im „KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst“ behandelt. Im Rahmen der Berliner Art Week 2021 konstruiert sie eine raumfüllende Installation für das Kesselhaus des KINDL. Hierfür schafft die Künstlerin aus verschiedenartigen Materialien Skulpturen und Assemblagen, in denen die Beziehung von Raum und Körper sowie die Frage nach den Grenzen des Menschseins erforscht werden.
Alexandra Bircken ist eine deutsche Installations- und Objektkünstlerin und gehört zu den wichtigsten Vertreter*innen der Gegenwartskunst. Die Mode bildet den Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Tätigkeit und ist stets Teil ihrer Werke und Installationen durch die Verwendung von Modepuppen, die in unterschiedlichen Textilien gekleidet sind. Das KINDL-Zentrum befindet sich auf dem historischen Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei, es ist ein hybrider Kulturort für das Zusammenspiel von Baugeschichte und Gegenwartskunst. Das Kesselhaus ist Teil des Raumensembles des KINDL und bietet mit einer Deckenhöhe von 20 Metern einen einzigartigen Ort für die Auseinandersetzung mit dem Raum in künstlerischen Arbeiten. In der Ausstellung Fair Game, kuratiert von Kathrin Becker, bedient sich die Künstlerin dieser besonderen räumlichen Gegebenheit und bespielt gekonnt die Größe und Höhe des Bauwerkes mit ihrer Installation.
Von außen kann der/die Besucher*in einen Blick in das Innere des Kesselhauses und auf die am Boden liegenden Objekte werfen. Bereits hier lässt sich erahnen, welche Ausdruckstärke von der Installation aus geht, die beim Betreten des Gebäudes mit Wucht zuschlägt. Über den ganzen Raum verteilt liegen menschliche Figuren, reduziert auf leere Hüllen aus schwarzem Latex. Sie ähneln Fetisch-Körperanzügen, die wie Kriegsgefallene leblos auf dem Boden liegen. Ansammlungen und Türme von schwarzen Bierfässern aus der ortsansässigen Rollberg-Brauerei in der Mitte des Raumes wirken wie potenzielle Fassbomben, die farblich passend zum Latex die Zerstörung des lebendigen Inneren unterstreichen. Die geschlechtliche Zuordnung der Figuren ist teilweise aufgehoben und nur vereinzelte Stickereien von Körperteilen wie Augen, Organe oder Muskeln deuten eine Individualisierung an. Erst durch das Schweifen des Blickes, die Wände entlang zur Decke des Raumes, fallen weitere Hüllen ins Auge. Einzelne Latexfiguren sind mit Haken an der Wand aufgehangen oder sitzen leblos mit herunterbaumelndem Bein auf einem Vorsprung. Versteckt, nur beim genauen Hinschauen zu erkennen, liegen weitere schwarze Hüllen auf der Lichtbrücke, die dicht unter der Decke verläuft. Wie Anzüge im Kleiderschrank hängen fünf Hüllen an einer Stahlkonstruktion von der Decke und erinnern an Erhängte. Diese einschüchternde Assoziation tritt noch deutlicher hervor bei den beiden Latexgestalten, die am Nacken an einem Stahlsein in der Mitte des Raumes hängen und sich im Windstoß drehen.
Alexandra Bircken besetzt den gesamten Raum mit leeren Hüllen und sorgt so für unterschiedliche Assoziationen von leblosen Körpern beim Publikum. Deutlich wird die Haut als Organ oder Bekleidung dargestellt, die auch ohne das Innere existieren.
Einen Fluchtweg aus der Szenerie bildet die parallel daneben verlaufende zwanzig Meter lange Leiter aus echten Rinderrippen, welche die Höhe des Raumes den Betrachter*innen vor Augen führt. Die Leiter besteht aus dem fehlenden Inneren der leeren Hüllen: den Knochen als Grundgerüst des Körpers, die als Überreste gefunden werden können. Auch ein Strang aus verwobenen menschlichen und künstlichen Haaren an der Wand verweist auf die Überbleibsel des menschlichen Körpers nach dem Tod.
Große Fenster am Boden und an der Decke des Kesselturmes erhellen den Raum, sodass die Lampen an den Wänden tagsüber wenig Nutzen haben. Nach Sonnenuntergang verändert sich bestimmt die Atmosphäre im Turm: die ausgerichteten Scheinwerfer beleuchten die einzelnen Objekte und sorgen so für eine unheimliche und geisterhafte Stimmung.
Farbliche Akzente in der Installation setzen bunte mundgeblasene Glaskörper, die an verschiedenen Stellen am Boden liegen. Nichtmenschliche Objekte wie Stofftiere sowie blaue und rosafarbene Figuren befinden sich im Inneren der ovalen Körper und schlüpfen wie aus einem Kokon. Der Prozess der Transformation und die Haut als Grenze von Innen und Außen werden hierbei in einer weiteren Darstellung den Besuchenden präsentiert.
Auffallend in der Installation ist eine stehende Kleiderpuppe. Bekleidet mit bunten Textilien, Motorrad- und Footballkleidung sticht sie aus den schwarzen, leeren Hüllen am Boden heraus. Ein Geweih aus Auspuffteilen an der Stelle des Kopfes verdeutlicht Birckens künstlerische Beschäftigung mit Readymades und der Mode. Bewaffnet mit einem Säbel in der einen, trägt die Puppe einen üblichen Jutebeutel in der anderen Hand. Aus dem zweisprachigen Ausstellungstext zu erfahren, ist es ein historischer Verweis auf die menschliche Vorzeit, in denen die Sammlerinnen, nicht die Jäger, für den größten Teil der Nahrung sorgten und für das Sammeln Beutel aus Heuten und Hüllen verwendeten.
Die Besuchenden werden begleitet von einer Soundcollage mit einem Pulsschlag als durchgängigem Element, auf dessen Beat Melodien und andere Geräusche abgestimmt sind. Bedrohlich werden die Töne lauter und können nicht ignoriert werden. Die Aufzählung über die Materialien der einzelnen Objekte neben dem Eingang gibt auch hier Auskunft über die zu hörenden Klänge. Wie bereits andere Künstler*innen, verwendet Bircken den Pulsschlag, um auch auf der akustischen Ebene Verbindung zum menschlichen Körper zu schaffen.
Das Kesselhaus des KINDL wird mit Alexandra Birckens Installation Fair Game gekonnt bespielt, ohne dass es ein großes, raumfüllendes Objekt benötigt. Mit hängenden Elementen, wie die Knochenleiter oder das Stahlseil, nutzt die Künstlerin die gesamte Höhe des Gebäudes für ihre Arbeit. Große Fenster leuchten den Raum aus und machen das Finden der einzelnen Latexfiguren auch an der Decke möglich. Diese leblosen schwarzen Hüllen sind dominant und präsent im Raum und zeigen das Fehlen des menschlichen Leibes. Die gläsernen Objekte am Boden präsentieren eine weitere Form der Umhüllung und lenken die Aufmerksamkeit auf den befüllten oder leeren Innenraum. Die Besuchenden werden mit den Fragen, wo endet das Innere und inwieweit ist die Haut Schutz oder Abschirmung vom Äußeren, konfrontiert und verlassen die Ausstellung nachdenklich mit keinen eindeutigen Antworten.
Alexandra Bircken, Fair Game
19.09.2021-15.05.2022
KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst
Am Sudhaus 3
12053 Berlin
Mi 12-20 Uhr, Do-So 12-18 Uhr
Eintritt: 5€, Ermäßigt: 3€
https://www.kindl-berlin.de/bircken